Open Science als Ansatz in den Geisteswissenschaften: Über Peter Handke, meine Eltern und alle anderen
Christopher Schwarzkopf
4. Mai 2018
Das Fellow-Programm Freies Wissen geht in die dritte Runde! Noch bis zum 15. Mai können sich interessierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus allen Fachrichtungen bewerben. Zur aktuellen Ausschreibung geht es hier entlang.
Das Fellow-Programm Freies Wissen ist eine Initiative von Wikimedia Deutschland, dem Stifterverband und der VolkswagenStiftung, um junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei zu unterstützen, ihre eigene Forschung und Lehre im Sinne Offener Wissenschaft zu öffnen und damit für alle zugänglich und nachnutzbar zu machen. Denn: Wir glauben an das Potential offener und kollaborativer Forschung. In unserem Blog stellen die Fellows einige ihrer Projekte vor und berichten über ihre Erfahrungen im Umgang mit offener Wissenschaft in der Praxis. Hier berichtet Stipendiatin Vanessa Hanneschläger über ihr Projekt “Dramatische Sprachen: Fremdsprachen in den Bühnentexten von Peter Handke.”
Ich bin digitale Geisteswissenschaftlerin und arbeite am Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Was ich da mache, das ist (den Gesprächen mit meinen Eltern nach zu urteilen) fast noch schwieriger zu erklären, als zu beschreiben, was man in meinem eigentlichen Fach tut: Denn der Ausbildung nach bin ich Germanistin, und als solche beschäftige ich mich mit dem Bücher-Lesen und dem schlaue-Dinge-über-Bücher-Denken (und dann -Sagen, und dann -Aufschreiben). Die digitale Geisteswissenschaft vom Bücherlesen, so versuche ich es dann zu erklären, heißt, in den schönen Büchern und Texten Strukturen und Muster zu erkennen, also irgendwelche Arten von Einheiten, die in Beziehung miteinander stehen. Die kennzeichne ich dann so, dass sie auch ein Computerprogramm so erkennen kann, wie ich das tue. Und dann lasse ich mir vom Computerprogramm erzählen, was es daraus schließt. Und dann denke ich darüber schlaue Dinge (und sage sie, und schreibe sie auf). So weit, so einfach (?). “Aber hat das jetzt unbedingt schon was mit offener Wissenschaft zu tun?”, fragt man sich jetzt vielleicht, und was heißt für so eine Art von Arbeit “offene Wissenschaft” überhaupt? Um das zu erklären, muss ich noch einmal woanders zu erzählen beginnen.
Wer ist eigentlich Peter Handke?
Peter Handke ist ein österreichischer Autor, 1942 geboren, der seit mittlerweile gut 50 Jahren schreibt, und der für seine Texte immer wieder enorme öffentliche Aufmerksamkeit bekommen hat. Das hat angefangen mit seinem ersten Bühnenstück Publikumsbeschimpfung, 1966 erschienen, und hat sich in den 1990er Jahren fortgesetzt, als er während der jugoslawischen Zerfallskriege sehr deutlich für Serbien Position bezogen hat. Serbien, dieses Land liebt Handke, und ebenso liebt er Serbisch (oder Serbokroatisch, oder “B/K/S” – Bosnisch/Kroatisch/Serbisch; nur die Benennung dieser Sprache ist schon ein Politikum). Viel besser als Serbisch kann er aber eine andere ex-jugoslawische Sprache, Slowenisch nämlich, und noch viel besser kann er Französisch, Latein und Altgriechisch. Englisch beherrscht er ebenfalls, wenn auch nicht ganz so gut wie die letztgenannten, und außerdem beschäftigt er sich mit Spanisch und Arabisch. Aus vier dieser Sprachen hat er sogar übersetzt, und obwohl er eigentlich ein deutschsprachiger Schriftsteller ist, hat er drei Texte auf Französisch geschrieben. Handke kann sich also fast durch ganz Europa schreiben und lesen – und darüber hinaus. Diese Vielsprachigkeit ist nicht nur menschlich bewundernswert, sondern bei Handke deshalb so interessant, weil er all die Sprachen, die ich hier erwähnt habe (und noch ein paar mehr) auch in seine Literatur einfließen lässt. Wie genau er das tut, und was er damit bezweckt, interessiert mich so sehr, dass ich beschlossen habe, meine Doktorarbeit über Polyglossie in Peter Handkes Bühnentexten zu schreiben. Warum in den Bühnentexten? Weil die Sprachen dort besonders stark und häufig eingesetzt werden – und weil die einzigen drei Texte, die er auf Französisch geschrieben hat, Bühnentexte sind. Und schließlich deshalb, weil alle Texte – bis heute hat Handke über 120 Bücher veröffentlicht – einfach zu viel gewesen wären (immerhin erwarten meine Eltern, die ich eingangs schon vorgestellt habe, dass meine Doktorarbeit irgendwann auch endlich einmal fertig wird).
Also die Sprachen als Phänomen in der Literatur von Peter Handke als Untersuchungsgegenstand. Wie untersucht man sowas? Erraten: Man beginnt mit Bücher-Lesen. 29 Stück sind es, also 18 “normale” deutschsprachige Stücke, drei französische, dann die deutschen Selbst-Übersetzungen (fast könnte man sagen: Neudichtungen) dieser französischen Texte, und fünf Dramen anderer Autoren, die Handke übersetzt hat. Letztere habe ich deswegen aufgenommen, weil Handke findet, dass das Übersetzen sich als poetische Tätigkeit gar nicht wesentlich vom Selber-Schreiben unterscheidet; also sind seine Übersetzungen irgendwie auch “seine” “eigenen” Texte, und auch in seinen Übersetzungen ins Deutsche kommen andere Sprachen vor, vor allem natürlich oft die jeweilige Ausgangssprache. Alle diese Texte habe ich also gelesen und nach anderssprachigen Elementen durchsucht; und weil mein Computer mir dabei nur zugesehen hat, anstatt mitzulesen, habe ich dann alle Textstellen mit Sprachen drin abgeschrieben und meinem Computer gefüttert. Und der muss mir nun Antworten geben: Welche Sprachen sind es jetzt genau, die Handke verwendet? Und in welchen Stücken kommen welche Sprachen vor? Welche Sprachen sprechen die einzelnen Figuren in den Stücken, und sprechen sie so richtig in einer anderen Sprache, oder verwenden sie nur einzelne Wörter? Welche Sprachen kommen ganz oft vor, und welche nur selten? Welche Sprachen kommen gemeinsam vor, und welche nicht? Kommen in den Übersetzungen aus anderen Sprachen nur die Sprachen vor, aus denen die Texte kommen, oder auch andere? Kommen in den Texten, die der junge Handke geschrieben hat, andere Sprachen vor als im “Alterswerk”? Übersetzt Handke die anderen Sprachen auch für seine deutschsprachigen Leser und Leserinnen? Oder nur manche davon? Oder nur manchmal?
Damit mir aber mein Computer nun was verraten kann über die Dinge, die ich über die Sprachen bei Handke wissen will, reichen ihm die Textstellen alleine nicht aus. Deshalb haben mir zwei Kollegen eine Datenbank gebaut, die alle diese Dinge erfassen kann und in die ich nun meine schönen Textstellen alle eingegeben habe. Nun habe ich also schon einige Beteiligte in die ganze Angelegenheit hineingezogen: den Computer, meine Kollegen, die Datenbank und natürlich meine Eltern. Aber das macht immer noch keine offene Wissenschaft, obwohl meine stolzen Eltern, denen ich ja mittlerweile erklärt habe, was ich so mache, ihren Freunden und Freundinnen fleißig von mir und meiner Arbeit erzählen. Daher habe ich meine Datenbank einfach ins Internet gestellt: Sie heißt Handke: in Zungen (in Anspielung an das Pfingstwunder in der Apostelgeschichte, als der heilige Geist über die Apostel kam und sie plötzlich alle Sprachen verstehen und sprechen konnten), und dort kann man nun all die schönen Zitate mit den anderssprachigen Elementen in insgesamt 16 (!) Sprachen nachlesen.
Damit auch irgendjemand außer den Freunden und Freundinnen meiner Eltern mitbekommt, dass es diese wunderbare Textstellensammlung gibt und was man damit anstellen kann, hat die Datenbank einen Twitter-Account bekommen. Dort werden meine liebsten Zitate aus der Datenbank gepostet, außerdem Neuigkeiten, was sich sonst so tut (Vorträge, Veröffentlichungen, Geistesblitze). Toll daran ist nicht nur, dass Menschen mitbekommen können, was ich mit meiner Wissenschaft so anstelle, sondern auch, dass andere Forschende dort ihre Meinung und Vorschläge direkt hin richten können. Lustig war eine Diskussion mit einem meiner liebsten Literaturprofessoren, ob das von mir höchstpersönlich entworfene Logo des Projekts, Handkes Kopf mit Flammen-Mütze (wieder die Pfingstwunder-Anspielung, denn den Aposteln schossen auch Flammen aus den Köpfen) einem seriösen Forschungsprojekt wirklich angemessen sei (ich sage: ja, denn wieso sollte Forschung keinen Humor und Spaß an sich selbst haben).
In letzter Zeit ist es etwas ruhiger geworden auf diesem Twitter-Account, denn so schön und inspirierend das offene Arbeiten ist, einen Nachteil hat es doch: Alles, was man nicht für sich behält, sondern mit anderen teilen möchte, kostet Zeit, denn es muss erstmal in eine lesbare, nachvollziehbare Form gebracht und dann kommuniziert werden. Wenn ich allein mit meinem Computer in meinem stillen Kämmerlein sitze, kann der Forschungsprozess so chaotisch bleiben, wie er in meinem Kopf meistens bis ziemlich zum Schluss ist – wenn ich meine Gedanken anderen öffnen möchte, muss ich sie erst einmal sortieren. Und im Moment herrscht im Kopf das wildeste Chaos, denn endlich habe ich begonnen, über meine schöne, mittlerweile vollständige Datenbank zu schreiben und all die Fragen zu beantworten, die ich oben gestellt habe.
Bevor ich aufhöre, das hier zu schreiben, und mit dem Beschreiben und Sortieren des Chaos weitermache, noch ein kleiner Ausblick. Es mag sein, dass ich nach Abschluss der Doktorarbeit so sehr genug von Handke und seinen Sprachen und seinen Texten habe, dass ich nie wieder ein Buch von ihm lesen möchte. Wenn das passiert, dann kann die nächste Forscherin weitermachen: Die Datenbank, alle Daten sind online und verfügbar, mit einer freien Lizenz versehen und jederzeit für alle zu verwenden. Es könnte passieren, dass ich so unglaubliche Erkenntnisse aus meinem Chaos herausordne, dass ich nach Abschluss der Doktorarbeit sofort weitermachen möchte und alle, alle Textstellen aus allen, allen Texten Handkes sammeln möchte – kein Problem, denn die Datenbank kann das locker erfassen. Alleine werde ich das aber wegen der großen Textmenge vermutlich nicht schaffen, daher werden andere mithelfen müssen – kein Problem, denn auf der Webseite der Datenbank können alle, die möchten, einen Account anlegen und Zitate sammeln. Vielleicht wird mir Peter Handke irgendwann zu langweilig, und ich will mir lieber die Sprachen von anderen Dichtern und Dichterinnen ansehen, Thomas Mann (eher nicht) oder Ernst Jandl (der schon eher) oder Friederike Mayröcker (oooh, das wird’s wohl werden) zum Beispiel. Kein Problem, aller Code, der zum Aufsetzen der Datenbank nötig ist, ist frei auf GitHub verfügbar und alle, die möchten, können jederzeit noch so eine bauen und beginnen, die nächste Sprachenzitatsammlung anzulegen. Vielleicht habe ich aber auch morgen einen Herzinfarkt vor Freude, weil ich Peter Handke unverhofft auf der Straße begegne. Kein Problem: Weil eben alles offen, frei und online ist, können Sie, die Sie nun nach dem Lesen dieses Texts von meinem Projekt begeistert sind und die Ergebnisse erfahren möchten, meine Arbeit einfach fortsetzen. Tun Sie das gerne, nur bitte, tun Sie mir einen Gefallen: Erzählen Sie’s meinen Eltern.
Weiterfühende Links:
- Wikiversity-Projektseite von Handke: in Zungen
- Github-Repo mit Präsentationsfolien und Projekt-Logbuch
- Ein anderes schönes Handke-Projekt: Die Handke-App
- Noch ein anderes schönes Handke-Projekt: Handkeonline
Zur Autorin: Vanessa Hannesschläger ist Dissertandin am Institut für Germanistik der Universität Wien und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie hat an mehreren digitalen Projekten zu österreichischer Literatur nach 1945 gearbeitet (Handkeonline, Ernst Jandl Online) und widmet sich auch an ihrem Institut der Weiterentwicklung digitaler Methoden für die Literaturwissenschaft. In ihrem Projekt erstellt und bearbeitet sie das Datencorpus, das sie in ihrer Dissertation auswerten wird und erforscht die Möglichkeiten und Grenzen von Open Science in der Geisteswissenschaft.
Weitere Gastbeiträge unserer Fellows im Wikimedia Deutschland Blog:
- Isabel Steinhardt: Kollaborativ online-Interpretieren
- Tobias Steinhoff: Auf Expedition mit dem Forschungsschiff FS Poseidon
- Aleksej Tikhonov: Trainingsdaten einer Systementwicklung als Stoff für öffentliche Lesungen
- Hans Henning Stutz: Open Hardware in den Ingenieurwissenschaften
- Caroline Fischer: Was motiviert zu offener Wissenschaft?
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