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Transparenz in qualitativer Forschung: Kollaborativ online-Interpretieren

Im Rahmen des Fellow-Programms Freies Wissen fördern wir junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die offene Wissenschaft betreiben möchten. In diesem Gastbeitrag berichtet Stipendiatin Isabel Steinhardt über ihr Projekt.

Christopher Schwarzkopf

8. November 2017


Das Fellow-Programm Freies Wissen geht in die dritte Runde! Noch bis zum 15. Mai können sich interessierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus allen Fachrichtungen bewerben. Zur aktuellen Ausschreibung geht es hier entlang.


Das Fellow-Programm Freies Wissen ist eine Initiative von Wikimedia Deutschland, dem Stifterverband und der VolkswagenStiftung, um junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei zu unterstützen, ihre eigene Forschung und Lehre im Sinne von Open Science zu öffnen und damit für alle zugänglich und nachnutzbar zu machen. In diesem Gastbeitrag berichtet die Stipendiatin Isabel Steinhardt über ihr Projekt im Rahmen des Fellow-Programms.

Transparenz und das Interpretieren in Gruppen sind zentrale Gütekriterien bei hermeneutischen Verfahren. In meinem Projekt möchte ich ausprobieren, ob beides durch kollaboratives online-Interpretieren von Datenmaterial im Sinne von Open Method weiterentwickelt werden kann.

So der Tweet für das Programm „Freies Wissen“ des Stifterverbandes, Wikimedia und VolkswagenStiftung. „Freies Wissen“, das weckte in mir sofort zwei Assoziationen: Erstens Wissen zu befreien, aus dem Elfenbeinturm, aus den Büros der einzelnen Forscherin, des einzelnen Forschers. Und die zweite Assoziation war Wissen transparent zu machen. Transparenz ist in meinen Augen das wichtigste Gütekriterium qualitativer Sozialforschung und mir schon seit Längerem ein Anliegen (vgl. Steinhardt 2015). Meine Bewerbung war entsprechend der Motivation geschuldet Wissen zu befreien und transparent zu machen. Dies möchte ich mit meinem Projekt „kollaborativ online-Interpretieren“ anstoßen und weiter ausprobieren.

Stipendiatin Isabel Steinhardt mit ihrer Mentorin Katja Mayer bei der Erarbeitung der Roadmap für ihr Projekt im Rahmen des Fellow-Programms, Foto: Ralf Rebmann, Auftaktveranstaltung Fellow-Programm Freies Wissen 2017 054, CC BY-SA 4.0

Kollaboratives online-Interpretieren

Was aber ist unter kollaborativem online-Interpretieren zu verstehen? Hier muss ich zur Erklärung einen Schritt zurückgehen. An der Universität Kassel biete ich seit nunmehr fast zwei Jahren Beratungen für qualitative Forschungsmethoden im Rahmen des „Kompetenzzentrums für empirische Forschungsmethoden“ an. In diesen zeigt sich, dass das Interpretieren von Datenmaterial (wie z.B. Interviewmaterial) nur durch die praktische Erfahrung erlernbar ist und durch Beratung höchstens unterstützt werden kann. Diese praktische Erfahrung wird bisher in geschlossenen Seminaren für Studierende oder Workshops für Promovierende weitergegeben (wenn an den jeweiligen Universitäten hermeneutische Verfahren überhaupt vermittelt werden). Eine Weitergabe im Sinne von offenem Wissen findet im Bereich von qualitativen Methoden, besonders bei hermeneutischen Verfahren (wie der objektiven Hermeneutik, Dokumentarischen Methode oder Habitushermeneutik), bisher kaum statt. Deshalb besteht mein Interesse darin eine Möglichkeit zu finden hermeneutische Verfahren und hier besonders den Vorgang des Interpretierens von Datenmaterial online öffentlich zugänglich und angeleitet online erlernbar zu machen. Damit möchte ich einen Beitrag zu Open Science leisten mit der Hoffnung, dass dadurch auch die Transparenz qualitativer Forschung eingelöst werden kann.

Um kollaboratives online-Interpretieren möglich zu machen muss als erster Schritt ein Open-Access-Tool gefunden werden. Neben der Suche und Testung des Tools ist eine wissenschaftliche Recherche zum Forschungsstand des kollaborativen (online) Interpretierens geplant. Meine momentane Annahme ist, dass es Literatur zu kollaborativem Interpretieren gibt, aber nicht zu online-gestütztem Interpretieren, deshalb die Klammern. Sowohl die Suche, die Testung des Tools als auch die wissenschaftliche Recherche und Aufarbeitung zu kollaborativen (online) Interpretieren werden auf meinem Blog (sozmethode.hyptheses.org) und über Twitter (@sozmethode) transparent gemacht und die Daten zur Verfügung gestellt, sowie der Forschungsplan und die Forschungsfortschritte aufgezeigt (der bisherige Forschungsplan findet sich hier, für wertvolle Anregungen bei der Erstellung des Plans gilt mein Dank meiner Mentorin Katja Mayer). Ich möchte durch diese Transparenz alle zur Diskussion der Forschungsschritte, Erkenntnisse und Ergebnisse anregen und erhoffe mir zugleich vielfältige Anregungen.

Roadmap des Forschungsprojektes „kollaborativ online-Interpretieren“ Foto: Isabel Steinhardt, CC-BY 4.0

Sollte sich bei diesem Projekt herausstellen, dass es noch kein Open-Access-Tool für das kollaborative online-Interpretieren gibt, oder eine Adaption eines Tools für andere Zwecke nicht möglich ist, dann soll auch das „Scheitern“ des Projektes – das ja nur eine Laufzeit bis Ende Mai hat – transparent gemacht werden. Denn auch das Scheitern gehört zu wissenschaftlichen Projekten dazu und wird meiner Ansicht nach noch zu selten thematisiert und transparent gemacht.

Damit aber überhaupt etwas kollaborativ interpretiert werden kann, bedarf es Interpretationsmaterials. Dieses werde ich in Form von Interviewmaterial in den nächsten Monaten erheben. Das Forschungsprojekt, das ich dabei beginne, geht der Frage nach, ob sich die Nutzung digitaler Technologien für das Studium je nach Habitus der Studierenden unterscheidet.

Projektbeschreibung „Nutzung digitaler Technologien für das Studium und Habitus von Studierenden“

Digitale Technologien haben Einzug in den Studienalltag gehalten, wenig ist bisher aber über die Praktiken des Umgangs von Studierenden mit diesen Technologien bekannt (siehe hierzu das Forschungsprojekt „You(r) Study“). Diese Forschung ist meines Erachtens von Bedeutung, da digitale Technologien als die Möglichkeit angesehen werden Ungleichheit im Bildungssystem abzubauen. Doch ist das tatsächlich der Fall? Profitieren wirklich die Studierenden von digitalen und vor allem offenen Bildungsangeboten, die bisher von struktureller Ungleichbehandlung betroffen sind? Bisherige Studien zur digitalen Spaltung (digital divide) zeigen, dass sich die sozialen Unterschiede auch in der Nutzung digitaler Angebote widerspiegeln.

Ich will hier keinesfalls sagen, dass offene Bildungsangebote nicht dringend notwendig sind und nicht weiter ausgebaut werden sollten – wie hilfreich offene Bildungsangebote sind, zeigen eindrucksvoll die Tweets der „14th Annual Open Education Conference“ unter dem Hashtag #opened17. Aber es ist zentral, wie bei allen Bildungsangeboten, zu ermitteln, wie und mit welchen Herausforderungen digitale Technologien und digitale Bildungsangebote von Studierenden genutzt werden.

Diesem Thema nähere ich mich über die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen den Praktiken der Nutzung digitaler Technologien und digitaler Bildungsangebote im Studium und dem Habitus (Bourdieu 1987) von Studierenden. Anschließend an die Habitustheorie von Bourdieu wird in meinem Forschungsprojekt gefragt, wie sich die Praktiken je nach Habitus und Milieu der Studierenden unterscheiden und inwieweit digitale Technologien zu einer neuen/andauernden strukturellen Ungleichheit im Studium beitragen könnten.

Zur Beantwortung dieser Fragestellungen werden lebensweltliche Interviews (Bremer/Teiwes-Kügler 2013) durchgeführt, die mit der Habitushermeneutik (ebd.) ausgewertet werden. Durchgeführt wird die Habitushermeneutik als Sequenzanalysen, das heißt einzelnen Textpassagen werden nacheinander analysiert, ohne das Gesamtmaterial zu kennen. Die Sequenzanalyse dient dem Aufbrechen der Daten und dient dazu erste Spuren von Habitusmustern der befragten Person zu finden. Die gefundenen Spuren werden im weiteren Verlauf der Analyse überprüft und Fragen an das Material aufgeworfen. Die Fragen und Hinweise sowie Interpretationen werden pro Sequenz festgehalten und in den weiteren Analysen überprüft und ergänzt (Bremer/Teiwes-Kügler 2013). Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion des Habitus und damit verbunden der „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987, S. 101) in Bezug auf die Nutzung neuer Technologien durch Studierende.

Eine Anforderung der Habitushermeneutik (wie bei allen hermeneutischen Verfahren) ist die Interpretation von Datenmaterial in Gruppen. Ziel der Interpretation in Gruppen ist die Erweiterung des Spektrums möglicher Lesarten des Materials, da davon ausgegangen wird, dass die Interpretation immer auf Grundlage der eigenen Erfahrungen und Perspektive erfolgt. Insofern wird die Lesart und damit die Interpretation von Datenmaterial vielfältiger, wenn Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft, Geschlecht und Alter an der Auswertung beteiligt werden.

Hier schließt sich der Kreis, da genau die Beteiligung von unterschiedlichsten Personen an der Interpretation durch ein Tool zur online-Interpretation ermöglicht werden soll. Wenn dies gelingt, dann wäre dies ein Schritt hin zu mehr Transparenz der Methode, der Interpretation des Datenmaterials, des Forschungsprozesses und damit meines Erachtens auch eine Befreiung des Wissens.

Literatur:


Zur Autorin:

Isabel Steinhardt ist Soziologin und arbeitet als Postdoc am International Centre for Higher Education Research (INCHER-Kassel). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen zum einen in der Studiengangsforschung mit den Themen Qualitätssicherung von Studium und Lehre, Organisation und Mikropolitik sowie Habitus von Studierenden und Nutzung digitaler Technologien. Und zum anderen in der Weiterentwicklung qualitativer Methoden der Sozialforschung. Als Fellow widmet sie sich dem Thema der Methodenweiterentwicklung hermeneutischer Interpretationsverfahren und geht der Frage nach, ob es möglich ist kollaborativ online zu interpretieren. Dazu verwendet sie Datenmaterial aus ihrer Forschung zu „Nutzung digitaler Technologien für das Studium und Habitus von Studierenden“.


Weitere Gastbeiträge unserer Fellows im Wikimedia Deutschland Blog:


 

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