Vater Rhein, viel gepriesen und besungen, eignet sich nicht für Turbulenzen. Auch die Bewohner rechts und links seiner Auen gelten gemeinhin als äußerst freundliche und gesellige Menschen, denen stärker an obergärigen Getränken als an obertourigen Gesetzesfolgendebatten gelegen ist. Doch hier macht das Leistungsschutzrecht für Presseverleger (LSR) einen Strich durch die Rechnung. Denn es zwingt die Rheinländer zur Auseinandersetzung mit einer Sache, die irgendwo oben, im Sibirien Deutschlands (K. Adenauer), verbockt wurde. Aber schön der Reihe nach.
Mit dem LSR, das am 1. August 2013 in Kraft trat, wurde Presseverlagen das ausschließliche Recht eingeräumt, ihre Texte zu gewerblichen Zwecken im Internet zu veröffentlichen. Suchmaschinenbetreiber und Aggregatoren wurden damit lizenzpflichtig. Durch die in letzter Minute hineinverhandelte Einschränkung, dass weder „einzelne Wörter oder kleinste Textausschnitte“ davon betroffen seien, wurde der eigentliche Schutzgegenstand dennoch sehr unbestimmt belassen. Christoph Keese, Cheflobbyist des Springer-Konzerns, gab gegenüber dem Medienjournalisten Stefan Niggemeier jüngst seine Interpretation ab, dass auch Überschriften durchaus schutzfähig “im Sinne des Gesetzes” sein könnten. Die Konfusion könnte kaum größer sein.
Entkernt und einzigartig
Wikimedia Deutschland beschäftigt sich mit dem LSR seit seeeehr langer Zeit. Bei Veröffentlichung des ersten Referentenentwurfs im Jahr 2012 äußerten wir unsere Sorge vor möglichen Kollateralschäden für die Belegpraxis in Wikipedia. So sahen wir die Problematik “betexteter” Weblinks, die trotz höchstinstanzlich garantierter Linkfreiheit plötzlich unter den Schutzumfang des LSR fallen könnten. Auch Schutzrechtsberühmungen bei Neukompositionen von Presse- und Wikipedia-Inhalten schienen uns ein sehr realistisches Szenario zu sein.
Als es in die chaotische Endphase des Gesetzgebungsprozesses ging, stellte mein Kollege Mathias Schindler hier im Blog die Gretchenfrage: “Sind Wikipedia und ihre Schwesterprojekte von diesem LSR direkt und unmittelbar betroffen? Nein, vermutlich nicht (…) Ob dennoch ein Verlag Anstoß an einer Handlung nimmt und versucht, sein Verbotsrecht durchzusetzen, weiß auch unsere Glaskugel nicht.” Gestützt auf die Befunde renommierter Fachwissenschaftler kritisierte er die Einführung “eines unsinnigen, entkernten, weltweit einzigartigen und rechtssystematisch problematischen Gesetzes”. Danach hätte man eigentlich zur Tagesordnung übergehen können.
Wie du mir, so ich dir
Was allerdings nach Inkrafttreten des Gesetzes geschah, kann man nur als Politsatire bezeichnen: So erhielt Google zunächst eine Gratislizenz von den größeren Verlagen (u.a. Burda und Springer), nachdem der Suchmaschinenriese unverhohlen mit deren Auslistung gedroht hatte. Die Verlage organisierten daraufhin die Wahrnehmung ihrer Ansprüche in der eigens zu diesem Zweck gegründeten VG Media. Diese veröffentlichte im Juni 2014 einen recht sportlichen Tarif (bis zu elf Prozent der Bruttoumsätze). Folgerichtig eskalierte die Situation. Google verweigerte weitere Verhandlungen, Webportale wie GMX, web.de und T-Online zeigen seitdem keine Suchresultate der in der VG Media vertretenen Verlage mehr an.
Über die Ansprüche der Wahrnehmungsberechtigten muss nun das Schiedsgericht des Deutschen Marken- und Patentamts entscheiden. Weitere Instanzen bis zum BGH sind wahrscheinlich. Zugleich strengten die Verlage bereits im letzten Jahr eine Überprüfung wegen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung durch Google beim Bundeskartellamt an. Dieses sah jedoch keine Möglichkeit zur Verpflichtung des Unternehmens “zum entgeltlichen Erwerb von Leistungsschutzrechten” und wird nun umgekehrt untersuchen, ob die selektive Erteilung von Gratislizenzen womöglich wettbewerbswidrig war. Als wäre das alles nicht kompliziert genug, hat Google-Konkurrent Yahoo eine Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Europa drängt, NRW bremst
Christoph Keese, Cheflobbyist von Springer, sieht die “Stunde der Judikative” gekommen. Er sitzt zusammen mit Valentina Kerst (Vorstandsmitglied bei D64), zwei Vertretern des Zeitungsverlegerverbands NRW und mir als Verteter von Wikimedia Deutschland in einem Sitzungssaal, der den Blick auf die nahe Rheinkniebrücke freigibt. Wir sind als Sachverständige geladen, um alte Kontroversen zu befeuern, die bereits die europäische Ebene erfasst haben. So ließ Günter Oettinger jüngst eine gewisse Sympathie für ein gesamteuropäische Lösung – eventuell ausgestaltet als Schrankenbestimmung – erkennen. Erwartungsgemäß wünscht sich auch Kesse “ein deutlich stärkeres und weitreichenderes Leistungsschutzrecht auf europäischer Ebene”. Merke: Etwas, das in Deutschland komplett baden ging, soll nun auch in anderen Ländern als Rettungsring für die darbenden Presseverlage dienen.
Im Ausschuss für Kultur und Medien des nordrhein-westfälischen Landtags wurde gestern ein Antrag der Piratenfraktion behandelt, der die sofortige Abschaffung des LSR fordert. Doch die Hoffnungen auf eine politische Initiative auf Länderebene wurden von verschiedenen Vertretern der anderen Fraktionen gebremst. Dadurch, dass im Koaltionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung ohnehin eine Evaluierung des LSR vereinbart ist, ergibt sich eine politische Atempause. Folgerichtig interessieren sich die meisten Abgeordneten mehr für die dargebotenen Kuchen als für die Feinheiten im Immaterialgüterrecht. Die Fragerunde läuft etwas gehetzt ab, Keese muss zum nächsten Termin. Dass er zuvor noch den auf Creative-Commons-Lizenzen gemünzten Satz “NC ist kaum nutzbar” im Plenum hinterlassen hatte, wird ihm von einigen Beteiligten hoch angerechnet.
In unserer vorab zugesandten Stellungnahme habe ich versucht, vor allem die möglichen Effekte neuer und undurchdachter Schutzrechte für Open-Content-Plattformen herauszustellen. Allen Sachverständigen wurden zu Beginn der Sitzungen drei Minuten zugebilligt, um ihre Punkte anzubringen. Daher habe ich mich auf fünf Thesen zum LSR beschränkt, zu denen es aus allen Fraktionen Nachfragen gab:
- Bücher und Zeitungen sind unverzichtbare Bestandteile für den Aufbau einer digitalen Wissensallmende. Gerade bürgerschaftliche, konzernunabhängige Informationsplattformen wie Wikipedia belegen ihre Einträge mit journalistischen Produkten als wesentlichen Sekundärquellen. Rückt diese Referenzierungsarbeit in rechtsunsichere Gefilde, wird die Abkehr vom Informationsangebot der Zeitungen noch zusätzlich beschleunigt.
- Das LSR ist nicht nur ein „Schuss in den Ofen“, sondern es wurde damit schlicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Schutzrechte im Bereich des geistigen Eigentums tendieren heute in wachsendem Umfang dazu, ihre eigene Idee zu pervertieren: Denn immer weniger geht es darum, Anreize für kulturelle Wertschöpfung zu bilden, sondern Verbote in vormals verbotslosen Zonen zu etablieren. Dies hat allerdings negative Konsequenzen für die Innovationsdynamik am Wirtschaftsstandort Deutschland.
- Das LSR ist systemfremd, weil es gerade nicht gegen die widerrechtliche Aneignung bzw. Piraterie urheberrechtlich geschützter Inhalte gerichtet ist. Zudem ist es ein handwerklich schlecht gemachtes Gesetz, das mit einer Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen operiert. So ist z.B. bis heute nicht hinreichend deutlich, worin die “redaktionell-technische Festlegung” durch Verlage überhaupt besteht. Wenn damit die Bündelung von Inhalten gemeint ist, so betreiben Hyperlinks und Filtermechanismen das genaue Gegenteil: die Entbündelung. Die gesetzgeberische Einschränkung, dass “einzelne Wörter oder kleinste Textausschnitte” vom LSR nicht erfasst werden, hat die Interpretationsspielräume nicht beseitigt.
- Fraglich ist, ob das LSR durch seine Abgrenzungsschwierigkeiten zu urheberrechtlichen Eigentumsrechten nicht sogar Schutzrechtsberühmungen Vorschub leistet. Erhalten Presseverlage ein Ausschließlichkeitsrecht auch auf Neukompositionen, die sich maßgeblich gemeinfreier oder frei lizenzierter Inhalte bedienen? Gerade weil der Gesetzgeber sich um diese konkreten Szenarien herumgedrückt hat, ist absehbar, dass die wesentlichen Profiteure des LSR nicht in erster Linie die Presseverlage, sondern vor allem jene Abmahnkanzleien sein werden, die parteiübergreifend als eine der Hauptursachen für die Akzeptanzkrise des Urheberrechts gelten.
- Alle Versuche, Intermediäre im Internet über einen Kamm zu scheren, sind von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Ist Wikipedia nun ein manueller Aggregator von Informationen? Oder gar eine Suchmaschine? Oder eher ein “bei Würdigung der Gesamtumstände überwiegend verlagstypisches” Produkt, das die gedruckten Enzyklopädien schleichend ersetzt hat? Vermutlich stimmt alles irgendwie zum Teil. Aber diese definitorische Unsicherheit ist eben symptomatisch für eine medientechnologische Umbruchssituation, in der sich ständig neue Verkehrwege von Informationen herstellen. Es ist vor diesem Hintergrund geradezu fahrlässig, mit den Mitteln des Urheberrechts Festlegungen zu vollziehen, die der aktuellen Entwicklungsdynamik im Internet überhaupt nicht gerecht werden.
Im Gesamtergebnis ist das LSR in seiner vorliegenden Form abzulehnen, weil es eher neue Risiken eröffnet als das zugrundeliegende Strukturproblem – die Dominanz von Google auf dem deutschen Online-Werbemarkt – zu lösen vermag. Realpolitisch besteht jedoch wenig Aussicht auf Hoffnung, dass die Große Koalition ihren Fehler aus der vergangenen Legislaturperiode anerkennt und hier eine rasche Rücknahme des Gesetzes anstrebt. Den reformwilligen Landesregierungen ist daher zu empfehlen, die im schwarz-roten Koalitionsvertrag versprochene Evaluierung des LSR einzufordern, um daraus auch Rückschlüsse für regionale Medienmärkte zu ziehen. Dennoch wird es mit den Mitteln der Politik nicht möglich sein, die dringend anstehende gesellschaftliche Debatte über die Anforderungen und Refinanzierungswege von künftigem Qualitätsjournalismus gewissermaßen auszusitzen. Aus Verbraucherperspektive wären kluge Rahmensetzungen für den Erhalt eines vielfältigen Ökosystems für unterschiedliche Publikationsformen und -kanäle sicherlich erstrebenswert.