Hanna Klein
30. November 2023
Hallo Gerhard, wann und wie bist du damals zum Verschwörhaus gekommen und was ist das temporärhaus jetzt eigentlich?
Gerhard: In 2015 nahm ich bei Jugend hackt an der Universität Ulm als Mentor teil. Aus der Veranstaltung heraus ist die Idee entstanden, diese Aktivitäten in die Stadt zu verlegen. Dort haben wir seit 2016 ehrenamtlich Programm für die Öffentlichkeit angeboten und 2019 den Verschwörhaus e. V. gegründet. Seit Ende 2020 bin ich dort Mitglied und seit einem guten Jahr erster Vorsitzender und somit für jede Menge Verwaltungsaufgaben zuständig. Dazu passend ein paar Zahlen: Aktuell hat der Verein 61 Mitglieder und noch mehr Aktive, wir haben weit mehr als 300 Leute in unserem Slack-Chat, über den wir uns primär organisieren, regelmäßig aktiv sind 60 bis 100 Leute. Der feste Kern besteht aus 30 bis 40 Ehrenamtlichen. Wir sind altersmäßig sehr gemischt, was uns sehr freut: im Durchschnitt sind wir eher unter 40 Jahre alt, haben aber auch sehr aktive Rentner*innen. Auch thematisch beschäftigen wir uns mit einer sehr bunten Mischung an Themen – uns alle vereint die Kernidee von Offenen Daten und deren Nutzen für Freies Wissen.
Erstmal Glückwunsch zu eurem neuen Raum. Ihr seid sicher erleichtert, dass eure Aktivitäten jetzt wieder ein zu Hause haben. Wie geht es der temporärhaus-Community jetzt?
Gerhard: Die letzten zwei Jahren waren tatsächlich sehr turbulent. Anfang Mai haben wir gemeinsam mit dem Haus der Nachhaltigkeit den Mietvertrag unterschrieben und viel Zeit in die Renovierung der alten Verkaufsräume investiert. Am 16. September war dann die Eröffnung. Die Stimmung ist bombastisch. Es ist toll, nun ein so schönes Haus für unsere Aktivitäten zu haben, das hat unsere Motivation sehr gesteigert.
Vom Verschwör- zum temporärhaus im Laufe der Zeit
Ihr beschreibt das temporärhaus auf eurer Website als „Experimentierfeld für die Welt von morgen, mit 3D-Druckern, offenen Werkstätten, Vortragsräumen und vor allem jeder Menge Inhalte, um die Region Ulm/Neu-Ulm gemeinsam in die Zukunft begleiten zu können!“ Kannst du ein paar Beispiele aus bisherigen Projekten nennen und welchen Nutzen die Region konkret davon hatte oder hat?
Gerhard: Unser Alleinstellungsmerkmal von 2016 bis 2021 war die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung Ulm. Wir wollten die Verwaltung dazu befähigen, Daten öffentlich zugänglich zu machen und für der Allgemeinheit nützliche Zwecke zu nutzen. Das hat eine Zeitlang super geklappt und beide Seiten haben viel gelernt. Zum Beispiel haben wir die Software digitransit übersetzt: Digitransit ermöglicht eine intermodale Verkehrsauskunft, die neben Bus und Bahn auch neue Mobilitätsangebote wie z. B. Bikesharing, aber auch Informationen wie ÖPNV-Haltestellen, Parkhausbelegung oder Baustellen integriert. Voraussetzung hierfür ist die Bereitstellung der benötigten Informationen als offene Daten, weshalb wir im ersten Schritt daran gearbeitet haben, Informationsquellen wie Fahrpläne, Parkhausbelegung u. v. m. als offene Daten zu erschließen. Davon inspiriert hat dann auch die Stadt Herrenberg ihr Stadtnavi umgesetzt. Wir haben auch LoRaWAN-Sensoren gebaut, womit wir z. B. den Wasserstand der Donau oder Risse im Ulmer Münster messen können. Die Daten sind in datenhub.ulm.de aufrufbar, wo jede*r auf sie zugreifen und nützliche Dinge damit tun kann.
Auf lange Sicht hat die Kooperation mit der Stadt leider aber nicht fortbestehen können – aufgrund der Verwaltungsstrukturen. Und aktuell ist das Verhältnis zur Stadtverwaltung noch belastet.
Viele denken viel zu oft: Dafür bin ich nicht ausgebildet, das kann ich nicht.Gerhard, Ehrenamtlicher im temporärhaus
Welche sind deine bisherigen persönlichen Highlights eurer Aktivitäten?
Gerhard: Mir persönlich hat es total viel Spaß gemacht, nun schon zum zweiten Mal zu sehen, wie eine große Gruppe wahnsinnig motivierter Menschen Räume in gemütliche WorkSpaces mit Ausstattung verwandelt – wo Leute sich kreativ austoben können! Es freut mich, dass die Bürger*innen das tatsächlich annehmen: es kommen viele Leute vorbei und informieren sich darüber, was wir so machen, lassen sich inspirieren – und machen sogar selbst mit.
Mit viel Kreativität gegen die erlernte Hilflosigkeit und für Freies Wissen
Die Mischung aus Dingen, die ihr so macht, sieht auf den ersten Blick etwas wild aus. Maker-Monday und Nähcafé: wie passen die zusammen?
Gerhard: Unsere Angebote drehen sich immer darum, Bürger*innen dazu zu befähigen, eigene Ideen umzusetzen. Viele denken viel zu oft: Dafür bin ich nicht ausgebildet, das kann ich nicht. Der erlernten Hilflosigkeiten setzen wir etwas entgegen. Wir sprechen auch von der „Digitalisierung mit der Kreissäge“: Digitalisierung spielt sich nicht ausschließlich am PC ab, sondern es gibt Schnittstellen in der realen Welt. Schönes Beispiel dafür: unser Lastenradverleih. Bei uns gibt es aber auch den künstlerischen Aspekt, bei generativer Kunst nutzt man Code, um z. B. Stoffe mit coolen Mustern zu designen. Dies macht unter anderem die Künstlerin bleeptrack (Sabine Wieluch), die auch Gründungsmitglied bei uns ist.
Wir bringen physische mit digitalen Angeboten zusammen und das Ergebnis wirkt im besten Fall nachhaltig für eine lebenswerte Gesellschaft.
Da wären wir ja auch bei der Schnittstelle zur Wikipedia und den Schwesterprojekten, auf die sich ja die anderen sechs von Wikimedia Deutschland geförderten Community-Räume fokussieren. Wie könnt ihr voneinander lernen?
Gerhard: Es geht immer darum, Wissen zu befreien! Das ist sowohl die Kernidee von Linked Open Data als auch von der Wikipedia. Seit 2016 haben wir immer wieder Wikidata-Workshops veranstaltet. Die Aktiven der anderen Community-Räume sind auch aktiv in der Gewinnung neuer Ehrenamtlicher für Wikipedia. Hier können wir von ihnen lernen und planen, die lokale Wikipedia-Community stärker in unsere Aktivitäten zu involvieren. Im Gegenzug freuen wir uns, unsere Expertise z. B. in Wikidata den anderen Räumen weiterzugeben. Hierzu planen wir in nächster Zeit Besuche im WikiMUC und im FürthWiki.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Was nehmt ihr euch für die nächsten Monate und Jahre vor?
Gerhard: Wir möchten einige Tools in Wikidata weiterentwickeln. Konkret planen wir einen Workshop zu Ontologien in Wikidata, wollen den Wikidata Stammtisch und den Austausch mit der Open Street Maps Community verstetigen.
Wir wünschen euch weiterhin viel Spaß und Erfolg. Vielen Dank für das Interview!
Lokale Community-Räume für mehr Vernetzung, Ideen und Zusammenhalt in den Wiki-Projekten
Neben dem temporärhaus e. V. gibt es in Berlin, Hamburg, Hannover, Köln, Fürth und München von Wikimedia Deutschland angemietete Laden- oder Büroflächen. Diese stehen den Ehrenamtlichen als Treffpunkte zur Verfügung. Die Gruppen haben teils sehr unterschiedliche Schwerpunkte entwickelt: Während das Lokal K in Köln beispielsweise Know How und Ausstattung zur Drohnenfotografie hat, kooperiert das WikiMUC in München auch mit der Maker Community und der FürthWiki-Laden hat sein eigenes Wiki über die Stadt Fürth entwickelt – ein tolles Tool der Bürgerbeteiligung und -information. Die Berliner*innen und Aktive aus Erlangen haben mit WomenEdit (online) Anlaufstellen für Frauen geschaffen, die bei Wikipedia mitmachen wollen und die Aktiven aus Hannover ergänzen Straßennamen in Wikidata mit dem Ziel, Übersichtsseiten zur fairen Straßennamensgebung zu erstellen (nach dem Beispiel des Projekts EqualStreetNames in Brüssel).