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Wie gelingt ein verantwortungsvoller Umgang mit schwierigem Erbe? – Doku und Rückblick zur Konferenz “Zugang gestalten!”

In Frankfurt am Main kamen Anfang November Vertreter*innen von Kulturinstitutionen zusammen, um über Kulturerbe etwa aus kolonialen Kontexten zu diskutieren. Dabei wurde deutlich: Angemessene Kontextualisierung und Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften werden in Zukunft essenziell sein. Doch was bedeutet das konkret?

Lilli Iliev

Dr. Lucy Patterson

19. November 2021

Ins Herz des Selbstverständnisses von Kulturinstitutionen

Nachdem die Konferenz 2020 komplett digital stattfand, wurde “Zugang gestalten!” dieses Jahr hybrid organisiert: Mit begrenztem Publikum vor Ort in der Deutschen Nationalbibliothek und im Livestream konnten knapp 30 Vorträge und Gesprächsrunden zum Umgang mit “schwierigem Erbe” verfolgt werden. Auf zugang-gestalten.org und dem YouTube-Kanal von iRights.info sind alle Konferenzbeiträge nun zum Nachschauen verfügbar:

Die Konferenzreihe stößt ins Herz des Selbstverständnisses von Kulturinstitutionen vor: Welche neuen Fragen und Aufgaben stellen sich Museen, Bibliotheken und Archive in der vernetzten Gesellschaft? Welche Verantwortung kommt ihnen in der digitalen Sphäre zu?

Der Prozess des Wandels vom Bewahren und Hüten von Kulturgut hin zum Ermöglichen von gemeinschaftlichem Austausch über Kultur wird mit wechselnden Themen durch die Konferenz angestoßen und begleitet. Schwerpunkt dieses Jahr war der Umgang mit Zeugnissen von Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Frauenverachtung. An zwei Tagen diskutierten Mitarbeitende von Museen, Bibliotheken und Archiven sowie Jurist*innen und Wissenschaftler*innen, wie ein verantwortungsvoller Ansatz beim Zeigen solcher problematischer Inhalte gelingen kann. Hier geht es zum vollständigen Programm.

Roter Faden: Kontextualisierung und Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften

Durch die Beiträge zog sich als roter Faden die Notwendigkeit einer guten Kontextualisierung von Werken und Inhalten, die problematisch waren und sind. Verschiedene Formen von “Beipackzetteln” für das Zeigen solcher Inhalte wurden diskutiert: Begleittexte, einordnende Videos, wissenschaftliche Quellen für die tiefere Recherche.

Die Wikimedia-Projekte bieten bereits Raum für eine Kontextualisierung von Kulturobjekten aus verschiedenen Quellen und Perspektiven. Das wurde etwa deutlich am Beispiel der Zusammenarbeit des Brücke-Museums mit Wikimedia Commons, die Isabel Fischer und Dr. Anna Brus vorstellten.

Das Pilotprojekt soll der kritischen Aufarbeitung und Digitalisierung des Bestands Schmidt-Rottluff dienen, erste Digitalisate und Werkinformationen sind hier bei Wikimedia Commons zu finden.

Auch beim Abschlusspanel wurde die Notwendigkeit einer Öffnung hin zu partizipativen Formaten und der Ermöglichung von multiperspektivischen Erzählweisen betont. Die Herausforderung innerhalb der Wikimedia-Projekte besteht darin, noch mehr Menschen und Gemeinschaften zu erreichen und dafür zu gewinnen, sich mit den bereits aktiven Ehrenamtlichen zusammen in Projekten zum Kulturgut zu engagieren. Welche Wege Wikimedia dafür weltweit einschlägt, ist im Dossier “Wissensgerechtigkeit” zu sehen.

Deutungshoheit im Wandel

Vorträge wie “Zu einem postkolonialen Paradigmenwechsel des Museums” von Christopher Nixon (Kurator für koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart, Stiftung Historische Museen Hamburg) zielen auf eine weitgehendere Frage ab, die das Selbstverständnis von Kulturinstitutionen direkt berührt: Wer kuratiert, wer hat und wer sollte die Deutungshoheit über Kulturobjekte haben, von denen vielschichtige Erzählungen existieren? Wie in vorherigen Konferenzen auch, war eine große Bereitschaft zu Dialog und Reflexion über diese Fragen spürbar.

Wikimedia setzt sich seit jeher für den freien Zugang zu Kulturerbe ein – für die 11. Ausgabe von Zugang gestalten luden wir im Panel “Openness und Giftschränke” Brigitte Vézina, Jörg Räuber und Christina König ein. Aus ihren jeweiligen Arbeitsperspektiven berichteten Sie über Hürden für die Zugänglichkeit etwa zu Filmmaterial für die Verwendung als Bildungsmedien und ethische Dimensionen des Zugangs zu Kulturgut.

Wie lassen sich digitale Transparenz und Souveränität von Herkunftsgesellschaften vereinbaren?

Wikimedia lud am ersten Konferenztag zum Vertiefungsgespräch “Offen und gerecht: Wie lassen sich digitale Transparenz und Souveränität von Herkunftsgesellschaften vereinbaren?” Dr. Birgit Scheps-Bretschneider, Abteilungsleiterin Provenienzforschung am Grassi Museum Leipzig, führte in das Thema ein, indem sie die ethischen Herausforderungen bei der Digitalisierung und der Freigabe von Inhalten für Online-sammlungen vorstellte.

Dabei ging es nicht nur um Digitalisate menschlicher Überreste oder Objekte, die in den Herkunftskulturen eine besondere Bedeutung haben, sondern auch um Fotografien indigener Völker mit entwürdigenden Darstellungen (z. B. Fotografien, die Menschen erneut als Opfer zeigen, anthropometrische Fotos, sexuell konnotierte oder pornographische Darstellungen) oder von Verstorbenen mit lebenden Verwandten (in einigen indigenen australischen Kulturen wird das Betrachten von Fotos der Toten vermieden).

Die Rücksprache mit Vertreter*innen der Herkunftskulturen war hierbei unerlässlich um festzulegen, ob und wie diese Bilder weitergegeben werden können, so Scheps-Bretschneider. In den anschließenden Gesprächen wurden die Herausforderungen erörtert, die sich aus der Heterogenität und der Vielfalt der Perspektiven in den Herkunftsgesellschaften ergeben – aktive Praktiker*innen der Traditionen haben wahrscheinlich weniger digitalen Zugang, akademische Ansprechpartner*innen sind vielleicht leichter zu erreichen, aber weniger in der Lage, über zeitgenössische Praxis und Ansichten zu sprechen. Die Frage bleibt: Wer hat die Deutungshoheit?

Am Ende warf unsere Sitzung mehr Fragen als Antworten auf. Einigkeit Bestand über die Notwendigkeit, auszuhalten, dass vieles unangenehm ist. Während beispielsweise die Verwendung von Platzhalterbildern anstelle von Digitalisaten für Forscher*innen und Nutzer*innen von Online-Datenbanken wahrscheinlich frustrierend sein wird, sollten wir uns bemühen, dieses Unbehagen als Anregung für weitere Diskussionen zu sehen.

Zugang gestalten 2022 in Hamburg

Getragen wird die Konferenz von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dem Bundesarchiv, der Deutschen Digitalen Bibliothek, dem Deutschen Filminstitut Filmmuseum, der Deutschen Nationalbibliothek, dem Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz, dem Jüdischen Museum Frankfurt, dem Forschungs- und Kompetenzzentrums Digitalisierung Berlin (Digis), iRights e. V., der Stiftung Historische Museen Hamburg, Wikimedia Deutschland und dem ZKM Karlsruhe.

Nach der Konferenz ist vor der Konferenz: Der Veranstaltungsort für Zugang gestalten 2022 steht bereits fest: Die Hamburger Staatsbibliothek wird im nächsten Jahr Kulturinstitutionen einladen, um über ihre Verantwortung in der vernetzten Gesellschaft zu sprechen. Wir freuen uns, wieder mit der Perspektive des Freien Wissens dabei zu sein!

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