zur Artikelübersicht

Das Wissen, das fehlt: Im Wikimedia-Salon wurde diskutiert, wie die Wikipedia-Communitys diverser werden können.

Wie können mehr Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen für Wikipedia gewonnen werden? Von der Verantwortung als Massenmedium, Wiki-Influencern, Code of Conduct und inklusiver Offenheit.

Lilli Iliev

3. Dezember 2020

Warum soll Wikipedia eigentlich diverser werden?

Die Erkenntnis ist nicht neu: Nur etwa zehn Prozent der Menschen, die bei Wikipedia schreiben, identifizieren sich als Frauen (siehe dazu auch Wikipedia:systemic bias). Diesem Ungleichgewicht wird zunehmend mit Initiativen zur Erhöhung der Vielfalt begegnet. Seit vielen Jahren wird versucht, auf verschiedenen Ebenen mehr Teilhabe und Teilgabe von mehr gesellschaftlichen Gruppen zu befördern – aus den Freiwilligen-Communitys heraus und unterstützt durch Projekte der Wikimedia-Organisationen (siehe z. B. Wikimedia-Diversity-Conferences). Doch die Anstrengungen brachten bislang überschaubare Erfolge. Statistiken zeigen, dass die Zahlen weitgehend stagnieren, auch immer noch nur etwa 15 Prozent der Biografien Frauen beschreiben. Im Wikimedia-Salon „XY ungelöst – Wie kann Wikipedia diverser werden?“ diskutierten am 23.11.2020 dazu:

Moderation: Lilli Iliev, Projektmanagerin Politik, Wikimedia Deutschland e. V.

By playing the video you agree that YouTube and Google might store and process your data. Please refer to Google’s Privacy Policy.

Das Wissen, das fehlt

Warum lohnt es sich für Wikipedia, mehr Vielfalt der Beitragenden zu erreichen? „Es geht so viel Wissen für Wikipedia verloren, das in der Gesellschaft schlummert!“, betonte Christel Steigenberger. Sie wünscht sich viel mehr Beiträge von mehr gesellschaftlichen Gruppen. In der deutschsprachigen Wikipedia brauche es z. B. auch mehr Wissen über tunesisches UN-Weltkulturerbe, türkische Seen, griechische Inseln etc. Gerade die Besonderheit, dass sich bei Wikipedia weltweit so verschiedene Menschen begegnen, ihre Perspektiven teilen und aushandeln können, müsse noch stärker gemacht und kultiviert werden.

Auch Ferda Ataman machte stark, dass es viele Perspektiven braucht, damit ausgewogene, fundierte Inhalte entstehen. Wikipedia werde dem Anspruch, das Wissen der Gesellschaft zu repräsentieren, nicht gerecht, wenn es an Vielfalt der Sichtweisen mangelt. Zumindest, so Ataman, fehle dann immer ein Teil der Wahrheit und der Realität. Leonhard Dobusch bekräftigte, als eine der zentralen Quellen für das Weltwissen müssten sich auch die Communitys mit Blick auf ihre Verantwortung die Frage gefallen lassen, ob sie denn repräsentative Sichtweisen vorweise.

Wie kann ein neutraler Standpunkt ohne breite Repräsentation erreicht werden?

Einer der Grundpfeiler der Wikipedia ist der neutrale Standpunkt. Dieser ist prinzipiell realiter unerreichbar, aber ein Ideal, das die Wikipedia-Communitys zusammenhält und die Vorteile der stetigen Aushandlung der Perspektiven beschreibt. Doch wenn die Vielfalt der Perspektiven fehlt, kann ein neutraler Standpunkt auch ganz systematisch nicht entstehen, betonte Leonhard Dobusch. Denn erst durch eine ausgewogene Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen könne ein annäherungsweise neutraler Standpunkt dieser Gesellschaft gegenüber gesellschaftlichen Ereignissen etc. erreicht werden.

Culture eats strategy for breakfast

Wie kann sich die Organisationskultur aber so verändern, dass mehr Vielfalt ermöglicht wird? Die Kultur einer Gemeinschaft, das wurde deutlich, ist auch bei Wikipedia grundlegend dafür, welche Menschen sich angezogen fühlen und welche eben nicht angesprochen werden. Daher wird im Rahmen der Wikimedia 2030 Movement Strategy ein globaler Code of Conduct angestrebt: ein Verhaltenskodex, in dem sich möglichst viele Menschen gemeinsam darauf verständigen, wie sie miteinander umgehen wollen. Sehr viele Menschen aus den Communitys, so Christel Steigenberger, haben sich weltweit an der Entwicklung der gemeinsamen Strategie beteiligt. Sie wünscht sich, dass sich nun auch möglichst viele Menschen für den Code of Conduct einsetzen. Wenn man möglichst viele Stimmen zusammenbringen möchte, räumte Steigenberger ein, gebe es eben aber auch widersprüchliche Meinungen.

Eine Kultur kann man nicht verordnen, wandt Dobusch ein, sie entwickelt sich, ist informell und pfadabhängig. Daher komme man letztlich nicht drum herum, an einigen Tabus zu rütteln, um an den bestehenden Problemen grundsätzlich etwas zu ändern. Dobusch brachte etwa die Idee von Wiki-Influencern ins Spiel, die auf verschiedenen Kanälen für die Mitarbeit bei Wikipedia werben könnten. Eine weitere umstrittene Idee: Professionelle, bezahlte Community-Managerinnen und -Manager seien über kurz oder lang unumgänglich, um eine konstruktive Kommunikationskultur zu gewährleisten. Nach 10 Jahren, in denen man dachte, das bräuchte es nicht, sei es nun einen Versuch wert, so Dobusch. Auch wenn dann die strikte Grenze zwischen Freiwilligen-Community und Wikimedia-Organisationen aufgeweicht würde. Christel Steigenberger hielt dagegen, dass sie weiterhin auf unbedingte Freiwilligkeit setze, aber Wikimedia-Organisationen mehr Unterstützung leisten sollten.

Mehr Unterstützung beim Erkennen von Belästigung und im Umgang mit Konflikten

Steigenberger argumentierte, dass für die Etablierung einer Willkommenskultur die Freiwilligen deutlich mehr Unterstützung erhalten sollten – etwa, um problematisches Verhalten oder Belästigung besser erkennen und angemessen darauf reagieren zu können. Ataman sagte zudem, dass viele Menschen nach wie vor schlicht nicht wüssten, dass sie überhaupt mitmachen können. Man könne vielen Medien den Vorwurf machen, nicht inklusiv genug zu agieren. Doch gerade, wenn Wikipedia auch von jungen Menschen und Journalistinnen und Journalisten vielfach als maßgebliche Informationsquelle genutzt werde, sei es wichtig, dass neue Beitragende nicht vertrieben würden. Ataman sorgt sich besonders um Gefahren, die von rechtem Online-Aktivismus ausgehen, auch für Wikipedia.

Steht Offenheit der Diversität im Weg? Exkludierende vs. inkludierende Offenheit

„Die Auseinandersetzung will ich nicht raus haben aus Wikipedia!“ sagte Leonhard Dobusch. Die Besonderheit und der Qualitätsgarant von Wikipedia sei gerade der Zwang zum Aushandeln der Sichtweisen. Nicht ohne Grund verlinke etwa Youtube auf Wikipedia-Artikel, um Desinformation beizukommen. Dennoch: Das Prinzip der radikalen Offenheit komme eindeutig an Grenzen. „Wenn ich auch offen für Leute bin, die andere vertreiben, entsteht eine exkludierende Offenheit“, so Dobusch. Auf diese Weise könne ein solches System doch ausschließend gegenüber Minderheiten wirken. Freiwillige seien eben keine Community-Managerinnen und -Manager, und es müsse ihnen auch zugestanden werden, in ihrer Freizeit weiterhin an ihren Themen zu schreiben, statt ihnen etwa die Moderation von Auseinandersetzungen aufzubürden.

Am Ende wurde deutlich: Die Menschen, die Wikipedia aufgebaut haben und sich mit viel Sorgfalt, Mühe und Zeit der Artikelerstellung und -pflege widmen, haben größte Wertschätzung verdient und sollen sich um ihre Fachthemen kümmern können. Gleichzeitig sollten alle Beteiligten und vor allem neue Beitragende sich in den Wikimedia-Projekten willkommen und sicher fühlen. Die Sensibilität für eine positive Kommunikationskultur und die Bedeutung der Vielfalt von Perspektiven wächst – bei der Beschäftigung mit der Wikimedia 2030 Strategy sowie im täglichen Miteinander. Christel Steigenberger freut sich mit Blick auf Wikipedia in 10 Jahren vor allem auf eine bunte, vielfältige WikiCon, bei der sich verschiedenste Menschen, Familien, alte und junge treffen. Darauf freuen wir uns ebenso! Vielen Dank an unsere Gäste und alle Interessierten.

Interessante Links zum Thema:

Kommentare

  1. Patrik Spieß
    18. Dezember 2020 um 09:26 Uhr

    Versuchen Sie einmal neutrale Verbesserungen im Artikel “Veganismus” zu machen. Sofort ist man Gatekeeping von weißen, alten Männern ausgesetzt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert