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Die Sache mit der Deutungshoheit

Marcus Cyron

16. September 2011

Heute ging die für mich wohl letzte größere Veranstaltung des Jahres zu Ende. Nach Wikipedia trifft Altertum im Juni in Göttingen, der Ständigen Ägyptologenkonferenz im Juli in Leipzig, der Wikimania im August in Haifa und der WikiConvention letztes Wochenende in Nürnberg nun am 14. und 15. September .hist 2011 – Geschichte im digitalen Wandel an der Berliner Humboldt-Universität.

Dank einer Einladung der Gerda Henkel Stiftung konnte ich als Vertreter der Wikipedia an der Veranstaltung teilnehmen – an dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön nach Düsseldorf. Die Stiftung war über ihr Webportal L.I.S.A. gemeinsam mit Clio online, H-Soz-u-Kult und dem Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität Organisator und Ausrichter der zum dritten mal durchgeführten Tagung, an der mehr als 100 Personen, meist Historiker, teilnahmen. Das Programm war im doppelten Wortsinne gemischt. Auffällig war die starke Technik-Lastigkeit, die man bei einer derartigen Veranstaltung nicht wirklich erwartet hätte. Das machte das Folgen, insbesondere bei den sogenannten Werkstattberichten, für Technikmuffel wie mich nicht immer leicht. Neben der Begrüßung, der Keynote von Stefan Münker zum Thema “Jenseits der Technik. Zum Status quo des digitalen Wandels” waren die beiden Podiumsdiskussionen am Ende der beiden Tage die zentralen Anlaufpunkte für alle Teilnehmer. Sonst war die Tagung in vier Sektionen unterteilt, zu denen jeweils parallel auch Werkstattberichte veranstaltet wurden. Ich möchte das hier nicht alles im einzelnen wieder geben, weiter oben ist das Tagungsprogramm verlinkt. Interessant waren für mich vor allem die Informationen zu den realen Projekten. Ich möchte hier ein paar zumindest einmal nennen:

* www.digiberichte.de – eine digitalisierte Edition von Reiseberichten aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit

* der Professorenkatalog der Universität Leipzig

* Repositoriums für biografische Daten historischer Personen des 19. Jahrhunderts – eine Datenbank zur Sammlung und Strukturierung von Personen des 19. Jahrhunderts

* Deutsches Textarchiv Digitalisierung eines disziplinübergreifenden Kernbestandes deutschsprachiger Texte aus der Zeit von ca. 1650 bis 1900 nach den Erstausgaben

Weil mich die Praxis naturgegeben mehr interessiert, war ich zumeist in den Werkstattgesprächen. Einzig im vierten und letzten Block war ich in den Vorträgen. Thema war “Grenzverschiebungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit” – und immer wieder schwang Wikipedia mindestens unterschwellig mit, sind wir doch wohl das Paradebeispiel für diese Verschiebung. Zunächst sprach Michail Hengstenberg über das Spiegel-Projekt einestages.de. Interessant hier, daß auch der Spiegel unter dem Problem leidet, das auch die Wikipedia hat: zu wenige Autoren. Die Mär von der Weisheit der Vielen und dem Crowdsourcing funktioniert einfach nicht so, wie man es beim Erfolg etwa von Projekten wie Wikipedia zunächst glauben mag. Danach sprach Jürgen Danyel vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam über deren Projekt Dokupedia-Zeitgeschichte. Was mir bei ihm besonders in Erinnerung blieb war das Bedauern, daß man zu Beginn in Abgrenzung von Projekten wie Wikipedia zu restriktiv war – und das nun auch nicht mehr beheben kann. Dennoch ist es ein sehr erfolgreiches Projekt.

Dritter Beitrag und der dramatische Höhepunkt war der Beitrag von Maren Lorenz von der Uni Hamburg. Lorenz Vortrag war von einer großen kulturpessimistischen Grundhaltung geprägt. Sie bemängelte den Kontrollverlust der Historiker über die Geschichte, also den Verlust der Deutungshoheit über die Geschichte, weil im Internet diverse Laien ihr Un- und Halbwissen verbreiten. Das kann funktionieren, doch meist funktioniert es ihrer Meinung nach nicht. Angefangen bei der “technischen” Beherrschung der Materie über die häufige Anonymität der Autoren bis hin zur emotionalen Bewertung. Neben der allgegenwärtigen Wikipedia war etwa die Khan Academy das beredte Beispiel für diesen Kontrollverlust. Ein letztlich kompletter Laie, der emotional, vereinfachend und mit antiquierten Mitteln (etwa Frontalunterricht) Wissen vermitteln möchte – und damit einen gewissen Erfolg hat. Ihm wird immerhin zugute gehalten, daß man bei ihm immerhin weiß, wer hinter allem steckt. Dazu kamen auch generelle Problemschilderungen, etwa die aus vielen Gründen fehlende Zeit oder der Legitimationsdruck, der auf Geistes- und Kulturwissenschaften lastet.

Frau Lorenz legte ihren Beitrag durchaus so an, daß sie nicht nur Zustimmung bekommen konnte, kokettierte auch ein wenig damit, den Advocatus diabloli zu geben. Was natürlich nicht bedeutete, daß sie in vielem nicht auch zumindest in Teilen recht hatte. Dennoch mußte ich hinterher ein wenig zur Gegenrede ansetzen. Angefangen damit, daß die Wikipedia-Autoren durchaus zu einem nicht geringen Teil vom Fach sind. Dummerweise ist Lorenz Frühneuzeithistorikerin – hier findet sie wirklich nicht all zu viel Gutes in der Wikipedia. Dieser Bereich ist ein echtes Sorgenkind. Doch wenn der stete Zeitdruck beschrieben wird, sollte es die Fachwissenschaftler doch freuen, wenn ihnen die Arbeit abgenommen wird. Wie kann man darauf kommen, daß ihnen die Deutungshoheit genommen wird? Sicher nicht in der Wikipedia. Dort wird doch gerade darauf wert gelegt, nicht eigene Forschungen, sondern die der Fachwissenschaftler zu verarbeiten. Ganz im Gegenteil – gerade wir in der Wikipedia stehen an der vordersten Front und müssen uns der Heimatforscher und Umdeuter erwehren. Die Fachwissenschaft verweigert sich diesen Diskussionen fast immer. Man möge Henriette doch einmal zur Chronologiekritik befragen, zu Heribert Illig und dem Erfundenen Mittelalter. Wir erwarten sicher keine Dankbarkeit – aber etwas mehr Respekt dürfte es manchmal schon sein. Hinzu kommt ja auch die Frage: mit welchem Recht beklagt Lorenz den Kontrollverlust der Wissenschaftler? Es ist eben jener Elfenbeinturm, in dem die deutsche Wissenschaft nahezu fachübergreifend seit dem 19. Jahrhundert fest sitzt. Ein Wissenschaftler der ein Buch für Nichtfachwissenschaftler schreibt wird um es überspitzt zu sagen kaum noch ernst genommen. Man kann auch fragen: hatte denn jemals die Geschichtswissenschaft die Deutungshoheit? In der Diskussion wurde das letztlich verneint und viele Beispiele ins Feld geführt die zeigten, daß es diese nie wirklich gab. Auch etwa Elmar Mittler sah weitaus größere Chancen als Risiken und bekam für seinen Wortbeitrag wohl den meisten Applaus. Was mich zudem etwas gestört hat war die unterschwellige Botschaft, daß man als Fachwissenschaftler keine Zeit für die Vermittlung an Laien hat – aber andere Personen sollen das dennoch nicht übernehmen.

Frau Lorenz, sollten sie das lesen – wir müssen uns unbedingt einmal in größerer Runde zusammen setzen. Nachdem Wikipedia das Altertum traf, warum nicht auch einmal die Geschichtswissenschaft? Letztlich wollen wir, so glaube ich, doch Dasselbe. Und können sicher von einander profitieren. Und miteinander reden ist vielleicht besser als übereinander. Es würde mich traurig machen, wenn sie weiter diesen pessimistischen Standpunkt vertreten.

Daneben waren die Gespräche am Rande sehr interessant und wichtig. Einerseits mit den Vertretern der Gerda Henkel Stiftung, andererseits aber nicht zuletzt mit Studenten. Hier vor allem mit Mitarbeitern von Skriptum, denen verständlicherweise diese Diskussion nicht besonders gefallen hatte. Skriptum veröffentlicht übrigens unter einer Creative-Commons-Lizenz. Auch sonst werden viele der Projekte unter Open Access, Open Source, Open Content oder Open Data-Bedingungen veröffentlicht. Neben Media Wiki waren das wohl die häufigsten Worte aus dem Wikipedia-Umfeld, die bei der Tagung gefallen waren. Und bei einigen Projekten sollten wir mal überlegen, ob eine engere Zusammenarbeit nicht möglich und sogar sinnvoll wäre.

Kommentare

  1. Marcus Cyron
    20. Dezember 2011 um 03:56 Uhr

    Das habe ich ja jetzt erst mitbekommen

    http://www.facebook.com/video/video.php?v=176444929097490

  2. […] Und da dachte ich im September, ich hätte alle wichtigen Veranstaltungen des Jahres hinter mir. Aber wie schon im September verschaffte mir erneut die Gerda Henkel Stiftung einen “Außeneinsatz”. Ich war eingeladen zur “Gerda Henkel Vorlesung”, die mit Hermann Parzinger der wohl hochrangigste deutsche Kulturbeamte hielt. Thema war “Archäologie und Politik. Eine Wissenschaft und ihr Weg zum kulturpolitischen ‘Global Player’”. Hier sprach der vormalige Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts und heutiger Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nicht zuletzt auch aus eigener Erfahrung von den politischen Dimensionen der Archäologie in Vergangenheit, Gegenwart und ein wenig auch der Zukunft. […]

  3. […] Markus Cyron in seinem Beitrag auf dem Wikimedia-Blog bereits betonte, bleibt die Frage offen mit welchem Recht HistorikerInnen, […]

  4. Marcus Cyron
    18. September 2011 um 17:59 Uhr

    @ Jossi, bei “Wikipedia trifft Altertum” hat Dirk Rohmann in seinem Vortrag sehr viel zu diesem Thema gesagt, er hat als mittlerweile in UK Lehrender die Perspektive dazu. Er hatte auch erklärt, warum im englischsprachigen Raum Autoren darauf achten müssen, daß sie allgemein verständlich schreiben. Wir werden in mittlerweile absehbarer Zeit unsere Videoaufzeichnungen dazu sichten, bislang ließ sich das zeitlich leider nicht machen. Ich teile deinen Eindruck in der Sache auf jeden Fall.

    @ Andreas: ja, die PND ist auch für die meisten vorgestellten Projekte eine und oft die zentrale Ressource. Selbst die WP-Personensuche wird in wissenschaftlichen Projekten verwendet, zweimal wurde sie direkt erwähnt. Einmal wurde sogar Apper mit Dank bedacht.

  5. AndreasP
    18. September 2011 um 13:24 Uhr

    Die Verknüpfung der Kataloge, Wikipedia und anderer Biographien und Bibliographien funktioniert am einfachsten über die Normdaten (PND). Dazu sollten natürlich möglichst viele Angebote diese Daten auch verwenden und “BEACON”-Dateien bereitstellen. Die Verknüpfungen sind inzwischen auch über die Wikipedia (Link ganz unten ganz hinten bei den Normdaten: “WP-Personensuche”) recht einfach zu erreichen, auch ohne dass man in tausende von Artikeln einzelne Links einfügen muss.

  6. Jossi
    18. September 2011 um 11:59 Uhr

    Es ist natürlich ein rein subjektiver Eindruck von mir — aber mir scheint, dass es z.B. in Großbritannien und den USA völlig normal ist, dass Professoren auch renommierter Universitäten allgemeinverständliche und sogar spannend geschriebene Sachbücher zu historischen Themen für ein breiteres Publikum veröffentlichen. Hier in Deutschland wäre das eine große Ausnahme. Das ist vielleicht wirklich ein Problem der deutschen Wissenschaftskultur.

  7. Marcus Cyron
    17. September 2011 um 19:19 Uhr

    Naja – ich sehe schon Unterschiede zwischen einer sachlicher Korrektheit und einem apostrophierten Kontrollverlust. Was mir noch mehr angst gemacht hat als die vermeintlich verlorene Deutungshoheit (wo man wirklich zurecht fragen kann, mit welchem Recht man diese für sich in Anspruch nehmen kann) war der Fatalismus: das Kind ist in den Brunnen gefallen und man kann jetzt bestenfalls noch Schadensbegrenzung üben. Sollte dem so sein, halte ich das für ein Hausgemachtes Problem. Die Geschichtswissenschaft, ja nahezu die gesamte deutsche Geisteswissenschaft hat sich der populären Wissensvermittlung über Jahrzehnte weitestgehend versagt. Wenn sich die Interessenten jetzt selbst helfen, ist der Fehler eindeutig bei den Fachleuten zu suchen. Egal wie wenig Zeit dort vorhanden ist, wie schlecht es bezahlt ist und daß niemand derartige Projekte bezahlt. Wobei man Letzteres endlich mal angehen muß. Warum soll die Vermittlung des Wissens nicht ebenso wichtig sein, wie die Schaffung von Wissen?

    Btw – warum muß ich die Kommentare eigentlich frei schalten? Ich denke nicht, daß hier Moderation nötig ist.

  8. Jossi
    17. September 2011 um 19:06 Uhr

    Zunächst einmal vielen Dank für den interessanten und informativen Bericht. Ich muss gestehen, dass mir das Denkmodell, das dem Beitrag von Frau Lorenz zugrunde zu liegen scheint, insgesamt Unbehagen bereitet. Begriffe wie „Kontrollverlust“ und „Deutungshoheit“ implizieren Machtstrukturen anstelle eines herrschaftsfreien Diskurses. Ich sehe da durchaus Parallelen zu manchen Wikipedia-internen Diskussionen der letzten Zeit, in denen Mitarbeiter in Fachportalen eine ausschließliche und ausschließlich innerfachlich legitimierte Kontrolle und Deutungshoheit über bestimmte Bereiche beanspruchten und dabei den berechtigten Interessen anderer Fächer und den Bedürfnissen des Benutzers ohne wissenschaftlichen Anspruch jede Legitimität absprachen — siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Meinungsbilder/Schreibweise_von_aus_dem_Lateinischen_ins_Deutsche_übernommenen_Namen oder http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia_Diskussion:Redaktion_Biologie/Archiv/Juli_2011#Umfrage_zu_den_Lemma_von_Pflanzenarten.

  9. Marcus Cyron
    16. September 2011 um 13:05 Uhr

    Ich würde behaupten, es sind mittlerweile Einzelmeinungen und die Meisten verstehen Wikipedia als das, was sie ist. Ein Einstieg für Alle. Dagegen stehen eben die Vertreter, die einen Kontrollverlust sehen oder befürchten und die, deren Ansprüche zu hoch und deshalb nicht erreichbar (Zitierfähigkeit) sind. Meist wurde Wikipedia neutral oder gar positiv erwähnt. Wenn sie erwähnt wurde, war ja kein eigentliches Thema. Aber es wurden auch mal Wikisource und Wikiversity erwähnt. Peter Haber war übrigens auch da. Auch Ulrich Johannes Schneider.

  10. Achim
    16. September 2011 um 12:21 Uhr

    Sehr prima,
    ich bin denn mal fix zum Professorenkatalog der Uni Leipzi gewandert – Stichprobe Klausnitzer:http://uni-leipzig.de/unigeschichte/professorenkatalog/leipzig/Klausnitzer_2501/ – Lebensdaten, PND und Wikipedia-Link, nur in unserem Artikel http://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Klausnitzer kein entsprechender Link. Scheint aber nicht Standard zu sein, wie man bei http://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Bruno_Anders sieht. Wäre ein nettes kleines Projekt, die DB mal vollständig mit WP anzugleichen ….

    1. Marcus Cyron
      16. September 2011 um 13:11 Uhr

      Es gibt Mitarbeiter, die das machen, aber offenbar noch nicht ganz so großflächig. Leider ist kein einheitlicher Katalog geplant, somit soll das alles nur mit Verweisen untereinander verbunden werden, statt an einer zentralen Referenzstelle. Somit haben wir leider allein in Deutschland Kataloge aus Leipzig, Rostock, Halle und Marburg, die alle für sich stehen. Rostock ist soweit ich es überschauen kann schon recht weit in die WP eingebunden. Gefunden habe ich eben bei der Recherche noch den aus Utrecht: http://profs.library.uu.nl/ .

  11. dirk franke
    16. September 2011 um 12:15 Uhr

    Wobei mich ja auch immer wieder wundert, dass “die Wissenschaft” anderen falsche Lehr- und Vermittlungsmethoden vorwirft + ihnen dann auch noch vorwirft, daas sie damit Erfolg haben.. Erinnert mich an meine Diskussion mit Peter Haber letztes Jahr. Dem schlug ich vor, doch nicht nur die Schwächen sondern auch die Stärken der Wikipedia zu untersuchen. Nur kan er leider nicht darauf, dass es eine Stärke ist, wenn alle etwas lesen soll und ihm vertrauen. Wikipedia (und andere) füllen eine Lücke, die die akademische Geschichtswissenschaft in voller Absicht selbst geschaffen hat. Selber schuld.

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