Wikipedia
Die Kunst der Meinungsverschiedenheit: Warum Streitigkeiten die Wikipedia stark machen!
Zarah Ziadi
28. November 2025
Dies ist eine angepasste Übersetzung des Original-Artikels der Wikimedia Foundation.
Bei Wikipedia ist eine Meinungsverschiedenheit kein negatives Zeichen – ganz im Gegenteil. Sie zeigt, wie sehr den ehrenamtlichen Autor*innen die Richtigkeit der Fakten am Herzen liegt.
Die Freiwilligen diskutieren tagtäglich über Themen und Artikelinhalte.Das Spektrum reicht von der Frage, ob es einen Wikipedia-Artikel über Kate Middletons Hochzeitskleid geben sollte, ob die Bee Gees als britische oder australische Gruppe gelten, bis hin zu Debatten über die präzise Dokumentation von COVID-19.
Auf Grundlage klarer Relevanzkriterien und unter Einhaltung der Wikipedia-Richtlinien entscheiden die Ehrenamtlichen, welche Inhalte aufgenommen werden – Regeln, die in langen Aushandlungsprozessen innerhalb der Community entwickelt und diskutiert wurden.
Dieses Vorgehen sichert die Unabhängigkeit der Wikipedia, fördert vielfältige Perspektiven und verhindert Einflussnahme durch Einzelpersonen oder Organisationen, die in ihrem eigenen Interesse handeln. Selbst die Wikimedia Foundation, die gemeinnützige Organisation hinter Wikipedia, hat kein Mitspracherecht bei inhaltlichen Streitfragen.
Stattdessen diskutieren Autor*innen weltweit offen darüber, wie ein Artikel ein kontroverses Thema darstellen sollte, welche Quellen den aktuellen Wissensstand am besten belegen oder ob eine Aussage den hohen Neutralitätsstandards der Wikipedia entspricht. Durch dieses sorgfältige Abwägen bleibt Wikipedia eine der zuverlässigsten Informationsquellen der Welt.
Doch wie genau funktioniert das alles eigentlich?
Niemand entscheidet alleine
Über die Inhalte eines Wikipedia-Artikels entscheidet niemals eine einzelne Person – erst recht nicht, wenn es um kontroverse Themen geht. Jeder Beitrag ist transparent einsehbar und kann von allen überprüft werden; jede Bearbeitung bleibt offen für weitere Kommentare und Ergänzungen. Wikipedia funktioniert auf der Grundlage verlässlicher Quellen und eines offenen Dialogs – so können alle Beteiligten einen gleichberechtigten Beitrag leisten.
Wenn Wikipedia-Aktive unterschiedlicher Meinung sind, legen sie ihre Argumente auf der Diskussionsseite eines Artikels dar. Dort können alle die Debatten verfolgen und sich selbst beteiligen. Diese Diskussionsseiten sind das Herzstück der Konfliktlösung auf Wikipedia: öffentliche Räume, in denen Argumente geprüft, Belege abgewogen, frühere Diskussionen einbezogen und Schritt für Schritt ein Konsens erarbeitet wird.
Dieser Ansatz stellt Debatten, Meinungsverschiedenheiten und Zusammenarbeit bewusst in den Mittelpunkt. Streitigkeiten enden nicht damit, dass sich jemand durchsetzt – vielmehr nähern sich die Autor*innen gemeinsam einem Verständnis darüber an, welche Informationen die besten verfügbaren Quellen zu einem bestimmten Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt bieten.
Zuverlässige Quellen sind das A und O
Die Richtlinien von Wikipedia halten Autor*innen dazu an, sich auf Überprüfbarkeit, Neutralität und Quellenangaben zu konzentrieren – und nicht auf persönliche Meinungen. Statt zu fragen „Wer hat Recht?“, lautet die entscheidende Frage: „Was sagt die Quelle?“ Mit der Zeit formt dieser kollektive Bezug auf verlässliche Nachweise das, was den jeweils aktuellen Stand des verfügbaren Wissens widerspiegelt.
Wenn eine Debatte auf Wikipedia ins Stocken gerät oder mehr Input erfordert – etwa, weil kein Konsens darüber erzielt werden kann, ob das „Monty-Hall-Problem“ eher zur Wahrscheinlichkeitsrechnung oder zur Spieltheorie gehört –, können Autor*innen in der englischsprachigen Wikipedia auf einen strukturierten Prozess zurückgreifen: Dem sogenannten „Request for Comment” (RfC). Dadurch wird die Debatte für mehr Mitglieder der Wikipedia-Community sichtbar, die sich dann an der Diskussion beteiligen können. In der deutschsprachigen Wikipedia gibt es denselben Prozess, der als das Einholen einer dritten Meinung beschrieben wird.
RfCs und „Dritte Meinungen“ helfen, unterschiedliche Perspektiven zusammenzuführen und Pattsituationen durch breitere Beteiligung aufzulösen. Sie dienen außerdem als dokumentierte Entscheidungsgrundlage für die Zukunft, sodass spätere Diskussionen auf bereits abgewogenen Argumenten aufbauen können. Die meisten RfCs und „Dritten Meinungen“ drehen sich um eine klar formulierte Frage – etwa, ob ein bestimmtes Detail in einen Artikel gehört oder wie eine Richtlinie zu interpretieren ist – und gelten als abgeschlossen, sobald sich ein deutlicher Konsens abzeichnet.
Radikal transparente Entscheidungsfindung
In einer Zeit, in der digitale Räume oft Polarisierung verstärken, zeigt Wikipedia, dass Transparenz und klare Strukturen Meinungsverschiedenheiten in Fortschritt verwandeln können. Studien belegen: Je mehr Menschen an der Erstellung eines Artikels beteiligt sind, desto höher ist die Qualität des Wissens – und desto eher entwickeln die Beteiligten offenere, weniger extreme Sichtweisen.
Das Vertrauen in das Informationsökosystem Wikipedia gründet auf der Bereitschaft der ehrenamtlichen Autor*innen, sorgfältig zu diskutieren, unterschiedliche Quellen abzuwägen, Fehler einzugestehen und das gemeinsame Ziel zu verfolgen: möglichst genaue Informationen bereitzustellen. Wikipedia funktioniert nicht, indem Konflikte vermieden werden, sondern indem jeder Streit offen, respektvoll und auf der Grundlage verlässlicher Quellen ausgetragen wird.