Patrick Wildermann
17. November 2022
Kunst auf Augenhöhe
Ist Kunst gleich Kunst, ohne Ausnahme? Thomas Röske, der Leiter des Museums Sammlung Prinzhorn am Universitätsklinikums Heidelberg, antwortet auf diese Frage sehr differenziert. Es sei zwar prinzipiell wünschenswert, ein Prinzhorn-Werk gleichberechtigt zum Beispiel neben einem Magritte auszustellen. „Trotzdem ist es wichtig, auf die besonderen Hintergründe der Arbeiten aus unserem Museum zu verweisen“. Denn seine Kultureinrichtung widmet sich sogenannter Outsider Art – Werken von Menschen mit psychischen Ausnahme-Erfahrungen. Entsprechend stehe hinter dem Schaffensprozess „oft eine andere Intention und auch Wirklichkeitsauffassung“ als etwa bei dem erwähnten Surrealisten. „Erst wenn, das Publikum diesen Kontext als möglich in seine Erwartung einschließt, können wir von Augenhöhe zwischen den Kunstwerken sprechen“, so Röske.
Das Museum Sammlung Prinzhorn verfügt mit über 40.000 Werken von 1221 Kunstschaffenden über die weltweit größte Kollektion von Outsider Art oder auch Art brut. Es sind Arbeiten von Menschen, die „aus sehr persönlichen Gründen eine Kunst schaffen, die ihre Wirklichkeit ergänzt“, beschreibt der Museumsleiter. Er beobachtet auch, dass sich die Haltung gegenüber Outsider Art auf Seiten der Kunstinstitutionen zu verändern beginnt. Wo die Werke von Psychiatrie-Erfahrenen früher oftmals nur als „spannende Bereicherung“ des Bestands galten, ginge es Kultureinrichtungen wie etwa der Tate Modern in London mittlerweile darum, „Outsider Art in die Sammlung aufzunehmen, um bislang ausgegrenzte Gruppen der Gesellschaft zu repräsentieren“ – und auch deren Geschichte zu erzählen.
GLAM on Tour
Am 19. November 2022 treffen sich nun Wissenschaftler*innen und Wikipedianer*innen im Museum Sammlung Prinzhorn des Universitätsklinikums Heidelberg zu einer besonderen „GLAM on Tour“-Station. Es geht darum, die künstlerischen Arbeiten von Psychiatrie-Erfahrenen in den Wikimedia-Projekten sichtbarer zu machen, bereits vorhandene Informationen zu ergänzen oder zu verbessern – und auf diese Weise dazu beizutragen, das Genre der Outsider Art weiter vom Label der gesellschaftlichen Randständigkeit zu befreien sowie die Kunstschaffenden von diskriminierenden Begriffen wie „krank“ oder „verrückt“.
Initiator der Kooperation zwischen der Heidelberger Universität und Wikimedia Deutschland e.V. ist der Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen“, ein Verbund, an dem etwa 70 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen der Universität Heidelberg und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg beteiligt sind. Seit 2016 haben bereits mehrere gemeinsame Veranstaltungen stattgefunden, darunter ein Besuch der Handschriften-Sammlung „Bibliotheca Palatina“. Die Veranstaltung mit der Sammlung Prinzhorn ist nun für Holger Plickert, Projektmanager bei Wikimedia, „die Chance, ein wichtiges Thema in der Wikipedia und anderen Wikimedia-Projekten zu stärken, bei dem noch große Lücken existieren“.
Die Sammlung Prinzhorn
Die Sammlung Prinzhorn besteht heute aus einem historischen und einem neuen Teil. Der historische Bestand – einschließlich historischer Neuzugänge aus der Zeit von 1800 bis 1945 – umfasst überwiegend Zeichnungen und Gouachen, schriftliche Aufzeichnungen wie Briefe, Textentwürfe, musikalische Notationen sowie oft selbstgefertigte Bücher oder Hefte, dazu Ölgemälde, textile Arbeiten, Collagen und Skulpturen. Seit 1980 wächst die Sammlung auch durch Neuzugänge aus der Zeit nach 1945 beträchtlich. Zum Gesamtbestand zählen dabei Werke wie die „Sterelationszeichnungen“ von Wilhelm Werner (1898–1940), einzigartige Dokumente aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, oder auch das in der Psychiatrie und gegen sie entworfene Werk von Erich Spießbach, in den 1950ern entstandene Zeichnungen mit einem ganz eigenen Humor.
Die ursprüngliche Sammlung Prinzhorn war eine Hinterlassenschaft des Psychiaters Hans Prinzhorn, der 1921 seine Arbeit in der Psychiatrischen Klinik Heidelberg beendete und mit der geplanten Einrichtung eines „Museums für pathologische Kunst“ gescheitert war. Prinzhorn vollendete 1922 sein Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ und wandte sich neuen Aufgaben zu. Seine Sammlung mit Werken von psychiatrieerfahrenen Künster*innen blieb in der Klinik lange unbetreut – bis in die 1960er Jahre. Vor allem, weil den Arbeiten der Psychiatrieerfahrenen die soziale Stigmatisierung anhaftete. „Erst als Begehrlichkeiten nach der Sammlung aus Berlin laut wurden, gelang es 2001 dem Klinikleiter Christoph Mundt, ein kleines Museum auszuhandeln – in räumlicher Nähe zur Klinik für Allgemeine Psychiatrie Heidelberg, die auch die Trägerschaft übernahm“.
Echtere Kunst?
Der Namensgeber der Sammlung – der Psychiater Hans Prinzhorn (1886–1933) – war der Auffassung, die „Irrenkunst“ (wie es zu seiner Zeit hieß) sei an „Echtheit“ der professionellen Kunst überlegen. In eine ähnliche Richtung ziele auch das Standardwerk „Outsider Art“ von Roger Cardinal aus dem Jahr 1972, beschreibt Thomas Röske. Solche Hierarchisierungen führen in seinen Augen allerdings in die Sackgasse – weil viele sonstige Künstler*innen deswegen die Auseinandersetzung mit dem vermeintlich geschlossenen Zirkel der Outsider Art eher meiden würden. Sein Ansatz ist es nicht, Outsider-Art als die „bessere“ Kunst zu präsentieren. „Vielmehr arbeiten wir gegen Stigmatisierung an. Es ist wichtig, den Menschen klar zu machen, dass ein Schweigen über psychische Ausnahme-Erfahrungen Teil des Problems ist. Es gehört zur conditio humana, dass wir psychisch erkranken können“.
Die Kunst der Sammlung Prinzip sei eben auch nicht „authentischer“ – sie habe nur „mehr mit der Existenz der Künstler*innen zu tun“. Wenn der Kunstbetrieb es zuließe, ist Röske überzeugt, könnten viele Kunstschaffende existenzielle persönliche Erfahrungen teilen, die ein Impuls für ihre Arbeiten waren. Nur geschehe das in der Regel nicht. „In dieser Hinsicht könnten die Prinzhorn-Werke eine Art Vorbildfunktion für andere Kunst haben“.
Röske hält es mit dem Motto „Kunst kommt von Künstler“. Für den Museumsleiter bedeutet die biografische Kontextualisierung der Arbeiten von Psychiatrie-Erfahrenen eben nicht die Verengung des Blicks auf eine vermeintliche Krankheitsgeschichte – sondern eine notwendige Erweiterung der Wahrnehmung dieser Kunst: „Unsere Werke sind kommentarbedürftiger“, sagt der Museumsleiter.
Grenzen des Verstehens
Der Psychiater Karl Jaspers (1883–1969) hat den Begriff einer „Verstehensgrenze“ geprägt – darauf bezogen, dass die Handlungen sogenannter Psychotiker nur bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar seien. Auch für die Kunst der Sammlung Prinzhorn gilt, dass die Betrachter*innen nicht jedes Bild, das beispielsweise auf einer Vision beruht, bis ins Letzte werden ergründen können.
Thomas Röske fällt dazu Vanda Vieira-Schmidt ein, eine Frau, die nach wie vor an einem „Weltrettungsprojekt“ arbeitet, das zwischen 2006 und 2008 in Heidelberg ausgestellt war und mittlerweile als Dauerleihgabe im Militärhistorisches Museum in Dresden zu sehen ist. Vieira-Schmidt ist überzeugt, mit dem deutschen Verteidigungsministerium zusammenzuarbeiten – gegen die Bedrohung des Weltfriedens. „Eine idiosynkratische Weltsicht, die ich nicht teilen kann – aber ernst nehmen und respektieren“, so Röske. „Ein Werk wie das von Vanda Vieira-Schmidt lässt sich aus unserer Wirklichkeitsauffassung heraus nur als Metapher lesen“. Aber durch Vermittlungsarbeit versuchen Röske und sein Team „die Verstehensgrenze, von der Jaspers gesprochen hat, so weit wie möglich hinaus zu schieben“.
Dafür braucht es Sensibilität und ein Bewusstsein für die besondere Weltsicht, die hinter vielen Werken der Sammlung Prinzhorn steht. Die Fähigkeit und Bereitschaft, auch die Auseinandersetzung mit der Realität zu sehen, in der die Psychiatrie-Erfahrenen oftmals gezwungen waren zu leben. In Heidelberg gibt es beispielsweise eine Vielzahl von Arbeiten, die kritisch mit einem in der Vergangenheit oft brutalen Anstaltsalltag umgehen. Wie das Werk einer Patientin, die ein sogenanntes Dauerbad darstellt – damals eine der schlimmsten Fixierungsmaßnahmen der Psychiater*innen. Überhaupt wird das Ärzt*innen-Patient*innen-Verhältnis in Werken der Sammlung oftmals kritisch beleuchtet. Ein Bild zeigt etwa den Kopf einer Patientin, en face, in den der mehrfach vergrößerte Profilschädel des Arztes eindringt. „Keine verkehrte Realität, sondern eine sehr wache Reflexion der Situation, der diese Patientin ausgesetzt war“, so Röske.
Erwartungen an die Community
Entsprechend wünscht sich der Museumsleiter auch von den Wikipedianer*innen bei der kommenden Zusammenarbeit eine Achtsamkeit, die bereits beim Vokabular beginnt. „Es gibt bestimmte Begrifflichkeiten, die wir vermeiden“, erklärt er. „Etwa den klinischen Terminus ‚Wahn’, weil er eine diagnostische Perspektive beschwört“. Dagegen verwendet er selbst hin und wieder „Wahnsinn“, wie in der Ausstellung „Expressionismus und Wahnsinn“, die Röske 2003 kuratiert hat – „weil darin die populäre Auffassung von einem psychischen Ausnahmezustand zum Ausdruck kommt“. Ebenso ist im Zusammenhang mit den Künstler*innen der Sammlung Prinzhorn nie von „psychisch Kranken“ die Rede, sondern eben von Psychiatrie-Erfahrenen. Ein Terminus, den auch Selbsthilfegruppen favorisieren.
„Wir versuchen, eine neutrale Sprache zu finden“, beschreibt Röske, „zu erläutern, weshalb Menschen als psychisch krank eingestuft wurden, was zu einem Verhalten geführt hat, das sozial nicht konform war – um begreifbar zu machen, weshalb sie aus der Gesellschaft entfernt wurden“. Er nennt das Beispiel einer jungen Frau, die um 1910 in die Psychiatrie eingewiesen wurde, weil sie zuhause die Tür geknallt und von ihren Eltern das gleiche Geld gefordert hatte, das ihre Brüder fürs Studium bekamen. Damals ein vermeintlich „irres“ Verhalten.
„Die Ehrenamtlichen sollten so vorurteilsfrei wie möglich an die Bearbeitung gehen – heranziehen, was sich kulturhistorisch heranziehen lässt, um Einblicke in die Wirklichkeitsauffassung und Denkweise der Patient*innen zu gewinnen“, sagt Röske. „Es wäre hilfreich, in Wikipedia-Artikeln einer Position zu begegnen, die verstehend ist, die vermittelt, wie mit diesen Werken und Künstler*innen umgegangen werden sollte“.
1. s. Bettina Brand-Claussen: „Zwischen Achtung und Ächtung. Geschichte einer verrückten Sammlung“. In: Ingrid von Beyme und Thomas Röske (Hg): Einführung in die Sammlung Prinzhorn.
Außerdem in dieser Blogreihe erschienen:
Achtsamer Umgang mit Leben und Werk
Mit dem Ziel, fundiertes Wissen über sensible Kunst – sogenannte Outsider-Art oder auch Art brut – für die Öffentlichkeit verfügbar zu machen, haben sich Wissenschaftler*innen und Wikipedianer*innen im Museum Sammlung Prinzhorn in Heidelberg getroffen. Bei der GLAM on Tour-Veranstaltung von Wikimedia Deutschland sind zahlreiche neue Beiträge über die Inhalte der Prinzhorn-Sammlung für die Online-Enzyklopädie entstanden.
sehr erfreut über und interessiert an eurer Zusammenarbeit mit der Sammlung Prinzhorn! Mehr Information über diese Institution und allgemein über Outsider Art ist zeitgemäß und war überfällig! Der Blog ist sehr informativ….