zurück

Blogserie Sammlung Prinzhorn

Achtsamer Umgang mit Leben und Werk

Mit dem Ziel, fundiertes Wissen über sensible Kunst – sogenannte Outsider-Art oder auch Art brut – für die Öffentlichkeit verfügbar zu machen, haben sich Wissenschaftler*innen und Wikipedianer*innen im Museum Sammlung Prinzhorn in Heidelberg getroffen. Bei der GLAM on Tour-Veranstaltung von Wikimedia Deutschland sind zahlreiche neue Beiträge über die Inhalte der Prinzhorn-Sammlung für die Online-Enzyklopädie entstanden.

Patrick Wildermann

8. Februar 2023

„Prinzhorn ist es zu verdanken, dass er die Kunst von Psychiatrieinsassen und ihre besonderen ästhetischen Qualitäten erstmals sichtbar gemacht hat“, so Thomas Röske, Leiter des Museums Sammlung Prinzhorn. Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Sammlung und in das Kunstverständnis ihres Gründers Hans Prinzhorn (1886 bis 1933). Als reiner, echter und künstlerischer hätten Prinzhorn die Werke gegolten, die in der Isolation damaliger psychiatrischer Einrichtungen – bloßer „Verwahrungsanstalten“ – entstanden. Zwischen 1919 und 1921, in seiner Zeit am Universitätsklinikum Heidelberg, archivierte der Arzt und Kunsthistoriker mehr als 5000 Gemälde von Patient*innen in psychiatrischen Einrichtungen.

Heute beläuft sich der historische Bestand der Sammlung Prinzhorn auf rund 8.000 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde, Skulpturen, Textilien und Texte, die vor 1945 geschaffen wurden. Seit 1980 wächst die Sammlung erneut. Dieser jüngere Bestand umfasst inzwischen rund 32.000 Werke. Ziel der Sammlungsverantwortlichen ist es, diese Kunst und ihre Schöpfer*innen besser zu verstehen. 

„Anstelle ihrer Diagnosen interessiert uns, warum diese Menschen früher aus der Gesellschaft entfernt wurden und welche Erfahrungen sich in den Werken spiegeln“, erklärt Röske. „Es handelt sich um inhaltlich besonders sensible Werke, deren Entstehungskontext, die Psychiatrie, immer mitgedacht werden muss.“ Daher spiele die enge Zusammenarbeit mit Wikimedia Deutschland so eine besondere Rolle: „Sucht man online nach einem unserer Künstler, ist das erste Ergebnis in den meisten Fällen ein Wikipedia-Eintrag.“ Entsprechend freut sich der Museumsleiter über die ernsthafte und enthusiastische Auseinandersetzung der ehrenamtlichen Autor*innen mit der Sammlung, die anlässlich der GLAM on Tour-Veranstaltung in Heidelberg stattgefunden hat – initiiert durch das Teilprojekt Ö „Schrifttragende Artefakte in Neuen Medien“ des Sonderforschungsbereichs „Materiale Textkulturen“ (SFB 933) an der Universität Heidelberg.

Kunst ohne Erfolgsabsicht 

Benutzerin Alraunenstern, die sich seit 2009 bei Wikipedia engagiert und unter anderem zu  historischen Maler*innen und Themen mit NS-Bezug beiträgt, hatte schon lange ein Interesse an der Sammlung Prinzhorn. Der Bereich der Outsider-Art fasziniert sie schon deshalb, „weil diese Kunst nicht auf einen Markt ausgerichtet ist, nicht darauf, Erfolg zu haben – sondern die Menschen damit  andere Bedürfnisse ausdrücken, ein Ventil für das finden, was sie bewegt“. Manche hätten durch ihre Werke auch ihre eigene kleine Rebellion gegen die oft quälenden Zustände in Psychiatrien gestartet, beschreibt die Wikipedianerin.

Alraunenstern war beeindruckt vom Entgegenkommen der Verantwortlichen vor Ort: „Uns wurde schon im Vorfeld ein umfangreicher Handapparat an Büchern gescannt und zur Verfügung gestellt“, während der Veranstaltung konnten die Freiwilligen weitere Werke erbeten, die dann nachgescannt wurden – wie die Prinzhorn-Publikation „Irre ist weiblich“ über künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, die sich die Wikipedianerin gewünscht hatte.

Was Alraunenstern ebenfalls bereichernd fand, das war die Kontextualisierung der Sammlung durch Vorträge im Rahmen der Veranstaltung – etwa über das Spannungsfeld Kunst und Psychiatrie generell, oder die historischen Zusammenhänge im Speziellen.   

Einblick in die Geschichte der Psychiatrie insbesondere während des Nationalsozialismus gab die Medizinhistorikerin Maike Rotzoll in ihrem Vortrag „Sensibilisierung für die Geschichte der Psychiatrie anhand von Werken aus der Sammlung Prinzhorn“. Psychiatrische Anstaltspatient*innen waren die erste Minderheit, die sich von der systematischen Vernichtung durch das NS-Regime bedroht sah. „Zwischen 1934 und 1941 kam es zur ersten systematischen Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialsozialismus. Dabei ging es um die ‚Ausmerzung‘ nicht mehr der ‚minderwertigen Erbanlagen‘ sondern der angeblich ‚Lebensunwerten‘ selbst“, so Rotzoll. Nach dem Krieg habe es immerhin noch bis Ende der 1950er Jahre gedauert, bis es zu einem langsamen Aufbruch in die Psychiatriereform und einer klaren Abgrenzung von der NS-Hypothek gekommen sei.

Biografien und ihre Brüche

Die insgesamt 13 teilnehmenden Wikipedianer*innen waren sich entsprechend der gebotenen Achtsamkeit bei der Beschreibung der Werke und Biografien von Psychiatrie-Erfahrenen bewusst. „Wenn die Lochung einiger Blätter noch auf die Herkunft aus der Patientenakte verweist, dann ist das einfach etwas anderes als ein Kunstwerk, das uns sonst im Museum begegnet“, betont Benutzer Julius1990. „Dementsprechend sensibel sollten wir mit diesem Themenfeld in der Wikipedia umgehen und gerade auch auf die angemessene sprachliche Gestaltung der Artikel achten sowie den historischen Kontext der Entstehung der Werke und ihrer Rezeption gut vermitteln“. 

Dem stimmt auch Alraunenstern zu, die in ihren Texten über die Künstler*innen der Sammlung Prinzhorn Kapitel zu „Leben“ und „künstlerischem Schaffen“ trennt – „damit nicht der Fokus auf der Psychiatrie-Erfahrung liegt“. Die Lebenswege der Portraitierten versucht sie „nicht anders darzustellen als den von anderen Malerinnen, die unter widrigen Umständen gearbeitet haben“. Brüche, so Alraunenstern, „gibt es in vielen Biografien“. 

Julius1990 – selbst Kunsthistoriker und inspiriert davon, die Prinzhorn-Werke statt als Reproduktion nun live gesehen zu haben, „gerade in ihrer Fragilität und an dem historisch mit der Sammlung verbundenen Ort“ – schreibt unter anderem über Gustav Sievers. Ein Künstler mit sozialdemokratischer, antiklerikaler Haltung, von dem beispielsweise beachtliche satirische Darstellungen zum Ersten Weltkrieg existieren. Alraunenstern hat neben Artikeln, die in Absprache zwischen WMDE und der Sammlung Prinzhorn bereits zur Neuerstellung vorgeschlagen waren, einen Text über die Künstlerin Gertrud Schwyzer angeregt – eine studierte Malerin, die im Gegensatz zu anderen Psychiatrie-Erfahrenen nicht etwa ihre Visionen ins Bild gesetzt hat, sondern exzellent gearbeitete Landschaften. Überhaupt betont die Wikipedianerin den ästhetischen Wert der Sammlung Prinzhorn: „Die Zeichnungen, Stickereien oder Aquarellmalereien interessieren mich auch unter rein künstlerischen Aspekten – einige der Arbeiten sind schlicht genial“.

Diese und weitere Werke aus der Sammlung Prinzhorn sind dank der Zusammenarbeit des Museums und GLAM on Tour ab sofort unter freier Lizenz auf Wikimedia Commons zu finden.

Mehr Zugänge schaffen 

Seit der GLAM on Tour-Station am 19. November – bei der die Autor*innen in einer nachmittäglichen, von den Fachleuten der Sammlung begleiteten  Schreibwerkstatt mit der Arbeit beginnen konnten – ist bereits eine Vielzahl von Verbesserungen und Ergänzungen bestehender Einträge sowie neuer Artikel entstanden – ein Gewinn für das Genre der Outsider-Art, das bis dato in der freien Enzyklopädie noch zu wenig repräsentiert war. Unter anderem haben die Wikipedianer*innen Beiträge zu den Art-Brut-Schaffenden August Klett, Agnes Richter, Jane Grier oder auch Alfred Stief und Maria Puth verfasst. Der Artikel zu Jane Grier mit vielen wertvollen neuen Informationen war in der Rubrik „Schon gewusst?“ auf der Hauptseite der Wikipedia angekündigt und verzeichnete über 22.000 Aufrufe – ein beachtlicher Erfolg. 

Dank des Engagements der Community konnten überhaupt eine Reihe von Daten der psychiatrieerfahrenen Künstler*innen ermittelt werden (etwa Todestage, Informationen zu Familie, Ausbildung und Lebensweg), die bis dato nicht vorlagen.

Zudem sind in der Kategorie „Sammlung Prinzhorn“ nun auf „Wikimedia Commons“ alle Medien zu finden, die über die Kunstwerke der Sammlung in der Wikipedia eingestellt sind.

„Diese Art der Zusammenarbeit ehrenamtlicher Wikipedia-Autorinnen und Autoren mit Kulturinitiativen ermöglicht einen globalen Zugang zu Meisterwerken, der sonst nur schwer erreichbar sind“, resümierte Christoph Jackel, Mitarbeiter von WMDE. „Wir hoffen, auch zukünftig solch fruchtbare Anstrengungen weiterzutreiben.“

Holger Plickert, der die Veranstaltung auf Wikimedia-Seite organisiert hat, hebt generell den Wert solcher Kooperationen zwischen Kultureinrichtungen und WMDE hervor: „Beispielsweise steigt die Bereitschaft zur Bildfreigabe, wenn eine Institution realisiert, wie gründlich die Ehrenamtlichen ihre Beiträge recherchieren.“

Das Treffen im Museum Sammlung Prinzhorn hatte der Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen“ als nunmehr dritte „GLAM on Tour“-Station an der Universität Heidelberg organisiert. Im Jahr 2016 waren ehrenamtliche Autor*innen  zu Gast im Heidelberger Antikenmuseum, 2017 besuchten sie die Handschriften-Sammlung der Universitätsbibliothek Heidelberg. Die Wissenschaftler*innen des SFB 933 hatten dabei Beiträge über ihre Forschungsobjekte verfasst, um sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Nachdem der Sonderforschungsbereich im kommenden Jahr nach zwölf Jahren auslaufen wird, ist es unser Anliegen, die von uns etablierten und erprobten Formate in andere Institutionen der Universität zu tragen“, erklärte Friederike Elias, die das Teilprojekt Ö „Schrifttragende Artefakte in Neuen Medien“ am Sonderforschungsbereich leitet. „Der Besuch der Wikipedia in der Sammlung Prinzhorn hat wie schon die vorherigen „GLAM on Tour“-Veranstaltungen wesentlich zur Förderung der Wissenschaftskommunikation beigetragen.“

Außerdem in dieser Blogreihe erschienen:

„Wir verschieben die Verstehensgrenze“

Erstmals sind Wikipedianer*innen anlässlich einer „GLAM on Tour“-Veranstaltung zu Gast im Museum Sammlung Prinzhorn des Universitätsklinikums Heidelberg – der weltweit größten Kollektion von Outsider Art. Im ersten Teil unserer Blogserie stellen wir das Museum Sammlung Prinzhorn und die Betrachtungen des Museumsleiters Thomas Röske zum Umgang mit der Kunst von Psychiatrie-Erfahrenen vor.

Kommentare

  1. Simone Kornfeld
    17. Februar 2023 um 03:53 Uhr

    Grossartig und überfällig, vor allem auch die begriffliche Aufklärung. Künstlerische Ausdrucksformen, aus welchem Impuls auch immer gespeist, sind den Lebewesen eigen. Wer will über ihre Qualifikation richten? Eine Bereicherung hinsichtlich der erweiterten Wahrnehmung der Welt.
    Simone Kornfeld

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert