Wissensgerechtigkeit – wie Wikimedia diverser, partizipativer und gleichberechtigter werden soll
Lilli Iliev
26. August 2021
Wissen ist ein Gemeinschaftsgut, das allen zugänglich sein sollte – so sehen es auch die Zehntausenden Freiwilligen, die weltweit ihr Wissen in Wikipedia teilen.
Historisch gesehen hat sich Wissen jedoch in den Händen einiger weniger konzentriert. Die Geschichten und Perspektiven marginalisierter Gruppen wurden durch Macht- und Privilegienstrukturen lange Zeit ausgeschlossen. Wikipedia hat dies als die weltweit größte, freie, gemeinschaftlich erstellte Enzyklopädie revolutioniert: Alle haben den gleichen Zugang zu Wissen – theoretisch. Doch wir wissen, dass die Möglichkeit, ehrenamtlich Wissen zu teilen, nicht allen Menschen gleichermaßen offen steht.
Wie kann für die Zukunft gewährleistet werden, dass das Versprechen von Wikipedia – jede und jeder kann das Wissen der Welt teilen und mehren – auch wirklich eingelöst wird?
Keine Wissensgerechtigkeit ohne Offene Wissenschaft, digitale Freiheitsrechte, freien Zugang zu Kultur und Bildung
Zugang zu Wissen ist eine Frage der Gerechtigkeit. Auf verschiedenen Ebenen muss für faire Zugangschancen für alle Menschen zu Wissen, Bildung und damit Macht gekämpft werden. Dafür setzt sich Wikimedia Deutschland ein:
Marginalisiertes Wissen sichtbar machen
Um Wissen zugänglich für alle zu machen, arbeiten wir mit vielen Akteur*innen zusammen, die Wissen haben, welches noch nicht allen Menschen offen steht: Bildungs-, Forschungs-, und Kulturinstitutionen, Museen, Bibliotheken, Archive.
Dabei stellt sich die Frage, wie Wissen, das auch marginalisierte und verdrängte Wissensformen enthält, in den Wikimedia-Projekte mehr Sichtbarkeit bekommen kann.
Unter marginalisiertem Wissensbeständen verstehen wir sowohl Sammlungbestände in Kultur- und Gedächtnisinstitutionen, die aus institutionellen oder strukturellen Gründen wenig bis gar keine Repräsentation finden, als auch Darstellungs- und Erzählweisen, die die Vielschichtigkeit von Geschichten und Perspektiven eines Objekts vernachlässigen.
Mit unseren Projekten möchten wir zukünftig verstärkt dafür sorgen, dass marginalisiertes und verdrängtes Wissen in den Wikimedia-Projekten mehr Sichtbarkeit erhält. Gleichzeitig wollen wir auch die Mechanismen von Aneignung, Unterdrückung und Marginalisierung von Wissen offenlegen.
Aktuell gestalten wir etwa das Programm der Konferenz „Zugang gestalten! Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe“ zum Thema „Schwieriges Erbe“ mit. Mehr dazu im Blogbeitrag.
Wie Offene Wissenschaft zu Wissensgerechtigkeit beitragen kann
Von 2016 bis 2021 hat Wikimedia Deutschland mit dem Fellow-Programm Freies Wissen Wissenschaftler*innen aus allen Disziplinen dabei unterstützt, Prinzipien Offener Wissenschaft in die eigene Forschungspraxis zu integrieren. Gleichzeitig wurden der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft gefördert, um die schrittweise Öffnung von Wissenschaft und Forschung voranzubringen.
Aufbauend auf den bisherigen Programmerfahrungen besteht das Ziel, Offene Wissenschaft noch stärker mit Fragen der Zugänglichkeit und Anschluss auf gesellschaftlicher Ebene zu verknüpfen. Wir wollen diskutieren, wie Offene Wissenschaft zu Wissensgerechtigkeit beitragen kann, und den Dialog dahingehend auch international ausweiten.
Ein Versuch, die Prinzipien und Barrieren von Wissensgerechtigkeit in der Wissenschaft aus unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren, ist im Rahmen der fünften Fellow-Programm-Runde in Zusammenarbeit von Wikimedia Deutschland, Mentor*innen und Fellows als digitale Lerneinheit im Lernraum Freies Wissen entstanden. Die Lerneinheit bestehen aus kurzen Videoinputs zur Wikimedia Movement Strategy 2030, zu Privilegien und Diskriminierung in der Wissenschaft, inklusiver Bildung, sozialer Ungleichheit im Hochschulsystem und Sprachenvielfalt in der Wissenschaft.
Kommunikationskultur, die alle Menschen willkommen heißt
Eine wertschätzende Kommunikationskultur und konstruktive Konfliktlösung sind wichtig, damit sich mehr Menschen in den Wikimedia-Projekten willkommen und sicher fühlen. Wikimedia Deutschland unterstützt die Communitys darin, eine freundliche und lösungsorientierte Art des Umgangs zu fördern. Mehr dazu siehe Projekt Online-Kommunikationskultur.
Auf internationaler Ebene wird zudem an einem Universal Code of Conduct gearbeitet, einer schriftlichen Vereinbarung darüber, wie die Freiwilligen der Wikimedia-Projekte miteinander umgehen möchten.
Gemeinwohlorientierte Digitalpoltik stärken
Auch auf der politischen Ebene werben wir dafür, dass die Digitalisierung zuvorderst dem Wohl aller Menschen dienen soll. Dazu gehört die Forderung, dass mit öffentlichen Mitteln gefördertes Wissen der Öffentlichkeit dauerhaft frei zur Verfügung stehen soll. (Siehe dazu auch die Kampagne Öffentliches Geld – Öffentliches Gut).
Wir bringen uns mit konkreten Vorschlägen in tagesaktuelle politische Weichenstellungen ein, etwa für eine konsequente Gemeinwohlorientierung in der Datenstrategie der Bundesregierung. Auch international knüpfen wir Netzwerke, um für den Zugang zu Freiem Wissen für alle Menschen heute und in Zukunft zu kämpfen.
Strategische Bedeutung von Wissensgerechtigkeit
Wir möchten, dass jeder einzelne Mensch Zugang zum Wissen der Welt haben und vor allem auch aktiv das eigene Wissen dazu beitragen kann. Um das zu schaffen, müssen wir jedoch zunächst all diese Menschen erreichen und an gleichen Voraussetzungen für alle arbeiten. Die Frage ist also, wie wir das Wissen in den Gemeinschaften der Welt für alle Menschen zugänglich machen können, auch außerhalb von Europa und Nordamerika.
Auch um diese Fragen nach notwendigen Veränderungen zu beantworten, hat Wikimedia als Bewegung 2017 angefangen, einen weltweiten Strategieprozess anzustoßen. Daraus ist ein ehrgeiziges Ziel entstanden: Bis 2030 soll sich Wikimedia zur zentralen Infrastruktur des Freien Wissens entwickeln. Alle, die unsere Vision teilen, sollen daran mitwirken können.
Über einen Zeitraum von zwei Jahren sind Menschen aus der Wikimedia-Bewegung in einem offenen und partizipatorischen Prozess zusammengekommen, um zu diskutieren, wie wir darauf hinarbeiten können. Herausgekommen sind dabei Empfehlungen und Grundprinzipien. Sie leiten strukturelle und systemische Veränderungen ein, mit deren Hilfe wir die Zukunft unserer Bewegung gemeinsam gestalten werden.
Die Empfehlungen skizzieren auch, wie wir nachhaltig und integrativ wachsen können. Sie zeigen Wege auf, wie wir das Beste aus den neuen Möglichkeiten machen und uns den Herausforderungen von heute und morgen stellen können. Sie zeigen auf, wie wir nach Wissensgerechtigkeit und Wissen als Dienst (Knowledge as a service) streben können. Damit alle – diejenigen, die bereits in unserer Bewegung sind, und alle, die sich ihr anschließen möchten – eine Rolle dabei spielen können, Freies Wissen zu erfassen, zu teilen und den Zugang zu diesem Wissen zu ermöglichen.
Zwei entscheidende Konzepte sollen den Weg dorthin prägen:
„Wissen als Dienst“: Um den Nutzer*innen bestmöglich zu helfen, werden wir zu einer Plattform, die über Schnittstellen und Communitys der ganzen Welt Freies Wissen anbietet. Wir werden Werkzeuge für Verbündete und Partner*innen schaffen, um über Wikimedia hinaus Freies Wissen zu organisieren und zu teilen. Unsere Infrastruktur wird es uns und anderen ermöglichen, verschiedene Arten von verlässlichem und freiem Wissen zu sammeln und zu nutzen.
„Wissensgerechtigkeit“: Als eine soziale Bewegung setzen wir uns besonders für Wissen und Gemeinschaften ein, welche durch Machtstrukturen und Privilegien bisher ausgeschlossen wurden. Wir heißen Menschen jeder Herkunft willkommen und bauen so starke und vielfältige Gemeinschaften für Freies Wissens auf. Wir werden soziale, politische und technische Hürden abbauen, damit alle Menschen Freies Wissen nutzen und schaffen können.
Mehr erfahren?
Weitere Informationen und aktuelle Projekte rund um das Thema Wissensgerechtigkeit gibt es auch auf unserer Themenseite. Mit dabei: die neue Gesprächsreihe „Wissen. Macht. Gerechtigkeit.“ von Wikimedia Deutschland und Deutschlandfunk Kultur.