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Interview

Die Wikimedia-Bewegung etabliert gerechtere Strukturen – innen wie außen

Wissen schafft Gerechtigkeit. Ob bessere Entscheidungen oder mehr Verständnis für andere Perspektiven – es kann viel Positives bewirken. Doch ist frei zugängliches Wissen nicht überall auf der Welt selbstverständlich. Viele Kulturen sind zudem in dem existierenden Weltwissen unterrepräsentiert oder kommen gar nicht erst vor. Wikimedia möchte dieses Ungleichgewicht beheben. Doch dafür muss die weltweite Bewegung erst einmal bei sich selbst ansetzen, sagt Nicole Ebber, mit der wir uns über die Neuausrichtung der Organisation im Detail unterhalten haben.
Gruppenbild auf Wikimedia Summit 2024

Zarah Ziadi

25. April 2024

Bisher lief das so: Die Wikimedia Foundation in den USA ist die größte und erste Wikimedia-Organisation. Sie ist Betreiberin der Wikimedia-Projekte und die Zentrale der Wikimedia-Organisationen und -Gruppen, die sich auf der ganzen Welt aufgrund ihrer Begeisterung für Freies Wissen gebildet haben. Die Foundation hat bislang stets die globalen Entscheidungen getroffen, allerdings wurden damit nicht immer die Bedürfnisse der Wikimedia-Länderorganisationen berücksichtigt. Damit diese Entscheidungen zukünftig gerechter und nachhaltiger getroffen werden, wird nun auf die Entwicklung dezentraler Governance-Strukturen gesetzt. Nicole Ebber ist Leiterin des Teams Governance und Movement Relations bei Wikimedia Deutschland und erzählt uns mehr über die Bedeutung dieser Entwicklung – für das Movement und die Welt des Freien Wissens.

Nicole Ebber auf dem Wikimedia Summit 2024
Nicole Ebber auf dem Wikimedia Summit 2024

Hallo, Nicole! Wie kam es zu dem Gedanken, sich innerhalb des Wikimedia Movements anders aufzustellen bzw. gerechter zu organisieren?

Der Gedanke entstand bereits 2013, 2014, als Wikimedia Deutschland das Projekt “Chapters Dialogue” durchgeführt hat, in dem wir uns mit allen Wikimedia-Mitgliederorganisationen weltweit ausgetauscht haben. Da stand bereits die Frage im Raum, wie wir bessere Entscheidungen im Sinne jener treffen, die sie am meisten betreffen oder wie Ressourcen sinnvoller verteilt werden können. Ende 2016 startete dann offiziell ein großangelegter  Strategieprozess unter der damaligen Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation, Katherine Maher. Ein Ziel war auch, in die Zukunft von Wikimedia über Wikipedia hinauszublicken. Die Bewegung sollte sich intern stärken, um gemeinsam eine kraftvolle Zukunft für Freies Wissen zu gestalten. Ein Ergebnis dieses Prozesses von 2018 bis 2020 waren 10 Handlungsempfehlungen – eine davon: Gerechtigkeit in der Entscheidungsfindung. Damit sollen Beschlüsse nicht nur zentral bei der Wikimedia Foundation liegen, sondern auch dezentralisiert und repräsentativer werden.

Welche Vorteile bringt ein dezentraler Ansatz in der Bewegung und warum kann das für jede Organisation ein guter Weg sein?

Es ist wichtig, diejenigen einzubeziehen, die von Entscheidungen betroffen sind, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Und dadurch, dass unser weltweites Movement so groß und divers ist und sich aus vielen Teilen der Welt zusammensetzt, ist es besonders wichtig. Ein Beispiel, das verdeutlicht, wie eine zentrale Entscheidung schiefgehen kann, war der Branding-Prozess der Wikimedia Foundation vor einigen Jahren. Die Foundation beschloss, sich in “Wikipedia Foundation” umzubenennen. Dies führte zu starken Protesten innerhalb der Community. Letztendlich musste die Entscheidung zurückgenommen oder zumindest auf Eis gelegt werden, nachdem bereits viel Geld investiert worden war. Eine frühere Einbindung der Community und eine dezentrale Entscheidungsstruktur hätten wahrscheinlich dazu beigetragen, sowohl finanzielle als auch emotionale Belastungen zu vermeiden. Ich denke, eine größere und frühe Beteiligung in Entscheidungsprozessen fördert ein stärkeres Engagement und Verantwortungsbewusstsein für jede Form von Organisation.

Eröffnung des Wikimedia Summits 2024
Eröffnung des Wikimedia Summits 2024

Vom 19. bis 21. April fand in Berlin der Wikimedia Summit statt. Mit dabei waren 170 Wikimedianer*innen aus über 60 Ländern. Was macht dieses Zusammentreffen so besonders für das Movement?

Der Wikimedia Summit ist der Ort, an dem sich einmal im Jahr Vertreter*innen der Affiliates, also der Länderorganisationen und anderer Zusammenschlüsse wie die Wikimedia User Groups treffen, um gemeinsam an der Zukunft der Bewegung zu arbeiten. Die Veranstaltung ist jedoch kein klassisches Konferenzformat, wo Leute vorher Vorträge einreichen und im Anschluss auf der Bühne stehen. Es handelt sich um ein wirkliches Arbeitstreffen, bei dem alle Teilnehmer*innen drei Tage lang aktiv mitmachen. Vor der Veranstaltung gibt es u. a. Vorbereitungsmeetings und Materialien zum Lesen. Beim Summit selber teilen sich dann die Teilnehmer*innen in Arbeitsgruppen auf, die in interaktiven Formaten Vorschläge zur zukünftigen Zusammenarbeit erarbeiten. Die Arbeitsgruppen kommen im Laufe des Wochenendes regelmäßig zusammen, präsentieren ihre Fortschritte, geben Feedback zu den Ergebnissen und arbeiten dann daran weiter, sodass sie am Ende gemeinsame Resultate schaffen.

Arbeitsgruppe auf dem Wikimedia Summit 2024
Arbeitsgruppe auf dem Wikimedia Summit 2024

Im Mittelpunkt stand auf dem Summit die gemeinsame Arbeit an der sogenannten Movement Charta. Um was für ein Dokument handelt es sich dabei?

Die Charta ist ein grundlegendes Dokument für die Zukunft unseres Movements, das von einem Komitee aus Ehrenamtlichen und Mitarbeitenden der Wikimedia-Organisationen erarbeitet wird. Sie definiert das Rahmenwerk, die Werte, Prinzipien und Kriterien für Entscheidungen und Prozesse im Movement. Ein zentraler Aspekt ist die Etablierung eines Global Council, einem globalen Rat, der Entscheidungen treffen und das Movement mit all den Ehrenamtlichen und Wikimedianer*innen repräsentieren soll. Die Charta legt auch fest, dass Entscheidungen, die nicht global getroffen werden müssen, auf lokale oder regionale Ebenen übertragen werden können.

Welches waren zum Ende der Veranstaltung die wichtigsten erarbeiteten Inhalte bzw. Entwicklungen zur Charta?

Wir haben auf dem Wikimedia Summit mit 170 Teilnehmer*innen und drei Tagen langer intensiver Arbeit tatsächlich handfeste Ergebnisse erzielt, sodass man auch sieht, wow, die Mühe hat sich gelohnt! Es wurde eine beeindruckende Einigkeit erzielt, die sich in 46 breit unterstützten Charta-Statements widerspiegelt. Das Movement Charter Drafting Committee wird diese Statements sowie das Feedback aus den nicht-anwesenden Communitys prüfen und teilweise in die finale Version der Charta einfließen lassen. Zusätzlich zur Charta-Erstellung ist auf dem Summit auch die Gründung einer Gruppe gelungen, die ein neues Konzept für zukünftige Treffen der Wikimedia-Organisationen entwickeln wird. Wir haben viele Jahre lang als Wikimedia Deutschland den Summit ausgerichtet und wollen diese Verantwortung weitergeben, damit die Diversität des Movements besser repräsentiert wird.

Was motiviert euch zu diesem Schritt?

Da wir in unserer Movement-Strategie Prinzipien wie Zugang, Partizipation und Gerechtigkeit verankert haben, passt die Veranstaltung, wie sie bisher durchgeführt wurde, nicht mehr dazu. Bislang wurden Entscheidungen über Themen, Zahl der Teilnehmer*innen, Programmgestaltung und Outputs letztendlich von Wikimedia Deutschland und in Absprache mit der Wikimedia Foundation getroffen, ohne ausreichende Beteiligung der anderen Affiliates oder Community. Wenn wir unsere Entscheidungsstrukturen gleichberechtigter gestalten wollen, gehört die Ausrichtung und Planung von Arbeitstreffen konsequenterweise auch dazu.

Inwieweit haben die Aktivitäten des Wikimedia Movements eine Auswirkung auf die Wissensgerechtigkeit weltweit?

Unsere Vision ist ein globales Wissen, das nicht von Machtstrukturen und Privilegien geprägt ist, sondern von einer breiten Palette an Stimmen und Erfahrungen. Wenn wir es schaffen, ein gerechteres Movement aufzubauen, können wir nicht nur bisher marginalisierte Communitys stärken, sondern auch unsere eigene Offenheit und Vielfalt erweitern. Diese Veränderungen sind nicht nur für das Movement wichtig, sondern haben das Potenzial, die gesamte Welt zu bereichern und zu verbessern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Wikimedia Summit 2024: Das Movement Charter Drafting Committee stellt sich vor
Wikimedia Summit 2024: Das Movement Charter Drafting Committee stellt sich vor

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