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Wikimedia & Wikipedia in der Ukraine

Zwischen Krieg und Alltag

Am 24. Februar 2024 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zum zweiten Mal. Anton Protsiuk, Programmkoordinator bei Wikimedia Ukraine (WMUA), erzählt im Interview, an welchen Projekten die Organisation momentan arbeitet, welche Rolle der Kampf gegen Desinformation spielt - und welche besonderen Jubiläen in diesem Jahr anstehen.
Anton Protsiuk spricht bei der Wikimania Singapore

Patrick Wildermann

24. Februar 2024

Anton, unter welchen Bedingungen arbeitet Wikimedia Ukraine aktuell?

Anton Protsiuk: In Kyiv, wo wir unser Büro haben, ist die Situation ein bisschen zwiespältig. Einerseits arbeiten wir nach wie vor unter Kriegsbedingungen, was bedeutet, dass es regelmäßig russische Raketen- und Drohnenangriffe gibt. Erst kürzlich wurde unser Büro von einem Raketeneinschlag in der Nähe in Mitleidenschaft gezogen, glücklicherweise ist nur ein Fenster zu Bruch gegangen, niemand wurde verletzt. Der Krieg ist Realität. Andererseits gibt es auch eine Art Rückkehr zum Alltag, die Menschen haben sich, so weit es eben möglich ist, mit der Situation arrangiert, gehen zur Arbeit.

Wie sieht der Büroalltag bei WMUA aus? Ist das Kernteam der Organisation zusammen geblieben?

Unser Büro ist klein, wir sind in einem Co-Working-Space in Kyiv untergekommen, von wo aus ich auch gerade dieses Gespräch führe. Wir brauchen aber auch nicht viel Platz, unser Kernteam, das geblieben ist, besteht aus sieben festen Mitarbeitenden, von denen wiederum weniger als die Hälfte in Kyiv leben. Wie bei anderen Wikimedia-Organisationen wird auch viel Arbeit von einem größeren Netz aus Freiwilligen geleistet, die uns bei unseren Projekten unterstützen, vor allem remote. Da reden wir von ein paar Dutzend engagierten Leuten, von denen viele fast täglich involviert sind. Die meisten der Menschen, mit denen wir vor Beginn der russischen Vollinvasion gearbeitet haben, sind nach wie vor an Bord, aber natürlich hat der Krieg auch hier Auswirkungen.

Was meinst Du konkret?

Manche haben die Ukraine verlassen und sind bis jetzt nicht zurückgekehrt, vor allem Menschen mit kleinen Kindern. Andere haben sich zur Armee gemeldet. Gerade jetzt gehen wieder viele an die Front, um diejenigen abzulösen, die schon so lange kämpfen. Bei WMUA fokussieren wir uns aber natürlich nicht nur auf den Krieg, wir haben Programme wieder aufgenommen und teilweise sogar ausgebaut, die wir vor dem 24. Feburar 2022 gestartet hatten. Wir halten Konferenzen ab, veranstalten Community-Treffen.

Welche Projekte haben momentan Priorität?

Wir haben vor dem Angriffskrieg eine Reihe von Zielen definiert, die noch immer Bestand haben – darunter Kampagnen oder Artikel-Wettbewerbe zu organisieren, die helfen, die Wikipedia und andere Wikimedia-Projekte anzureichern, neue Freiwillige für die Wikimedia-Projekte zu gewinnen, besonders aus unterrepräsentierten Communitys, und unsere bestehende Community zu unterstützen. Auf der Liste steht auch der Punkt „Advocacy“, bei dem es darum geht, Gesetzesinitiativen in der Ukraine anzustoßen, die dem Freien Wissen dienen. Zum Beispiel setzen wir uns für Panoramafreiheit ein. Allerdings hat das im Moment keine Priorität. Die ukrainischen Politiker haben gerade andere Sorgen.

Welche Veranstaltungen plant ihr gerade?

Eins unserer Standbeine ist der Fotowettbewerb „Wiki Loves Earth“ (WLE) rund um Naturerbe, den wir sowohl international als auch für die Ukraine ausrichten. Ebenso laden wir zu „Wiki Loves Monuments“ (WLM) ein – zwar nur national, aber die ukrainische WLM-Ausgabe ist eine der größten weltweit. Außerdem laufen die Planungen für unsere jährliche Wiki-Konferenz, die eine besondere wird: Wir feiern in diesem Jahr den 20. Geburtstag der ukrainischen Wikipedia, ein Anlass, zu dem die gesamte Community zusammenkommt, wenn auch nur hybrid. Alle Menschen in einem Raum zu versammeln, wäre nicht sicher. Schon im vergangenen Jahr haben wir eine Serie von kleineren Meet-ups und auch die Wiki-Konferenz an verschiedenen Orten der Ukraine abgehalten, sowohl virtuell, als auch analog teilweise in Schutzräumen, nur für den Fall, dass irgendetwas passiert.

Wie unterstützt ihr die Community?

Zu Beginn der russischen Vollinvasion, in der schwierigsten Zeit, haben wir der Community geholfen, konkrete materielle Hilfe zu finden. Inzwischen hat sich die Situation stabilisiert, es gibt mehr staatliche Stellen, die Unterstützung leisten. Wir fokussieren uns deswegen wieder mehr auf unsere Kernmission, Freies Wissen zu fördern. Zum Beispiel mit unserer jährlichen „Wiki Science Competition“, die ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützt, oder mit unserem „Wiki Education Program“, das sich an Erziehende und Pädagogen richtet. Hier bieten wir Community-Mitgliedern zum Beispiel Trainings zu Themen wie Desinformation an, dazu hatten wir eine Reihe von Webinaren.

Haben die Freiwilligen mittlerweile wieder mehr Zeit, sich in den Wikimedia-Projekten zu engagieren?

Das kommt darauf an. Um Dir ein konkretes Beispiel zu geben: Die Preisverleihung für die „Wiki Science Competition“ wollen wir hybrid abhalten, analog und online, weswegen ich zuletzt viel mit den Planungen beschäftigt war, wie sich der Livestream am besten umsetzen lässt. Zuvor haben uns dabei zwei Mitglieder der Community unterstützt – aber beide können diesmal nicht teilnehmen, weil sie sich den ukrainischen Streitkräften angeschlossen haben. Deswegen müssen wir jetzt nach anderen Menschen mit entsprechendem technischen Knowhow suchen. Nur ein kleines Beispiel unter vielen.

Wikimedia Russland musste am 19. Dezember 2023 aufgelöst werden. Seid ihr in Kontakt mit ehemaligen Mitarbeitenden des Chapters? Bestehen generell Verbindungen zu Wikimedianer*innen oder user groups, die in ihren Ländern unter Risiko arbeiten, zum Beispiel in Belarus?

Nein, Wikimedia Ukraine steht als Organisation nicht in Kontakt mit Wikimedians aus Russland oder Belarus, wir arbeiten auch nicht an diesem Thema. Ich persönlich habe Empathie für alle Wikimedians, die Verfolgung ausgesetzt sind, egal, in welchen Ländern – aber gleichzeitig verfügen wir nur über begrenzte Zeit und Energien. Diese Ressourcen wollen wir lieber dafür einsetzen, ukrainische Wikimedians zu unterstützen. Natürlich verfolgen wir, was in Russland vorgeht, ein Vorfall wie die Auflösung des russischen Chapters ist auch für ukrainische Journalisten ein Thema. Und es gibt einzelne ukrainische Wikimedians, die Kontakte unterhalten. Aber für uns als Organisation hat die Ukraine Priorität.

Welchen Stellenwert nimmt der Kampf gegen Propaganda und Desinformation aktuell ein?

Ein Beispiel: Der Messenger-Dienst Telegram ist in der Ukraine auch ein großes Newsportal, ähnlich wie Facebook oder andere Plattformen. Gerade deswegen ist es wichtig, ein grundlegendes Verständnis dafür zu haben, wie Nachrichten dort kuratiert werden, was vertrauenswürdig ist und was nicht. Dazu haben wir ein Training für die Community angeboten. Schließlich betrifft das Thema mehr oder weniger direkt die Wikipedia: Es geht darum, was als Quelle für Wikipedia dienen kann. Und zugleich reden wir über einen größeren Kontext von Informationskompetenz generell.

Wo konnten Erfolge erzielt werden?

Die ukrainische Wikipedia-Community mit ihren Hunderten Freiwilligen war und ist sehr erfolgreich darin, Desinformation zu bekämpfen und Barrieren gegen Fake News zu errichten. Die Artikel werden fortlaufend gecheckt, ehrenamtliche Administratoren helfen dabei, die Inhalte zu überwachen. In Kriegszeiten sind zusätzliche Administratoren angeworben worden, nach einem viel simpleren Community-Prozedere als sonst – einfach, um flexibler darin zu sein, Falschinformation und Vandalismus abzuwehren. Es wird also viel unternommen, sowohl von der Community, als auch von uns als Organisation.

Was ist ein Beispiel für Desinformation?

Da gibt es eine breite Spanne. Angefangen bei simplem Vandalismus, wo Leute versuchen, Informationen aus Wikipedia-Artikeln zu entfernen oder falsche Behauptungen hinzuzufügen. Das lässt sich relativ leicht erkennen und beheben, das ist nicht das größte Problem. Schwieriger wird es dort, wo die Ukraine noch immer durch eine neokoloniale Linse betrachtet wird – als Teil der früheren Sowjetunion und des russischen Reichs. Das ist oft in kleineren Sprachausgaben der Wikipedia der Fall. Bestimmte Personen, die eigentlich aus der Ukraine stammen, werden dort als Russen bezeichnet. Das ist im klassischen Sinne keine Desinformation, aber dennoch ein verzerrtes Bild. Auch deswegen beschränken wir uns nicht darauf, gegen Falschinformationen vorzugehen…

Sondern?

Wir bemühen uns, generell mehr verlässliche Informationen über die Ukraine in anderen Sprachversionen zugänglich zu machen. Die englische Wikipedia ist diesbezüglich gut entwickelt, die deutsche zählt zu den besten überhaupt – aber es gibt ja insgesamt über 300 Sprachausgaben. Wir versuchen, zum Beispiel in der georgischen oder slowakischen Wikipedia Artikel über die Ukraine zu fördern – unter anderem mit unserer jährlichen Kampagne „Cultural Diplomacy Month“, bei dem wir Artikel über alle möglichen Themen rund um ukrainische Kultur anregen.

Welche Rolle spielt der 24. Februar für euch? Sind irgendwelche Aktionen geplant?

Nein, nicht speziell zum 24. Februar. Es gibt andere wichtige Daten, die sich 2024 jähren und auf die wir uns fokussieren. Wir blicken zurück auf zehn Jahre des russischen Kriegs gegen die Ukraine, denn dieser Krieg begann 2014 mit der Annexion der Krim. Und ebenfalls jährt sich zum zehnten Mal die Maidan-Revolution, die mit der Forderung nach demokratischen Reformen in der Ukraine viele Entwicklungen angestoßen hat. Rund 100 Menschen haben während der Proteste ihr Leben verloren, darunter der ukrainische Wikipedianer Ihor Kostenko. Er wurde 2014 noch posthum als „Wikimedian of the Year“ von Jimmy Wales ausgezeichnet, dem Gründer der Wikipedia. Wir wollen versuchen, seinen zehnten Todestag entsprechend zu ehren.

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