zurück

Rückblick

Gesprächsrunde zur Sichtbarkeit queerer Geschichte im Internet

Mitte Mai hat im Rahmen der Queering Wikipedia Conference und dem Queer History Month die Gesprächsrunde Trotz allem (?) Zur Sichtbarkeit queerer Geschichte im Internet stattgefunden. Gemeinsam mit dem Spinnboden Lesbenarchiv & Bibliothek und der LGBT+ User Group hat Wikimedia Deutschland Akteur*innen der Wikipedia und aus queeren Archiven Berlins zu einer Diskussion eingeladen. 

Cin Pietschmann

17. August 2023

Als lokales Event der internationalen und online ausgerichteten Queering Wikipedia Conference, die am 12., 14. und 17. Mai 2023 durch die globale LGBT+ User Group veranstaltet wurde, wollten wir in der Runde die Sichtbarkeit queerer Geschichte im deutschsprachigen Raum thematisieren. Hierzu haben wir mit Giuseppina Lettieri vom  Spinnboden Lesbenarchiv & Bibliothek, wo sich seit Anfang 2023 der Queer History Month in neuer Trägerschaft befindet, zusammengearbeitet, um die Arbeit und Perspektiven von queeren Archiven in den Fokus zu nehmen.

Diskutiert haben Thao Ho, die derzeit an der HU Berlin im Forschungsprojekt Tales of the Diasporic Ordinary promoviert und am Schwulen Museum als wissenschaftliche Volontärin gearbeitet hat, Lisa Schug, die seit 2015 in Freien Archiven arbeitet und aktuell im feministischen Archiv FFBIZ ein Projekt des Digitalen Deutschen Frauenarchivs umsetzt, Wikipedianerin Grizma, die seit 2015 bei der überregionalen Frauenschreibgruppe WomenEdit aktiv und Mitgründerin des feministischen Netzwerks FemNetz in der Wikipedia ist, und Orlando Meier-Brix, freier Bildungsreferent, Dozent und Guide im Schwulen Museum. Moderiert wurde die Gesprächsrunde durch Wikipedianer Thomas Schallhart, der die verschiedenen Erzähl- und Diskussionsstränge gekonnt zusammenführte und selbst viel Erfahrung in der Arbeit zu queerer Geschichte mitbringt.

Raum für queere Geschichte – aber wessen Geschichte?

Queere Geschichte wird vor allem in Freien Archiven, auch Bewegungsarchive genannt, dokumentiert und bewahrt, wodurch die Archivmaterialien und ihre Archive eine prekäre Position einnehmen. Im Verlaufe der Gesprächsrunde schilderte Thao Ho eindrücklich die eigene Forschung innerhalb der Archivbestände und Auseinandersetzung mit alternativen Archivpraktiken. Sie betonte, dass sowohl Besucher*innen der Archive, als auch die Archive selbst, sich die Frage stellen müssen, wer queere Archive überhaupt als eigenen Raum erachtet, wer dort Raum einnimmt und für wen diese Archive, ihre Materialien und deren Sichtbarmachung Empowerment bedeuten können. Lisa Schug verdeutlichte, dass die Digitalisierung von Inhalten zur Erhöhung der Sichtbarkeit queerer Geschichte im Internet mit großem Arbeitsaufwand verbunden ist. So müssten die Archive vor der Digitalisierung zunächst identifizieren, welche Inhalte überhaupt digitalisiert werden können und welche nicht – seien es Fragen des Urheber*innenrechts oder ob die Inhalte besonderen Schutz brauchen – und sich die Zeit nehmen, herauszufinden, welche Geschichten und Stimmen in dem eigenen Archiv fehlen und warum. Wikipedianerin Grizma sah hier starke Parallelen zur Arbeit in der Wikipedia. Ihrer Ansicht nach gibt es bei beiden deutliche Lücken und Leerstellen in Bezug auf queere Geschichte, bei denen hinterfragt werden muss, wessen Geschichte(n) im Internet Raum einnehmen (können) und welche nicht.

Brücken vom Analogen ins Digitale

Die Akteur*innen aus der Archivwelt empfanden auch, dass gerade analoge Archivmaterialien eine Möglichkeit bieten, eine starke persönliche Verbindung zu der eigenen queeren Geschichte und Biografie aufzubauen. Den reinen Digitalisierungsprozess von Materialien zu queerer Geschichte als umfassende Lösung, um im Internet mehr Sichtbarkeit zu erlangen, ohne die Möglichkeit eines persönlichen Selbstbezugs, erachten sie als unzureichend. Wie Archive als Orte des eigenen Forschens und Entdeckens erhalten bleiben können – besonders für jüngere Menschen – ist aus der Sicht der Gäste der Gesprächsrunde genauso wichtig wie Sichtbarkeit im digitalen Raum zu schaffen. 

Wikipedianerin Grizma fand eine weitere Parallele zwischen der Wikipedia und Freien Archiven beim Thema Kategorisierung. Lisa Schug berichtete zunächst davon, dass es im Digitalisierungsprozess queerer Archivmaterialien oftmals Schwierigkeiten gäbe, mit harten Kategorien arbeiten zu müssen und es in einem technisch-digitalen Raum herausfordernd sein könne, dennoch außerhalb von Kategorien arbeiten zu wollen. Grizma schloss daran an und berichtete, dass Kategorisierung auch ein schwieriges Thema in der Wikipedia darstelle. Anfangs, so Grizma, waren Kategorien zum Großteil im generischen Maskulinum angelegt und es gab nur die Möglichkeit der binärgeschlechtlichen Differenzierung zwischen Frau und Mann. Infolge von Gemeinschaftsprozessen wurden diese jedoch erweitert, sodass mittlerweile auch Artikel zu nicht-binären, intergeschlechtlichen und transgender Personen eine eigene, angemessene Kategorisierung aufweisen. Diese Kategorisierungsmöglichkeiten weisen laut Grizma abermals eigene Problematiken auf: Wo die verschiedenen Kategorisierungen für manche trans und inter Menschen endlich eine korrekte Darstellung und Einordnung bedeuten können, bergen sie wiederum für andere die Gefahr eines öffentlichen Outings via Wikipedia, da sie diese Information eigentlich gar nicht mit der breiten Öffentlichkeit teilen möchten oder können. Aus diesem Grund sei von Seiten der Wikipedia-Community ein hohes Maß an Sensibilität im Umgang mit den Kategorien gefragt.

Orlando Meier-Brix plädierte in der Gesprächsrunde dafür, kreative und alternative Wege zu finden, um queere Geschichte sichtbar zu machen. So hat er 2022 zusammen mit Joy Reißner den Sammelband „tin*stories“ herausgegeben, da sowohl die analoge als auch die digitale Dokumentation von trans-, inter- und nicht-binärer Geschichte zumeist nur auf Englisch erhältlich sei und sich überwiegend auf den US-Raum konzentriere. Es bestehe also eine große Chance, mit analogen und digitalen Formaten gleichermaßen zu zeigen, was es an queerer Geschichte in Deutschland zu entdecken gibt und darauf neugierig zu machen. Thao Ho sieht auch oral history als eine Möglichkeit, queere Geschichte sichtbarer zu machen und plant, Zeitzeug*inneninterviews, die im Rahmen der eigenen Dissertation entstehen, auch online zu veröffentlichen. 

Kollaborative Wissensreproduktion und unsichtbare Arbeit

Orlando Meier-Brix berichtete weiterhin, wie er in der eigenen universitären Lehre Wikipedia-Artikel zu queerer Geschichte und Persönlichkeiten als Lektüre nutzt, da die Wikipedia hier der Hochschulliteratur thematisch um einiges voraus ist. Ihm zufolge wirft dies ein Hinterfragen des akademischen Quellenstandards auf. Kann weiterhin gesagt werden, dass akademischen Quellen immer mehr Relevanz beigemessen werden soll als alternativen Quellen? 

Die Anerkennung hochwertiger alternativer Quellen ist, laut Orlando Meier-Brix, auch eine Wertschätzung der Arbeit der Freiwilligen, die dahinter steckt. Auch hier tun sich starke Parallelen zwischen der Arbeit in der Wikipedia und in Archiven auf, denn die Wissensreproduktion wird im großen Maße von Freiwilligen gestemmt und gepflegt. Oft sind es Freiwillige, die sich um Wissensbestände, zu denen sie ein besonders starkes Interesse oder einen persönlichen Bezug haben, kümmern. Hier betonte Thao Ho auch noch einmal, wie bemerkenswert es eigentlich sei, Wissen für andere zugänglich zu machen. 

Wikipedianer Thomas Schallhart in der Moderation machte zudem im Gesprächsverlauf auch darauf aufmerksam, dass die Arbeit in der Wikipedia und ihrer Community auch mit vielen Werten und Praktiken der queeren Community übereinkommt: Gemeinsamen kollaborativer Arbeit, das Prinzip der Commons, Ehrenamt statt Profit und das Schaffen und Bewahren von Zugänglichkeit zu Wissensbeständen und anderen Ressourcen. Orlando Meier-Brix erinnerte dieser Vergleich treffenderweise an eine Anekdote zur Zeitschrift „Das 3. Geschlecht, die in den frühen 1930ern erschien. Die Zeitschrift, die sich als erste ihrer Art mit Themen und Personen außerhalb des binären Geschlechtersystems beschäftige, erfreute sich innerhalb der queeren Community großer Beliebtheit, jedoch ärgerte es Verleger Friedrich Radszuweit zunehmend, dass trotz der Beliebtheit nicht zwangsläufig mehr Stückzahlen verkauft wurden: Die Zeitschrift – und damit ihre Inhalte und Wissen – wurde vielfach untereinander getauscht und ausgeliehen, um möglichst vielen Menschen Zugang dazu zu verschaffen. Das Teilen von Wissen hat also (auch) historische Wurzeln in der queeren Community und ihrer Geschichte.

Trotz allem? Trotz allem!

Wenn wir über die Sichtbarkeit queerer Geschichte im Internet reden, können wir also nicht einfach schließen, dass mehr Archivmaterial digitalisiert werden muss. Vielmehr muss sowohl im Analogen als auch im Digitalen eine stetige Exploration und Aushandlung stattfinden, welcher Geschichte Raum gegeben wird und welche Leerstellen und Bedarfe an Wissensproduktion und Sichtbarmachung bestehen. Diese Arbeit kann aber nicht nur bei Freiwilligen liegen, sondern bedarf der Zusammenarbeit mit Expert*innen, mit denen ein Raum des gegenseitigen Lernens für Wissenspraktiken geschaffen werden kann. Mit „Trotz allem (?)“ stellte der Titel der Gesprächsrunde zu Beginn die Frage in den Raum, ob queere Geschichte wider aller Barrieren im Internet sichtbarer sein kann. Die Antwort hierauf ist ein klares „Ja“ – doch im Laufe des Gespräches zeigte sich auch, dass es eben nicht den einen Weg gibt, um allen Perspektiven queerer Geschichte gerecht zu werden. Queerer Geschichte mehr Sichtbarkeit einzuräumen, hängt immer auch mit einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit der An- und Abwesenheit verschiedener Lebensgeschichten, sowie der eigenen Positionierung dazu, zusammen. Zum Ende wird „Trotz allem“ also ein Ausdruck der Aufforderung und des Zuspruchs für die komplexe Realität, die eine intersektionale Wissensreproduktion queerer Geschichte innehält. Es wird auch nicht nur einen Weg oder ein Format geben, das allen queeren Geschichten gerecht werden kann, und das muss es auch nicht. 

Das mag nun weniger geradlinig und bisweilen etwas chaotisch klingen – aber um zum Schluss noch einmal Thao Ho aus der Gesprächsrunde zu zitieren: „Chaos gehört zu Queerness dazu“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert