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Wikimedia & Wikipedia in der Ukraine

Erfahrungen und Perspektive der ukrainischen Wikimedia-Community

Vor einem Jahr begann Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. In beiden Ländern setzen sich seither mutige Wikipedia-Ehrenamtliche dafür ein, dass die Menschen weiterhin Zugang zu neutralen und zuverlässigen Informationen haben. Einer von ihnen ist Serhii Petrov, ein ausgebildeter Historiker aus Charkiw. Wir sprechen mit ihm über die Erfahrungen und Perspektive der ukrainischen Wikimedia-Community in Zeiten des Krieges.

Oksana Rodikova

Patrick Wildermann (freier Autor)

24. Februar 2023

Serhii Petrov hat die ostukrainische Metropole Charkiw selbst zum ersten Mal im Frühjahr 2021 besucht und als lebendige, junge Stadt erlebt. Zum Zeitpunkt des Interviews herrschte dort Luftalarm. Laut Statistik entfallen auf die Region Charkiw 17 % des gesamten russischen Beschusses der Ukraine. 

Serhii, wie sind Sie mit Wikimedia und der Wikimedia-Community in Kontakt gekommen?  

Bis zum 24. Februar 2022 habe ich als Content Manager in einem kleinen Unternehmen in Charkiw gearbeitet. Außerdem engagiere ich mich als Aktivist, in den Jahren 2013, 2014 war ich einer der Koordinatoren des Euromaidan in Charkiw. Zur Wikipedia trage ich seit Mai 2009 bei – was ursprünglich den korrupten Charkiwer Politikern Hennadii Kernes und Michail Dopkin zu verdanken ist (Kernes starb im Dezember 2020 an einer COVID-Erkrankung – Anm. d. Verf.). Ersterer war Sekretär des Stadtrats von Charkiw, der zweite unser damaliger Bürgermeister. Die beiden hatten beschlossen, eine wichtige Straßenbahnlinie im Zentrum Charkiws abzuschaffen, wogegen sich öffentliche Proteste regten. Im Zuge dieser Auseinandersetzung habe ich mich bei Wikipedia angemeldet und meinen ersten Artikel über die Straßenbahn in Charkiw geschrieben. Durchaus im Bemühen, die Situation neutral darzustellen.  

In der Folge war ich eher Beobachter der Wikipedia, bis ich mich 2011 wieder stärker engagiert habe. Im gleichen Jahr wurde ich auch in den Vorstand von Wikimedia Ukraine gewählt, als Vertreter der Region Charkiw. Damals überschritt die ukrainische Wikipedia gerade die Marke von 300.000 Artikeln. Ende 2011 habe ich damit begonnen, interessierten Anfängerinnen und Anfängern beizubringen, wie sie die Wikipedia bearbeiten können – möglichst fehlerfrei.

Ist die Region Charkiw noch immer Ihr Hauptthema in der Wikipedia?

Charkiw ist meine Heimatregion, ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich lebe heute noch dort. Meine erste Sprache war Russisch, erst 2007, als ich mit 18 Jahren eine sehr bewusste Entscheidung treffen konnte, bin ich ins Ukrainische gewechselt. Das ist seitdem die Sprache, in der ich denke, die ich ausschließlich spreche – und in der ich mich auch in den Wikimedia-Projekten engagiere. Allerdings schreibe ich heute nicht mehr so viele Artikel. Ich habe mich auf zwei Felder spezialisiert: zum einen überwache ich als eine Art Wikipedia-Polizist, dass es keine Verstöße gegen das Urheberrecht und die Community-Regeln gibt. Zum anderen arbeite ich in Mediensammlung Wikimedia Commons an der Kategorisierung von Bildern.

Wie ist die Situation gegenwärtig in Charkiw? Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?

Nur für den Kontext: während wir sprechen, findet gerade ein Luftangriff auf Charkiw statt, im Hintergrund heulen die Sirenen – aber daran sind wir hier mittlerweile gewöhnt. Der große Angriff Russlands hat mich persönlich auch nicht überrascht. Den Anstrengungen des vormaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschko (der von 2014 bis 2019 regiert hat, Anm. d. Verf.) haben wir es zu verdanken, dass der Krieg bis dato auf bestimmte Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk begrenzt blieb. Als Analyst der NGO „Analytical Center Maidan Monitoring“ habe ich mich aber schon früh mit verschiedenen Szenarien befasst, wie Russland versuchen könnte, die Ukraine entweder in einen Satellitenstaat wie Belarus zu verwandeln, oder in einen föderalen Bezirk seines eigenes Territoriums. Es war klar, dass dieser Krieg kommen würde. Die Frage war nur, wann. Bereits in der Nacht zum 24. Februar bin ich in dem Wissen eingeschlafen, dass die Start- und Landebahnen der Flughäfen von Charkiw und Dnipro gesperrt waren und der russische Luftraum entlang der Grenze zur Ukraine zur Flugverbotszone erklärt worden war. Mir war klar, dass etwas passieren würde. 

Um 5 Uhr morgens bin ich in meiner Wohnung am Stadtrand in Saltovka Nord aufgewacht. Von dort sind es bis Russland kaum 30 Kilometer. Bereits gegen 7 Uhr morgens waren in Charkiw Explosionen zu hören, die ukrainischen Truppen trafen vor Charkiw auf die Russen, und am Ende des Tages verlief die Kontaktlinie entlang der Ringstraße, zwei Kilometer von meinem Haus entfernt. Zunächst habe ich die Situation hauptsächlich beobachtet, später beschloss ich, in einen anderen Teil von Charkiw zu ziehen. Die Stadt zu verlassen, kam für mich nicht infrage, weil ich auf jede erdenkliche Weise helfen wollte. In der Folge musste ich mehrere Male die Wohnung wechseln, teilweise hatten wir keinen Strom und keine Heizung, es gab Probleme mit der Wasserversorgung.  

War unter diesen Umständen an Arbeit zu denken? 

Unsere NGO „Analytical Center Maidan Monitoring“ wurde von den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden um Unterstützung dabei gebeten, per Foto und Video die Zerstörung der zivilen Infrastruktur zu dokumentieren. Mit Journalistenausweisen und kugelsicheren Westen ausgestattet, waren wir fast zwei Monate lang jeden Tag unterwegs.

Vom ersten Tag an war mein Entschluss, über die Angriffe auf Charkiw zu berichten. Ich wollte gegen die Desinformation angehen, dass die Stadt kapituliert habe. Tatsächlich hat sie sich aufopferungsvoll verteidigt. Ich muss gestehen, dass mich diese beinahe täglichen Fahrten zu den Stätten der Zerstörung sehr erschöpft haben, in der Folge litt ich unter einem posttraumatischen Syndrom. Aber es war wichtige Arbeit. Auf der Grundlage unserer Dokumentation konnten wir einen umfangreichen Bericht über die Auswirkungen des russischen Raketenterrors in Charkiw erstellen. Bis zum August 2022 haben wir eine Ausstellung über das zerstörte Charkiw mit dem Titel „Fracture” erarbeitet, die Ende des Monats in Prag und anschließend in der ukrainischen Stadt Berezhany sowie im Schloss Zbarazh in der gleichnamigen Region präsentiert wurde. 

Können Sie schätzen, wie viele Fotos Sie gemacht haben? 

Schwer zu sagen. Anfang April hatten wir etwa 150 Objekte dokumentiert, Ende August wohl um die 450 – jeweils mit einer Vielzahl von Fotos. Dazu gehören Krankenhäuser, Kraftwerke, Gaspipelines, Verkehrsstationen, Bildungseinrichtungen, Lagerhäuser und Wohngebäude. In Charkiw wurden beispielsweise mehr als 50 medizinische Einrichtungen beschädigt. Dabei  war die Stadt für die Russen nie von großer Bedeutung, es ging ihnen eher darum, die gesamte Region so unbewohnbar wie möglich zu machen. Momentan setzen wir unsere Arbeit fort und erfassen jetzt Städte wie Izyum, wo vor dem Krieg über 50.000 Menschen gelebt haben. Jetzt sind es 15.000. Allerdings kehren viele zurück, obwohl die Gegend stark vermint ist und die Zerstörung mehr als 70 Prozent beträgt. Die größte Frage ist nun, was im Winter passieren wird. Sämtliche Wärmekraftwerke sind beschädigt, und es ist nicht vorauszusehen, wie die Versorgungslage sich entwickeln wird. 

Wann haben Sie nach der Invasion zum ersten Mal mit der Wikimedia-Community Kontakt aufgenommen? 

Ich stehe seit dem Morgen des 24. Februar in Kontakt mit den Ehrenamtlichen. Wir haben einen separaten Chat mit Wikipedianern eingerichtet, die nicht offline gegangen sind und die sich nicht hinter Pseudonymen verbergen, über den wir kommunizieren. Es gab online auch  regelmäßige Wiki-Treffen. Zwei Drittel der Charkiwer Community haben die Stadt verlassen, zum Teil in Richtung Westukraine, und die meisten von ihnen werden nicht zurückkehren. Vermutlich niemand, ihre Häuser sind zerstört. 

Ich selbst versuche seit Kriegsbeginn, nach bestem Wissen und Gewissen zu editieren. Seit dem Sommer 2022 noch aktiver, ich komme auf mehr als 100 Edits pro Monat. Ich bearbeite Artikel und lade viele meiner Fotos auf Wiki Commons hoch, was ich noch forcieren möchte. Während Charkiw unter ständigem Beschuss stand, hielt ich es nicht für ratsam, Bilder zu veröffentlichen. Das hätte zusätzliche Gefahren und Risiken mit sich gebracht, weil die Russen darüber eventuell Ziele hätten identifizieren können, die sie noch nicht getroffen hatten. Mittlerweile ist diese Bedrohung geringer. 

Ist die Wikimedia-Community in Charkiw im Zusammenhang mit den Wiki-Treffen und der steigenden Nachfrage nach Informationen in der Gesellschaft gewachsen?

Auch das weiß ich nicht mit Sicherheit. In den ersten Monaten nach dem 24. Februar ging es hauptsächlich darum, dafür zu sorgen, dass alle überleben und die bestehende Community nach besten Kräften unterstützt wird. Erst im Sommer haben wir wieder begonnen, über die Weiterentwicklung von einigen unserer Projekte nachzudenken. Wie beispielsweise den Wettbewerb “WikiKharkivshchyna”, den wir zwischen 2018 und 2020 veranstaltet haben. Die Zielgruppe waren Mitarbeitende von Bibliotheken. Aufgrund von verschiedenen bürokratischen Hindernissen und niedrigen Gehältern sind viele Mitarbeitende von Archiven, Bibliotheken und Museen nicht motiviert genug, zur Wikipedia beizutragen. Das wollten wir mit “WikiKharkivshchyna” ändern, und daran würden wir gerne anknüpfen. Die Frage ist allerdings, ob wir Strom haben werden. 

Unterhalten Sie derzeit Partnerschaften mit anderen Organisationen?

Am stabilsten waren und sind unsere Beziehungen zur regionalen wissenschaftlichen Bibliothek in Charkiw. Ich habe ein gutes Verhältnis zum Direktor dieser Einrichtung. Allerdings sind konkrete gemeinsame Projekte derzeit nicht spruchreif. Wir arbeiten auch mit einer weiteren Bibliothek in Charkiw zusammen, bei der mittlerweile ein Mitglied der Wikipedia-Community angestellt ist. Das Befüllen der Wikipedia gehört dort zu seinen Aufgaben. 

Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus? 

Das Gute ist ja, dass wir in Charkiw mittlerweile überhaupt wieder über die Zukunft sprechen! Natürlich wünschen wir uns, dass wir bis Ende 2023 den Sieg erringen können – das bedeutet für mich den Abzug der Russen aus allen nach dem 24. Februar besetzten Gebieten. Sollte es so kommen, wäre wiederum unsere Analyse und Dokumentation gefragt. Mal sehen. Momentan plane ich eine Reihe von Webinaren – als Vorbereitung für die Teilnahme an Wikimedia-Projekten wie dem Wikimarathon. 

Interview: Oksana Rodikova

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