„Wir machen communityzentrierte Softwareentwicklung“ – das Projekt Technische Wünsche optimiert seit 10 Jahren die Software hinter Wikipedia
Hanna Klein
5. Dezember 2023
Gemeinsam mit dem Wikipedianer Raymond, der hauptamtlichen Entwicklerin Svantje Lilienthal und Johanna Strodt, die bei Wikimedia Deutschland die Kommunikation zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen sicherstellt, blicken wir in diesem Interview auf 10 Jahre Technische Wünsche zurück.
Raymond, wie oft kommt es vor, dass du beim Bearbeiten der Wikipedia denkst: Mensch, dieses und jenes würde ich mir anders wünschen – das reiche ich bei der Umfrage ein!
Raymond: Das kommt schon immer mal wieder vor. Da ich ja auch ehrenamtlich an der Programmierung von MediaWiki beteiligt bin, schreibe ich allerdings dann eher einen Task im Phabricator.
Kannst du dich erinnern, wie die Projektidee entstanden ist und wie es zu der ersten Umfrage kam?
Raymond: Ja. Die Wikimedia Foundation hatte 2013 eine sehr frühe Version des visuellen Editors für die deutschsprachige Wikipedia freigeschaltet. Ich fand die Version schon OK zum Arbeiten, allerdings war die Community noch nicht zufrieden mit diesem, im Nachhinein zu Recht bemängelten, Softwarestand. Aus einem gewissen Frust über die „Meckerei“ der Community heraus erstellte ich die erste Umfrage und fragte sinngemäß „Ja, was für Wünsche habt ihr denn an die Programmierer*innen der Wikimedia Foundation?“. Diese Umfrage wurde sofort sehr gut angenommen und es kamen viele Wünsche zusammen.
Johanna, was war das Ergebnis der ersten Community-Umfrage und wie seid ihr dann weiter vorgegangen?
Johanna: In der allerersten Umfrage wurden gut 230 Verbesserungswünsche aus den unterschiedlichsten Bereichen eingereicht und zur Abstimmung gestellt. Damit war klar: Es gibt einen riesigen Bedarf, durch technische Verbesserungen die Arbeit der Ehrenamtlichen zu erleichtern. Wikimedia Deutschland ist schon kurz nach der Umfrage in das Projekt eingestiegen. Zunächst im kleineren Umfang, und ab 2015 dann mit einem richtigen Projektteam.
(Wie) hat sich danach der Workflow verfestigt?
Johanna: Als 2015 das offizielle Technische-Wünsche-Projekt startete, wollten wir erstmal wissen, wie Softwareentwicklung in den Wikis aussehen müsste, damit es nicht mehr so frustrierend ist. Wir haben mit Mitgliedern der deutschsprachigen Communitys ein Konzept erarbeitet, welches im Kern bis heute für unser Projekt gilt: Enge Zusammenarbeit mit den Wiki-Communitys, und nicht etwa nur mit technisch Interessierten, sondern idealerweise mit allen, die die Software in den Wikis nutzen. Ein Eckpfeiler unseres Projekts war und ist die Kommunikation, also zum Beispiel die technischen Themen verständlich zu vermitteln, transparent über unsere Arbeit zu berichten und generell ansprechbar zu sein.
Aber es haben sich auch Dinge geändert: Mittlerweile wird in den Umfragen zum Beispiel nicht mehr über einzelne Wünsche abgestimmt, sondern über größere Themenkomplexe. Mit denen beschäftigen wir uns dann längere Zeit und können so insgesamt mehr Probleme lösen.
In die Runde gefragt: Was sind eure persönlichen Highlights an Vorschlägen, die in all den Jahren gemacht wurden?
Raymond: Meine Highlights sind zwei Vorschläge, die auch beide umgesetzt wurden: einerseits das Verschieben von lokalen Dateien nach Commons. Und der Kartographer, eine Software, mit der man ziemlich einfach interaktive OpenStreetMap-Karten in Artikel einbinden kann. Mehr dazu in diesem Video.
Johanna: Der Kartographer ist auch eines meiner Highlights. 2022 konnten wir diese Software endlich auf der deutschsprachigen Wikipedia und vier weiteren Wikis zum Laufen bringen. Gerade die Abstimmung mit den Kolleg*innen der Wikimedia Foundation ist für uns als Projektteam einfacher als für ehrenamtliche Programmierer*innen. Wenn wir hier helfen können, finde ich das persönlich toll.
Ein weiterer Favorit ist der Wunsch rund um die Funktion kommentarlos zurücksetzen aus dem Jahr 2017. In der deutschsprachigen Wikipedia ist es nämlich so, dass man die Bearbeitungen einer anderen Person ziemlich einfach, mit nur einem Klick, zurücksetzen kann, sofern man gewisse Rechte hat. Leider hatte das zur Folge, dass Leute auch versehentlich die Beiträge anderer zurücksetzten. Das Absurde daran: Wenn man hingegen die Danke-Funktion im Wiki nutzen will, wird man erst gefragt, ob man sich wirklich sicher ist! Gewünscht wurde damals, auch fürs Zurücksetzen eine Sicherheitsabfrage zwischenzuschalten, und seit diese existiert, haben Admins spürbar weniger Aufwand damit, die Folgen versehentlicher Zurücksetzungen auszubügeln.
Svantje: Ich selbst bin erst seit drei Jahren dabei und habe mich im Team umgehört. Ein lustiges Beispiel in einer der ersten Umfragen war der Wunsch, Wikipedia schneller zu machen. Das ist natürlich erstmal nachvollziehbar, aber im Detail für uns schwer umzusetzen. Interessant finde ich, dass viele der alten Einreichungen inzwischen gelöst wurden. Da waren also bereits in der ersten Umfrage viele relevante Sachen dabei.
Mein persönliches Highlight ist auch die bereits erwähnte Arbeit mit Karten. Eine Funktion, an der wir in diesem Themenbereich gearbeitet haben, ist „Artikel in der Nähe anzeigen“. Das lässt sich auf Kartographer-Karten aktivieren und ist ein sehr hilfreiches Werkzeug.
Svantje, gab es mal einen besonders kniffligen Fall, auf den du stolz bist?
Svantje: Die Arbeit am Vorlagen-Dialog fand ich persönlich ziemlich herausfordernd: Die Benutzeroberfläche soll Vorlagen und ihre Parameter einfach nutzbar machen, aber die Vorlagen können an sich sehr kompliziert sein. Hier hatten wir im Entwicklungsteam einen intensiven und sehr produktiven Austausch mit unserer Designerin während der Implementation. Gemeinsam haben wir, wie ich finde, eine gute Lösung gefunden.
Was passiert, wenn die Abstimmung abgeschlossen ist? Erklär doch mal kurz, wie ihr dann mit der Wunscherfüllung vorgeht!
Svantje: Der erste Schritt ist erstmal eine umfangreichere Recherche. Nach der Umfrage haben wir ein grob umrissenes Themengebiet und müssen erstmal herausfinden, wie genau die Probleme aussehen und auf welche Art sie gelöst werden können. Ziel hierbei ist natürlich auch, dass die Lösung für alle Nutzenden gut funktioniert, und nicht nur für die letzten Endes relativ kleine Gruppe derjenigen, die das Thema ursprünglich in die Umfrage eingebracht hatte. Die Recherche und Konzeption machen wir als interdisziplinäres Team, wobei die Hauptarbeit unsere Designerin macht. Das entwickelte Konzept setzen wir dann iterativ um. Das heißt, wir implementieren Teile nach und nach und testen diese in kleineren Runden oder bereits in kleineren Wikimedia-Wikis. Basierend auf dem Feedback machen wir Anpassungen und veröffentlichen das fertige Ergebnis dann nach einiger Zeit auf allen Sprachversionen.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit der Community, wenn ihr an einer Softwareverbesserung arbeitet?
Johanna: Wir arbeiten eng zusammen. Es gibt im ganzen Prozess – von der Umfrage bis hin zur fertigen Lösung – immer wieder Momente, in denen die Erfahrung und Einschätzung der Ehrenamtlichen wichtig ist. Die holen wir zum Beispiel durch ausführliche Interviews, Nutzungstests oder durch kleinere Umfragen ein. Oder wir kommen auf Wikiseiten, virtuellen Treffen oder bei Real-Life-Veranstaltungen ins Gespräch. Ohne den Beitrag der Ehrenamtlichen würden die Technischen Wünsche gar nicht funktionieren. Womöglich würden wir dann sogar „Verbesserungen“ umsetzen, die den Communitys ihre Arbeit sogar noch erschweren.
Die deutschsprachigen Communitys bestimmen ja in der großen Umfrage, mit welchem Themenkomplex wir uns überhaupt beschäftigen sollen. Danach arbeiten wir dann aber auch mit Ehrenamtlichen aus allen möglichen Sprachversionen zusammen. Denn das, was wir technisch verbessern, kommt in der Regel Hunderten von Wikimedia-Wikis auf der ganzen Welt zugute.
Was sind eurer Meinung nach die größten Erfolge des Projekts bisher? Und was sind die Herausforderungen?
Svantje: Meiner Meinung nach ist unser größter Pluspunkt der enge Kontakt zu den Ehrenamtlichen und unsere Ausrichtung an ihren Bedarfen. Das macht es auch für uns sehr spannend, bereichernd und manchmal auch herausfordernd. Wenn Community-Mitglieder uns spiegeln, dass sie unsere Arbeit wertschätzen, freut uns das besonders.
Herausfordernd ist auch die Arbeit an MediaWiki: Die Software ist schon recht alt und umfangreich, weil richtig viele Menschen daran mitgewirkt haben und immer noch mitwirken. Das führt dazu, dass der Code teilweise sehr unterschiedlich ist und das macht es schwer, sich in neue Themenbereiche einzuarbeiten. Andererseits bleibt unsere Arbeit so immer abwechslungsreich. Wir sind als Team quasi archäologisch und restauratorisch tätig und bauen gleichzeitig auch Neues.
Raymond: Ein großer Erfolg ist für mich zum einen, dass bereits sehr früh nach dem Start 2013 Wikimedia Deutschland bei mir nachfragte, ob sie helfen könnten, z.B. bei der Auswertung der Umfrage, Priorisierung und Umsetzung. Daraus ist dann ein ganz tolles Team entstanden, mit dem ich auch heute noch gerne und oft zusammenarbeite. Zum zweiten, dass die Wikimedia Foundation die Idee der Technischen Wünsche international aufgegriffen hat und nun eine eigene Umfrage “für den Rest der Welt” macht. Wobei natürlich auch deutschsprachige Wikipedianer*innen sich international beteiligen dürfen. Und drittens die Vielzahl der bereits erfüllten Wünsche.
Johanna: Für mich ist unsere Arbeitsweise selbst der größte Erfolg: Dass wir zusammen mit den Ehrenamtlichen einen Prozess gefunden haben, wie wir gemeinsam Software entwickeln, und zwar so, dass sie ihnen wirklich hilft. Eine Herausforderung ist, dass es so viele Verbesserungsideen gibt und wir bei Weitem nicht alle umsetzen können. Wenn wir ein Thema bearbeiten, müssen wir also auch abwägen, mit welchen Projekten innerhalb dieses Themas unser kleines Team am meisten bewirken kann. Und dann bleibt es nicht aus, dass die Erwartungen Einzelner enttäuscht werden.
Wie bekannt ist die Umfrage in der Community? Wie viele Menschen erreicht sie tatsächlich? Welche Wünsche bleiben ungehört und glaubt ihr, dass es da noch Potenzial gibt, dass mehr Wikipedianer*innen teilnehmen könnten?
Raymond: Ich glaube schon, dass sie bekannt ist, da ja über viele Kanäle für die Umfrage geworben wird. Allerdings beteiligen sich manche Wikipedianer*innen nicht, weil sie sich für nicht so technikaffin halten und denken, dass sie nichts beitragen könnten. Das ist aber falsch. Jede*r kann beitragen und Wünsche äußern. Sie müssen nicht technisch ausformuliert sein.
Johanna: Darum arbeiten wir zum einen daran, Leute zum Mitmachen zu ermutigen. Zum anderen versuchen wir, auch die Mitmachmöglichkeiten zu vereinfachen. Seitdem wir 2019 die Umfrage überarbeitet haben, muss man sich zum Beispiel beim Abstimmen nicht mehr durch über hundert einzelne Probleme lesen, sondern kann sagen „Mir ist es wichtig, dass die Arbeit mit Vorlagen einfacher wird“. Oder mit Einzelnachweisen, oder Karten. Bei früheren Umfragen lagen die Teilnehmendenzahlen immer unter 500, im neuen Modell sind es seit Jahren um die 1000. Das ist im Vergleich zu anderen Abstimmungen im Wiki eine phänomenale Zahl.
Aber: Bei der Umfrage gewinnt immer das Thema, das den meisten Menschen wichtig ist. Gerade Themen, die nur einer vergleichsweise kleinen Gruppe am Herzen liegen, zum Beispiel Admins, bekommen dabei oft keine Mehrheit.
Was sind eure Pläne für die nächsten 10 Jahre Technische Wünsche?
Raymond: Uhhhh gute Frage. Weitermachen? Es gibt noch soooo viel zu tun.
Johanna: Ja, definitiv weitermachen! Und weiterdenken: Zum Beispiel, ob und wie man all das, was wir mit den deutschsprachigen Communitys aufgebaut und gelernt haben, internationalisieren könnte. Es gibt ja Hunderte von Wikimedia-Wikis und unser Traum wäre, dass auch Communitys dieser anderen Wikis ihr eigenes Technische-Wünsche-Projekt haben – und deren Verbesserung dann wiederum allen anderen Wikis helfen.
Vielen Dank für das Interview! Wir wünschen euch noch viel Freude bei der Erfüllung der technischen Wünsche!