Tun sich im vernetzten Zeitalter neue, transparente Wege zur Einflussnahme durch zivilgesellschaftliche Bewegungen auf? Oder bleiben letztlich trotz neuer Möglichkeiten die alten Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesse bestehen? Vertreter von Transparency International, Bitkom e. V. und der Wikimedia EU Policy Group diskutierten über neue Formen und ethische Grenzen der Interessenvertretung.
Liquid Lobbying – Und alles fließt?
Im Unterschied zu klassischem Lobbying der Vergangenheit nutzen immer mehr und immer größere Interessengruppen Plattformen im Internet als politische Informations- und Mobilisierungskanäle. Mit dem Begriff Liquid Lobbying ist die Strategie gemeint, diese neuen Kanäle für kollaboratives und transparentes Lobbying im Sinne des Freien Wissens zu nutzen. Dimitar Dimitrov, der seit 2013 als Wikimedia-Interessenvertreter in Brüssel arbeitet, erklärte, wie das genau in der Praxis funktioniert.
Drei wesentliche Akteursgruppen sollen möglichst eng zusammenarbeiten: Die Community bzw. die Interessensgruppe, die ehrenamtlichen Aktivistinnen und Aktivisten, die diese repräsentieren, und die hauptamtlichen Lobbyisten. Dabei entsteht, und das ist das Novum, seit einigen Jahren eine Arbeitstruktur, die sowohl permanent als auch absichtlich flexibel bleiben soll.
Je nach Situation spricht Dimitrov entweder als Einzelperson mit einer Abgeordneten, mal haben einige Aktivisten kurzfristig Zeit, sich zu engagieren, 2015 unterstützten Tausende Communitymitglieder den Erhalt der Panoramafreiheit durch einen Offenen Brief an die Mitglieder des Europäischen Parlaments. Die Konstellation derer, die sprechen, ist also nicht fest, sondern flüssig; sie ändert sich je nach Situation und Bedarf.
Öffentlich sichtbar und für alle Interessierten zugänglich ist diese Arbeitsstruktur auf der Webseite der EU Policy Group, informell auch “W.E.A.S.E.L – Wikimedia European Action System For Enthusiastic Lobbying” genannt. Das dazugehörige Maskottchen Wendy the Weasel macht seit Gründung der Gruppe Karriere auf dem Brüssler Politparkett, zu verfolgen auf der entsprechenden Commons-Seite.
Qualitative Veränderungen sind die Herausforderung im Lobbying
Relativ einfach ist für Lobbyisten, darin war sich das Podium einig, Menschen zu mobilisieren, um eine solide Vetofähigkeit herzustellen und Dinge zu stoppen. Etwa, einen existierenden Gesetzesvorschlag zu verhindern. Joachim Bühler von Bitkom e. V. bestätigte aus seiner Erfahrung, dass Protest immer leicht auszudrücken und dadurch auch quantitativ recht einfach zu erzielen ist.
Viel schwieriger dagegen sind qualitativ positive Veränderungen durch Lobbying durchzusetzen. Wirksames Lobbying in dieser Hinsicht, so Bühler, habe immernoch mit persönlicher Überzeugungskraft von Menschen und Vertrauensbildung durch Dialog zu tun. Auch Daniel Freund von Transparency International EU sieht die größte Herausforderung des Lobbying darin, als Organisation selbst ein Anliegen effektiv auf die Agenda zu heben und daraus einen politischen Vorgang zu machen.
Wie kann Chancengleichheit der Interessen hergestellt werden?
Daniel Freund untersucht in Brüssel die Situation der unzähligen Verbände und der mehr als 2.000 NGOs, die vor Ort aktiv sind. Anhand von Zahlen veranschaulichte er ein gravierendes Ungleichgewicht der Repräsentanz von Interessengruppen: 75% der Treffen hoher Hierarchieebenen der Europäischen Kommission finden mit Unternehmensverbänden und Industrievertretern statt, 18% mit NGOs, der Rest mit Think Tanks, Universitäten und anderen. In der Digital- oder Finanzwirtschaft liegt das Verhältnis sogar bei ca. 90% zu 10%. Es gibt also einen offensichtlichen Bedarf, eine größere Balance der Interessenvertretung innerhalb der entstandenen, hoch professionalisierten Lobbybranche in Brüssel herzustellen.
Jan Philipp Albrecht, innen- und justizpolitischer Sprecher der Grünen Europafraktion, plädiert in diesem Zusammenhang für eine Neudefinition des ethischen Rahmens für Lobbying. Interessenvertretung soll vor allem das Schließen von Informationslücken statt das Durchdrücken von Einzelinteressen zum Ziel haben. Projekte wie LobbyPlag helfen dabei, Lobbyaktivitäten nachvollziehbar und transparent zu machen.
Für Konzepte wie Liquid Lobbying sieht Albrecht gute Möglicheiten, wenn es den Vertreterinnen gelinge, die dahinter stehende Relevanz zu vermitteln. Nur wenn deutlich wird, dass es sich bei zivilgesellschaftlichen Bewegungen um wirklich repräsentative Gruppen handelt, würden auch ihre Interessen stärker gehört. Dafür fordert er, dass etwa die Europäische Kommission solche Projekte auch finanziell stärker fördern sollte. Statt darauf zu hoffen, dass dringende Anliegen sie schon erreichen, sollten EU-Institutionen ihre Holschuld gegenüber der Allgemeinheit erfüllen und verschiedene Interessengruppen gezielt in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen.
Die nächste Veranstaltung aus der Reihe “Das ABC des Freien Wissens” findet im September 2016 unter dem Titel “M=Macht der Daten – Daten der Macht” statt. Verteileraufnahme, Anregungen und Kritik gern unter salon@wikimedia.de