Wikimedia Deutschland
15 Jahre für Freies Wissen – Im Jubiläumsgespräch mit Nicole Ebber & Till Mletzko


Zarah Ziadi
16. April 2025
Zwei Perspektiven, eine gemeinsame Reise
Nicole und Till kamen im März 2010 gleichzeitig zu Wikimedia Deutschland, das damals noch ein kleiner Verein mit einem überschaubaren Team in einem Berliner Altbau war. Seither haben beide maßgeblich dazu beigetragen, Wikimedia Deutschland zu dem zu machen, was es heute ist – eine Organisation mit über 111.00 Vereinsmitgliedern und 200 Mitarbeitenden, die eine feste Größe im digitalpolitischen Bereich und Open Source Softwareentwicklung geworden ist.
Nicole hat sich früh für globale Zusammenarbeit und die Rolle des Vereins auf dem internationalen Parkett sowie die strategische Weiterentwicklung stark gemacht. Bei der globalen Wikimedia-Strategie 2030 spielte sie als Leiterin des Projektteams eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von zehn Handlungsempfehlungen und Prinzipien für die weltweite Bewegung. Zwölfmal war sie maßgeblich am Wikimedia Summit beteiligt – dem internationalen Treffen der Wikimedia-Organisationen in Berlin. Was einst mit Veranstaltungsorganisation begann, entwickelte sich zu einer kuratorischen Rolle, in der Nicole entscheidend dazu beitrug, die globale Bewegung zu stärken. Mittlerweile hat sie auch gemeinsam mit ihrem Team bei Wikimedia Deutschland die Verantwortung für die Zusammenarbeit der Entscheidungsgremien des Vereins übernommen. Till baute das Fundraising von Wikimedia Deutschland von Grund auf auf und machte es zu der tragenden Säulen des Vereins. Unter seiner Leitung wurde das Fundraising-Team professionalisiert – heute steht Wikimedia Deutschland hinter einer der erfolgreichsten Spendenkampagnen Deutschlands: der jährlichen Wikipedia-Bannerkampagne im Herbst. Tills Arbeit hat nicht nur finanzielle Stabilität geschaffen, sondern auch mehr Handlungsspielraum für die Förderung Freien Wissens eröffnet.
Hallo Nicole! Hallo Till! Ihr habt vor 15 Jahren bei Wikimedia Deutschland angefangen – wie kam es dazu? Was hat euch damals hergeführt?
Nicole: Ich hatte meine Diplomarbeit über Creative-Commons-Lizenzen im NGO-Management geschrieben und gehörte zu den ersten, die diese Lizenzen in Deutschland bekannt gemacht haben. Ich habe ehrenamtlich Barcamps und andere Web-2.0-Veranstaltungen organisiert und war gut vernetzt in der netzpolitischen Szene. Der Job als Projekt- und Eventmanagerin, der damals bei Wikimedia Deutschland ausgeschrieben war, passte da wie angegossen.
Till: Vor Wikimedia habe ich bei der German Toilet Organization gearbeitet – eine kleine NGO ohne richtiges Budget damals. Aber: Rechnungen müssen bezahlt werden. Also habe ich mich bei Wikimedia als Fundraiser beworben. Pavel Richter, der damalige Geschäftsführer, meinte: Wenn ich Fundraising für Toiletten hinbekomme, bin ich bestens geeignet für Wikimedia.
Was wolltet ihr in eurer Kindheit oder Jugend mal werden? Und findet ihr Facetten davon heute in eurer Arbeit wieder?
Nicole: Tierärztin natürlich – oder irgendwas mit Pferden! Auf den ersten Blick ist das ganz weit weg. Aber Empathie, Geduld und Sorgfalt braucht es auch bei Wikimedia Deutschland, um gute Arbeit zu machen.
Till: Puh, als Kind wollte ich Müllfahrer werden, hinten auf dem Trittbrett durch die Stadt cruisen. Später Langzeitstudent – aus Neugier und Lernlust. Und zumindest diesen Teil lebe ich heute etwas – denn unsere test- und erkenntnisorientierte Vorgehensweise im Fundraising ist auch Ausdruck des kontinuierlichen Lernen
Auf welche besonderen Momente oder Projekte bei Wikimedia Deutschland seid ihr besonders stolz?
Nicole: Es gab echt viele Highlights in den letzten 15 Jahren. Für mich gehört das Projekt Chapters Dialogue von 2013-2014 eindeutig dazu! Wikimedia ist eine Organisation, die weltweit mit unterschiedlichen Wikimedia-Gruppen und -Organisationen vertreten ist. Alles zusammen nennen wir die Wikimedia-Bewegung oder Movement. Um die Vernetzung und Zusammenarbeit zu stärken, haben wir mit dem Chapters Dialogue fast alle weltweiten Wikimedia-Organisationen sowie die Gründer-Organisation Wikimedia Foundation zu ihren Bedürfnissen, Sorgen und Wünschen interviewt. Der daraus entstandene Bericht war ein ehrlicher Status Quo der internationalen Zusammenarbeit im Movement. Viele Fragen von damals – etwa zu Machtverhältnissen und finanzieller Gerechtigkeit – sind bis heute relevant.
Till: Ein besonderer Moment war die intensive Debatte in den Jahren 2011/2012 über die Struktur der internationalen Wikimedia-Bewegung. Im Zentrum stand die Frage: Soll nur die Wikimedia Foundation in San Francisco – die zentrale Organisation, die die Rechte an Wikipedia hält und die Server betreibt – Spendenkampagnen auf Wikipedia durchführen dürfen? Oder auch die unabhängigen Wikimedia-Organisationen in anderen Ländern? Wikimedia Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eigene Fundraising-Kampagnen umgesetzt. Dieses Recht stand plötzlich zur Diskussion. Gemeinsam mit vielen anderen Engagierten habe ich dafür gekämpft, dass wir es behalten dürfen. Wir haben ein überzeugendes Positionspapier erarbeitet und unsere Argumente in zahlreichen Onwiki-Diskussionen und Gesprächen mit der Wikimedia Foundation eingebracht. Am Ende mit Erfolg. Dass wir heute unabhängig Spenden sammeln können, ist ein großer Gewinn: Es sichert uns nicht nur finanzielle Stabilität, sondern gibt uns auch die Freiheit, Freies Wissen auf unsere Weise mitzugestalten.


Ihr kennt euch jetzt 15 Jahre – wie hat sich der jeweils andere in dieser Zeit verändert?
Nicole: Also Tills Humor ist immer noch spot on! Das Augenzwinkern auch in herausfordernden Situation hat er behalten, das finde ich sehr erfrischend. Ich schätze es, wie analytisch und sachlich er arbeitet – bei einem Job, in dem es um Millionenbeträge und das Vertrauen hunderttausender Menschen geht. Und dabei bleibt er völlig bescheiden. Diese gelassene Ernsthaftigkeit bewundere ich sehr. Und: Wir haben beide viel mehr graue Haare als 2010!
Till: So richtig sehe ich keine Veränderung, außer den vielen Erfahrungen natürlich. Nicole brennt weiterhin fürs Movement, versprüht Begeisterung und bringt ganz viel Motivation mit – auch bei Rückschlägen. Wenn du inhaltlich mit so einem höchst diversen und anspruchsvollen internationalen Movement zu tun hast, brauchst du viel Empathie und Ausdauer. Ihre positive Energie war schon immer da, und sie trägt sie bis heute.

Warum ist es so wichtig, sich für Freies Wissen einzusetzen?
Nicole: Meine Grundannahme ist – und das ist auch das, was mich täglich seit 15 Jahren antreibt – dass die Demokratisierung von Wissen sowie die breite Teilhabe an belegtem Wissen zu einer Gesellschaft führt, die besser informierte Entscheidung treffen kann – oder zumindest könnte! Freies Wissen kann ein Demokratieverstärker sein. Unseren Auftrag als Bewegung für Freies Wissen verstehe ich also als einen gesellschaftlichen. Und er ist hochpolitisch!
Till: Wikipedia ist ein einzigartiges Projekt – ohne sie wäre das Internet deutlich ärmer. Gerade in Zeiten von Desinformation und schwindendem Vertrauen in klassische Medien gewinnt Wikipedia an gesellschaftlicher Relevanz. Unsere Aufgabe im Fundraising ist es, Menschen in Deutschland die Möglichkeit zu geben, sich mit einer Spende für freies, verlässliches Wissen zu engagieren. Man kann sagen: Es war nie wichtiger als jetzt.

Welche besonderen Erfahrungen nehmt ihr aus den letzten 15 Jahren mit?
Nicole: Alles verändert sich und genau das macht’s spannend. Mein Aufgabenfeld hat sich ständig weiterentwickelt: von Events über internationale Strategie bis zu Governance. Auch Wikimedia Deutschland ist gewachsen – von zehn auf fast 200 Mitarbeitende. Offen für Wandel zu bleiben und aktiv mitzugestalten, war und ist zentral für mich. Und trotz aller Routinen – Meetings, E-Mails, Dokumente – ist der Job für mich nie langweilig geworden. Im Gegenteil: Er fühlt sich heute noch mehr denn je wie ein Traumjob an.
Till: Als wir damals angefangen haben, waren wir keine zehn Leute. Man hat schnell viel Verantwortung übernommen und konnte dadurch richtig viel aufbauen und mitgestalten. Diese ersten Jahre waren total prägend: So viele Weichen wurden gestellt, so viele grundlegende Entscheidungen getroffen. Klar, wir haben auch Fehler gemacht, aber genau das war ein großes Learning für mich: Wenn man sich wirklich gestalten will und reinhängt, kann man richtig was bewegen. Dieses Mindset prägt mich bis heute.
Was treibt euch weiterhin an? Was wünscht ihr euch für die Zukunft bei Wikimedia Deutschland?
Nicole:
Der Einsatz für freies Wissen ist heute politischer denn je – ob beim Schutz offener Infrastrukturen, dem Zugang zu verlässlicher Information, dem Erhalt digitaler Gemeingüter oder in Fragen von Diversität und Inklusion. In Zeiten von Desinformation und Dominanz großer kommerzieller Plattformen ist eine unabhängige Wikimedia-Community wichtiger denn je. Deshalb freue ich mich, weiterhin meinen Teil beizutragen – gemeinsam mit den besten Kolleg*innen und einer weltweiten Bewegung, die sich nicht unterkriegen lässt.
Till: Im Kontrast zur millionenfachen Nutzung spenden nur wenige Menschen für Wikipedia. Mich treibt an, mehr Menschen davon zu überzeugen. Auch wenn wir jedes Jahr besser werden, gibt es noch viel Potenzial. Ich wünsche mir, noch besser zu verstehen, was sie abhält – und wie wir diese Hürden abbauen können. Die Idee, dass eine der größten Websites der Welt gemeinschaftlich geschrieben und finanziert wird, begeistert mich bis heute.
Vielen Dank für das Interview!