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Mit Wikipedia dem Krieg trotzen – Der Einsatz für Freies Wissen in der Ukraine
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Patrick Wildermann
19. Februar 2025
Von Gewöhnung kann keine Rede sein. Drei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sind die Menschen in der Hauptstadt Kyiv zwar in mancher Hinsicht zu einer Art Alltag zurückgekehrt. „Aber wir erleben eine wachsende Müdigkeit und Erschöpfung in der gesamten Gesellschaft“, beschreibt Anton Protsiuk, Programmkoordinator von Wikimedia Ukraine (WMUA), mit dem Wikimedia Deutschland seit 2022 immer wieder im Austausch ist. „Gerade heute morgen haben die Behörden wieder einen Stromausfall verkündet, weil es in der Nacht russische Angriffe gab“, so Protsiuk. „Zum Glück dauerte der Blackout diesmal nur kurz, vier oder fünf Stunden.“
Herausforderungen und Erfolgsmeldungen
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Im Videocall erzählt er von den Herausforderungen, vor denen das ukrainische Wikimedia-Chapter und die Wikipedia-Community nach wie vor stehen – darunter ökonomische Schwierigkeiten, der permanente Stress oder der Umstand, dass viele Ehrenamtliche sich zum Militärdienst gemeldet haben oder eingezogen wurden. Aber Protsikuk berichtet auch davon, wie der Einsatz für Wikipedia und Freies Wissen selbst unter den Bedingungen des Krieges erfolgreich fortgeführt wird. Trotz allem gibt es aus Sicht von WMUA auch Positives zu berichten.
An der jährlichen Wikiconference beispielsweise – die 2024 als dreiteiliges Event in Kyiv, Charkiv und online stattfand – nahmen über 120 Menschen teil, „so viele wie noch nie“, erzählt der Programmkoordinator. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der ukrainischen Wikipedia wurden Preise an 38 besonders verdiente Wikipedianer*innen verliehen, Protsiuk hat darüber in einem Blog berichtet. Außerdem sei die Zahl der Ehrenamtlichen und auch der Mitglieder von WMUA zuletzt gestiegen. Wobei Protsiuk zu bedenken gibt: „Wir könnten noch viel mehr Menschen für das Engagement in den Wikimedia-Projekten gewinnen, wenn unser Land nicht vom russischen Angriff betroffen wäre.“
Die Community bleibt aktiv
Zu den Ehrenamtlichen, die sich trotz der schwierigen Lage bewundernswert vielseitig engagieren, gehört die Wikipedianerin Kate Kifa. Sie stammt ursprünglich aus Odessa und lebt mittlerweile in einer Stadt nahe Kyiv, wo es weniger Angriffe und Glasfaserinternet gibt, das auch bei Stromausfall funktioniert. Seit 2021 schreibt sie mit eigenem Account in der ukrainischen Wikipedia, ihr Schwerpunkt liegt auf frauenbezogenen Themen, weil es ihr wichtig ist, den Gender Gap in der Online-Enzyklopädie zu verringern: „Mich interessieren Persönlichkeiten wie Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen oder Journalistinnen“, so Kate Kifa, die auch feministische Community-Projekte wie WikiWomen oder WomenInRed als Inspiration nennt. Sie übersetzt auch Artikel aus verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia ins Ukrainische, auf der zurückliegenden Wikimania im polnischen Kattowitz hat sie im Übersetzer*innen-Team mitgearbeitet und täglich ‚Diff‘-Artikel und E-Mail-Newsletter auf Ukrainisch verfasst.
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Wie Wikipedia-Arbeit gegen Stress und Burnout hilft
Auf die Frage, woher sie in Kriegszeiten die Energie für all diese Aktivitäten nimmt, antwortet die Wikipedianerin differenziert: „Die Situation, in der wir uns befinden, verursacht Stress, Angst, Schlafstörungen, erhöhte Anspannung, Burnout und emotionale Schwankungen, die manchmal nicht spürbar sind, da der menschliche Körper einfach versucht zu überleben“, beschreibt sie. Entsprechend konzentriere sie sich auf Aktivitäten und Routinen, „die meine körperliche und geistige Gesundheit fördern“. Wie Yoga, Wasser trinken, draußen spazieren gehen, Meditation, weniger Kaffee, sich an die Notwendigkeit von Ruhezeiten erinnern.
Und nicht zuletzt: in der Wikipedia editieren. Denn das, so Kate Kifa, „hat wirklich einen therapeutischen Effekt.“ Zu den Wikimedia-Projekten beizutragen, sei sowohl „eine erdende Anti-Stress-Aktivität“, als auch die Möglichkeit, sich ein Gefühl von Kontrolle und Wirksamkeit zu verschaffen: „Es baut Selbstvertrauen auf, wenn du dein Wissen teilen kannst. Du schreibst einen Artikel, der sofort auf der ganzen Welt gelesen werden kann, in Australien, in Simbabwe – und trägst damit gleichzeitig zu Kulturerhalt und Bildung bei. Das schätze ich besonders in diesen schwierigen Zeiten.“
Die Wikimedia-Projekte als Quelle von Möglichkeiten
Das Nebeneinander von Normalität und Ausnahmezustand bestimmt auch weiterhin die Arbeit von Wikimedia Ukraine und der Community. Von einem anstehenden Webinar zum Einsatz von KI in den Wikimedia-Projekten, zu dem sich bereits 150 Leute angemeldet haben, erzählt Anton Protsiuk so selbstverständlich wie von Drohnenangriffen auf die zivile Infrastruktur. Beide – Protsiuk und Kate Kifa – blühen aber im Gespräch auf, wenn es konkret um die Projekte geht, die trotz des Krieges zahlreich stattfinden, über 100 waren es 2024.
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„Wikimedia Ukraine ist gerade im Moment eine erstaunliche Quelle von Möglichkeiten“, schwärmt Kate Kifa. „Alle paar Wochen gibt es Aktivitäten wie Wettbewerbe und Marathons zu verschiedenen Themen. Diesen Februar haben wir zum Beispiel einen Deutschland-Monat, bei dem es darum geht, möglichst viele Artikel über deutsche Politik und Kultur in die ukrainische Wikipedia zu bringen, ich selbst engagiere mich in Initiativen wie WikiGap, 1Lib1Ref oder bei (Un)known Women of Wikipedia, wo ich mittlerweile zum Organisationskomitee gehöre.“
Erst vor ein paar Tagen hat sie außerdem an einem Wikisource-Wettbewerb teilgenommen und einen Text des ukrainischen Schriftstellers Volodymyr Vynnychenko Korrektur gelesen, der zu einer Generation ukrainischer Künstler*innen gehörte, die vom Sowjetregime im 20. Jahrhundert verboten und in der heutigen Ukraine wiederentdeckt wurden.
Ukrainisches Kulturerbe im Krieg erhalten
Wissen über die Ukraine zugänglich machen, das kulturelle Erbe des Landes bewahren und sichtbar machen – „das ist gegenwärtig das Wichtigste für uns“, sagt Anton Protsiuk. „Wer mit ukrainischen Themen zur Wikipedia beiträgt, hilft uns genauso wie jemand, der Geld an unsere Organisation spendet.“ Eine große Rolle spielen bei der Bewahrung des Kulturerbes natürlich auch die Fotowettbewerbe Wiki Loves Earth (der in der Ukraine erfunden wurde) und Wiki Loves Monuments.
In beiden Wettbewerben gab es zuletzt spezielle Kategorien in Bezug auf die Auswirkungen der russischen Aggression, bei WLM ging es konkret um Baudenkmäler, die im Krieg zerstört wurden. „2024 hatten wir mit der ukrainischen Ausgabe von Wiki Loves Monuments die zweitmeisten Einreichungen von Fotos weltweit“, erzählt Protsiuk. Der Wettbewerb belegte – was den Zuspruch der Community betrifft – auch den Spitzenplatz unter den fünf größten Projekten von WMUA im vergangenen Jahr.
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Hoffnungsvolle Blicke in eine ungewisse Zukunft
Kate Kifa erzählt, dass sie bei Freundinnen und Familienmitgliedern ebenso wie auf Social Media viel für das Engagement in den Wiki-Projekten wirbt. Sie ist optimistisch, was die Entwicklung der Community betrifft: „Ich sehe immer mehr junge und ältere Menschen, die sich der Wiki-Bewegung anschließen. Einige von ihnen sind unter 16 Jahre alt, andere 55+ und sehr aktiv darin, mehr Führungsaufgaben zu übernehmen. „Das Team von Wikimedia Ukraine ist dabei super unterstützend und hilft auch, eine Veranstaltung oder einen Marathon zu einem Thema zu organisieren, an dem man interessiert ist.“
Anton Protsiuk kommt im Gespräch immer wieder auf einen Punkt zurück, der für ihn von zentraler Bedeutung ist: „Die Zukunft unserer Organisation und der Community ist untrennbar verbunden mit der Zukunft der Ukraine.“ Gegenwärtig sei die Stimmung im Land schwer zu beschreiben, „hauptsächlich herrscht Ungewissheit“, sagt er. „Wir haben als Wikimedia Ukraine einen strategischen Plan für die nächsten zwei Jahre. Aber um ehrlich zu sein: Wir wissen nicht, was passiert.“