Europawahl 2024
Was die Europawahl mit Freiem Wissen, digitalem Ehrenamt und der Wikipedia zu tun hat
Friederike von Franqué
6. Juni 2024
Wir stellen uns das Internet als einen vernetzten öffentlichen Raum vor, in dem Menschen aus aller Welt miteinander kommunizieren, Informationen und Wissen austauschen und gemeinsam Entscheidungen treffen können. Wir sind davon überzeugt, dass die Vision eines offenen, freien, verlässlichen und sicheren Internets mit innovativen Entwicklungen, die reale gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen, nur gelingen kann, wenn sich der politische Fokus dem Gemeinwohl widmet. Daher muss die EU zwingend demokratische Strukturen, digitale Gemeingüter und die Rechte der Internetnutzenden fördern und bewahren.
Gesetze gut umsetzen
Die Europäische Union hat in den letzten fünf Jahren wichtige Regelsetzungen in der Digitalpolitik verabschiedet. Der Macht von Big Tech und schrankenlosen profitorientierten Interessen wurden mit dem Digital Services Act (DSA), dem AI Act und dem Digital Markets Act wichtige Grenzen gesetzt. Diese Gesetze gilt es nun konsequent umzusetzen. Mit dem DSA wollen die europäischen Gesetzgebenden dafür sorgen, dass sich jeder Mensch im Netz freier und ohne von Hass bedroht zu sein, bewegen kann. Dafür müssen Plattformen den Nutzenden bessere Beschwerdemöglichkeiten geben, wenn die ihre Recht auf einer Plattform verletzt sehen. In jedem Mitgliedsland der EU muss nun ein nationaler Koordinator für solche Beschwerden benannt sein – der sogenannte Digital Services Coordinator. Wir möchten sicherstellen, dass dieser Koordinator nicht nur auf dem Papier existiert, sondern auch ausreichend viele Mittel und personelle Ressourcen erhält, um Beschwerden auch wirksam entgegennehmen und bearbeiten zu können.
Gemeinwohlorientierte Projekte fördern
Digitale Gemeingüter, eine öffentliche digitale Infrastruktur und frei zugängliche und nutzbare Daten sollten als Grundpfeiler eines europäischen gemeinwohlorientierten öffentlichen digitalen Raumes substantiell gestärkt werden. Denn dezentralisierte, durch Gemeinschaften getragene und nicht-kommerzielle Projekte wie Wikipedia, Open Access, OpenStreetMap, Blender.org, die Programmiersprache Python und unzählige freie Software-Projekte vermehren Wissen oder stellen Anwendungen bereit, die der Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Diese digitalen Gemeingüter tragen dazu bei, dass Internetnutzende nicht vollkommen von kommerziellen Produkten abhängig sind. Da diese Projekte nicht auf Profitorientierung angelegt sind, können sie den realen Nutzen in den Vordergrund stellen – statt beispielsweise die Verweildauer von Nutzenden zu verlängern, indem sie Algorithmen einsetzen, die besonders polarisierende Inhalte bevorzugen. Darüber hinaus basieren diese Gemeinschaftsprojekte auf internen Aushandlungsprozessen, die in der Regel demokratisch ausgestaltet sind. Dadurch tragen sie dazu bei, Menschen zusammenzubringen und eine gesunde Gemeinschaft zu stiften. Wikimedia Deutschland als eine Bewegung, die erfolgreich gemeinschaftsgetragene Projekte unterstützt, bietet an, zukünftige Gesetzesvorhaben mit einem „Wikipedia-Test“ daraufhin zu prüfen, welchen Effekt sie auf solche Projekte haben werden .
Öffentliche digitale Infrastruktur fördern
Viele der genannten Initiativen und andere ehrenamtliche Digitalprojekte die ihren Quellcode offenlegen, also Open Source sind, und die teilweise als Freizeitbeschäftigung begannen, sind inzwischen unersetzlich in digitalen, öffentlichen und privatwirtschaftliche Anwendungen. In einer Statista Umfrage von 2024 gaben 69% der befragten Unternehmen an, dass sie Open Source Software verwenden. Sie sind deswegen Teil einer digitalen Infrastruktur, zu der auch Rechenkapazitäten, Übertragungstechnik und Daten gehören.
Die Europäische Union sollte vermehrt darauf achten, dass zentrale digitale Strukturen und Plattformen nicht von wenigen kommerziellen Monopolen dominiert werden, die mit Suchmaschinen, App Stores oder elektronischen Zahlungssystemen ihre Dienste verkaufen. Investitionen in eine öffentliche digitale Infrastruktur unterstützen den Zugang zu Freiem Wissen. Der Zugang zu Mobilitätsdaten verschiedener Anbieter ermöglicht es Menschen, die ehrenamtlich kostenlose Mobilitäsanwendungen entwickeln, Fahrpläne für alle Verkehrsträger bereitzustellen. Die EU sollte eine derartige öffentliche Infrastruktur unterstützen, indem sie öffentlichen Einrichtungen die Arbeit mit offener Software und offenen Daten vorschreibt – oder zumindest selbst damit arbeitet und so auch selbst zu einem Teil der Community wird, die sich an der Pflege und Weiterentwicklung beteiligt. Weiterhin sollte sie Anreize zur Beteiligung zu setzen und Hindernisse wie langsame Rechenkapazitäten zu vermeiden. Das Design solcher Infrastrukturen in Open Source erlaubt transparente, dezentrale Verwaltung und Aufsicht. Eine solche Transparenz unterstützt das Vertrauen in Netze und Anwendungen und damit die Beteiligung auch an Projekten des Freien Wissens.
Eine wichtige Maßnahme ist zudem, die Hürden für den Zugang zu Daten und Information zu beseitigen. Konkret sollte beispielsweise das öffentliche Interesse in der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD Richtlinie) stärker beachtet werden. Millionen Europäer betrachten Inhalte online auf verschiedenen mobilen Geräten. Je nach Herkunftsland können Inhalte gesehen oder nicht gesehen oder abgerufen werden. Denn während die EU in vielerlei Hinsicht einen digitalen Binnenmarkt hat, gibt es im Bereich der audiovisuellen und urheberrechtlich geschützten Inhalte Ausnahmen. Diese machen es oft unmöglich, Inhalte von öffentlich-rechtlichen Sendern in anderen EU-Ländern anzusehen oder zu teilen, auch für Wissensprojekte wie Wikipedia. Dieser Flickenteppich schadet der Informationsfreiheit und dem Austausch von Wissen auf europäischer Ebene. Das Geoblocking öffentlich-rechtlicher Inhalte sollte daher innerhalb der EU so weit wie möglich aufgehoben werden.
Ehrenamtliche Fördern
Digitale Gemeingüter und nichtkommerzielle Gemeinschaften werden überwiegend von Ehrenamtlichen getragen. Diese Menschen widmen ihre Zeit, Energie und Kreativität dem Ziel, Probleme zu lösen und Leerstellen zu füllen, die sie sehen, und so effektiv die Welt besser zu machen. Die Videokonferenzanwendung BigBlueButton etwa entstand während Corona aus dem Wunsch, für Schulkinder eine einfach nutzbare, aber gleichzeitig datensparsame Möglichkeit für Unterricht zu Hause anzubieten.
Allerdings brauchen auch Ehrenamtliche ab einem gewissen Punkt finanzielle Förderung, damit sie sich angemessen um die Pflege der Software oder einen ausreichend großen Server kümmern können. Denn genau so wie kommerzielle, lizenzpflichtige Software regelmäßige Sicherheitsupdates braucht oder eine verbesserte Nutzendenoberfläche, muss auch eine Open Source Software kontinuierlich gepflegt und angepasst werden – auch, um im Wettbewerb gegen gut designte proprietäre Lösungen bestehen zu können.
Darüber hinaus sollten ehrenamtliche gemeinwohlorientierte Communitys durch aktiven Austausch mit EU Ebenen gefördert werden. Eine verbindliche Zivilgesellschaft-Quote in Beratungsgremien und bei der Ausarbeitung von Gesetzesvorschlägen sollte eingeführt und damit echte Mitgestaltung ermöglicht werden. Dabei braucht es ausreichend lange Fristen für Konsultationen für zivilgesellschaftliche Akteure, da diese in der Regel ihre Expertise neben einer hauptberuflichen Beschäftigung einbringen. Arbeitsaufwände etwa für Anhörungs- und Beratungsverfahren sollten finanziell angemessen kompensiert werden. Kooperationen, aber auch die finanzielle Unterstützung von Netzwerken und Initiativen etwa durch Steuererleichterungen oder die Ermöglichung regulärer Treffen durch finanzielle Unterstützung von Community-Konferenzen gehören dazu.
Letztlich muss sich die EU konsequent für das Recht auf Anonymität und Verschlüsselung einsetzen. Damit das Internet ein Raum bleibt, in dem sich jede Person frei bewegen kann und keine Angst haben muss, für die Mitarbeit an einem Community-Projekt, eine Meinung oder Publikation bestraft zu werden, fordern wir schon lange das Recht auf Anonymität und Verschlüsselung. Gerade angesichts der menschenrechtsfeindlichen Tendenzen überall in Europa erhalten diese Forderungen neues Gewicht.
Eine neue Ära des freien Wissens
Zugang zu Wissen ist eine zentrale Bedingung für einen demokratische Diskurs, denn dieser lebt von informierten Menschen. Öffentliche Büchereien, Museen oder Universitäten – die ihre Bestände und Forschungsergebnisse zunehmend digitalisieren – pflegen und bewahren Wissen. Wir brauchen aber auch freien Zugang zu diesem Wissen – im Digitalen wie im Analogen. Davon profitieren wir als Bürger und Bürgerinnen, aber auch Wissensprojekte wie die Wikipedia. Damit freie Wissensprojekte, aber auch die Bibliotheksnutzenden, Museumsbesuchende oder Forschenden in Europa, Zugang zu mehr Wissen erhalten, fordern wir die EU auf, einen Digital Knowledge Act zu erlassen.
Welche Hürden hindern traditionelle Institutionen des Wissens daran, ihren öffentlichen Auftrag zu erfüllen und noch mehr Menschen digital Zugang zu Bildung und Wissen zu gewähren?
Wissenschaftliche Forschung, die mit EU-Fördergeld aus den Horizon Europe Programmen finanziert wurde, verschwindet hinter Bezahlschranken, anstatt für alle und ohne Hürden zur Verfügung zu stehen. Öffentliche Büchereien würden gerne ihre E-Bücher zu denselben Bedingungen verleihen wie ihre gedruckten Materialien. Aber Verlage stellen oft nur Teile Ihrer Neuerscheinungen als E-Ausgaben zur Verfügung, nicht zur Veröffentlichungszeit oder stellen andere Bedingungen der Restriktion.Wikipedianer*innen, die Artikel auf einen neuen Wissensstand bringen wollen, können dadurch nicht zeitnah auf alle verfügbaren Wissensquellen zugreifen. Offizielle Werke, öffentlich in Auftrag gegebene Studien und anonymisierte Gerichtsurteile müssen endlich öffentlich und digital zugänglich werden: Derzeit sind diese Dokumente kaum oder gar nicht zugänglich, obwohl sie mit öffentlichen Geldern finanziert wurden.
Und auch Hürden, die sich aus Teilen des Urheberrechts oder des Datenbankrechts ergeben, sollten die europäischen Gesetzgebenden einreißen.