Coding da Vinci
Ein Anfang und kein Ende – Von Coding da Vinci zur Unternehmensgründung
Patrick Wildermann
4. Oktober 2022
„Es könnt’ ein Anfang sein“ – unter diesem hoffnungsfrohen Motto stand die Abschlusskonferenz des Kultur-Hackathons Coding da Vinci (CdV) im Jüdischen Museum Berlin. Das Projekt blickt auf eine stolze Bilanz, die sich in Zahlen fassen lässt: In acht Coding-da-Vinci-Jahren haben bei 14 Hackathons in ganz Deutschland 362 Kulturinstitutionen 488 Datensätze zur Verfügung gestellt, 218 Projekte sind daraus entstanden, über 2000 Menschen haben teilgenommen. Freilich kann man den Erfolg auch mit einem Bild beschreiben. Heike Gleibs, Leiterin Bildung, Wissenschaft & Kultur bei Wikimedia Deutschland, wählt auf der Konferenz das Beispiel eines Löwenzahns, der durch den Asphalt drängt. Analog habe der Hackathon verkrustete Strukturen aufgebrochen – indem er maßgeblich dazu beitrug, dass es für Kultureinrichtungen heute viel selbstverständlicher geworden ist, die eigenen Daten zu teilen und sie der kollektiven Kreativität der Öffentlichkeit zu überlassen.
Zurück in die Zukunft
„Aus einem einzelnen Löwenzahn-Pflänzchen kann eine Spielwiese werden“, malt Gleibs aus, die das 2014 von Stephan Bartholmei, Barbara Fischer, Helene Hahn und Anja Müller ins Leben gerufene Projekt Coding da Vinci seit Jahren begleitet. Keine Frage: Nicht nur sind bei den Kultur-Hackathons etliche wertvolle Ideen gesprossen (ganz gleich, ob sie am Ende verwirklicht wurden, oder nicht – bei CdV ging es stets mehr um das Erlebnis als das Ergebnis). Sondern der Geist des Projekts lebt auch nach dessen offiziellem Ende fort, sogar in Gestalt von Existenzgründungen. Wie das Digitalwarenkombinat beweist, ein Geschäft, das die langjährigen CdV-Teilnehmenden Anne Mühlich und Gerd Müller in diesem Jahr an den Start gebracht haben.
Es war ein Anfang: Gerd Müller, ausgebildeter Informatiker und Softwareentwickler, ist 2018 in Leipzig erstmals zu Coding da Vinci gestoßen. Aus Digitalisaten der Sächsischen Landesbibliothek Dresden – Fahrtenbüchern mit Radtouren vom Beginn des 20. Jahrhunderts – entwickelte er dort mit anderen das Projekt „Nachgeradelt“, bei dem mittels GPS-Daten eine dieser alten Touren in die Gegenwart geholt wurde. Anne Mühlich – studierte Westslawistin sowie Europäistin und eigentlich auf dem Weg, in der internationalen Jugendbildung zu arbeiten – begleitete ihren Freund damals zur Preisverleihung. Und erlebte auf der Bühne Menschen mit einem ganz ähnlichen Background wie ihrem. Ihre Erkenntnis: „Man muss nicht Programmiererin sein, um bei Coding da Vinci mitzumachen. Wer Ideen hat, findet dort Gleichgesinnte, mit denen sie sich umsetzen lassen“.
Ihre gemeinsame Hackathon-Geschichte begann 2019, bei CdV in Mainz und Frankfurt, wo sie mit anderen ihr Projekt „Past Forward“ entwickelten: eine Webanwendung, für die sie Stummfilme und Tonbilder über den Alltag vor hundert Jahren (zur Verfügung gestellt vom Deutschen Filminstitut) zu einem assoziativen, spielerischen Erlebnis der damaligen Epoche verbanden. „Diese Zeit des frühen 20. Jahrhunderts fasziniert uns besonders, so Mühlich. Noch im gleichen Jahr – bei Coding da Vinci Süd in München – erwuchs aus diesem Faible „Wie geht’s dir, Europa?“. Die Idee: knapp hundert Jahre alte Fotografien von Willy Pragher aus der Sammlung des Landesarchivs Baden-Württemberg mit Twitterkommentaren zur damals anstehenden Europawahl zu kombinieren. „Die dabei entstandenen Bilder waren in Gestalt von Polaroids und versehen mit Hashtags wiederum in den sozialen Netzen teilbar“, beschreibt Müller.
„Wir sind nie mit einem konkreten Vorhaben zu den Hackathons gefahren“, betonen beide. Die Devise war immer: schauen, was sich ergibt. Als spannendsten Moment haben sie stets die Kick-off-Phase von Coding da Vinci erlebt: „Dutzende Kulturinstitutionen präsentieren innerhalb von einer Minute, welche Daten sie mitgebracht haben, die sogenannte One-Minute-Madness – man wird überwältigt von Eindrücken“.
Was aus Stipendien erwachsen kann
Auf der Abschlusskonferenz in Berlin war dieser Zeitraffer-Pitch ebenfalls zu erleben, allerdings in abgewandelter Form: als Präsentation von Teilnehmenden, die mit einem Coding-da-Vinci-Stipendium bedacht wurden – was die Möglichkeit verschafft, an besonderen Ideen über den Hackathon hinaus für mehrere Monate zu arbeiten. Insgesamt 32 Stipendien wurden zwischen 2019 und 2022 vergeben, ermöglicht durch die Kulturstiftung des Bundes, die langjährige Förderin des Projektes. Deren Leiterin Kirsten Haß stellte im Jüdischen Museum fest, es sei durch CdV gelungen, „in Kulturinstitutionen das Bewusstsein zu verankern, dass ko-kreative Arbeitsweisen oft zu besseren Ergebnissen führen“. Und zu vielfältigeren, ließe sich hinzufügen. Was die Präsentation der Stipendiat*innen gezeigt hat – die reichte vom Projekt, aus Datensätzen alter Siegel neue 3-D-Modelle zu fertigen („FabSeal“ von Joana Bergsiek) bis zur AR-Anwendung, mit der sich in historische Trachten schlüpfen lässt („Dressed-App“ von Ronja Erhardt).
Anne Mühlich und Gerd Müller haben sich gleich zwei Mal erfolgreich um ein CdV-Stipendium beworben. Das erste erhielten sie 2020, für ihr Projekt „Demokratie erLeben“. Inspiration dafür waren Daten des Archivs der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick. Die beiden stießen darüber auf das Phänomen der sogenannten Kinderrepubliken zu Zeiten der Weimarer Republik: „Von sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Verbänden organisierte Zeltlager, in denen Kinder lernen sollten, wie sie weitgehend selbstorganisiert das Leben gestalten können – eine Form von Demokratiebildung, die es zuvor nicht gab“, erzählt Mühlich. Entstanden ist eine multimediale, interaktive Webanwendung. „In ‚Demokratie erLeben’ erzählen wir die fiktive Geschichte dreier Kinder anhand realer Fotos und Quellen“, beschreibt Müller. Auch eigens erstellte Stop-Motion-Filme gehören dazu; dank des Stipendiums konnten professionelle Sprecher*innen und Beraterinnen für Hintergrundmusik und Sound gewonnen werden.
Das zweite Projekt, für das Mühlich und Müller ein Stipendium bekamen, nennen sie scherzhaft „eine typische Pandemie-Anwendung: sehr entschleunigt“. 2021, unter dem anhaltenden Eindruck von Kontaktbeschränkungen und Lockdowns, die auch Coding da Vinci zu rein digitalen Ausgaben zwangen, entwickelten sie „Plantala“ – ein Kofferwort aus plant, englisch für Pflanze, und Mandala. Die Vorlage waren botanische Lehrtafeln, digitalisiert von der Universitäts-Bibliothek Göttingen. Einzelne, ästhetisch besonders ansprechende Aspekte davon griffen die beiden sich heraus und entwickelten Mandalas zum Ausmalen. Unterstützung erhielten sie dieses Malvon Expert*innen aus dem Bereich des Design Thinkings.
Während dieser Zeit reifte der Gedanke: Wie wäre es, eine eigene Firma zu gründen?
Das Digitalwarenkombinat stellt sich vor
„Es könnte Beratungs-Bedarf bei Kulturinstitutionen geben, die ihre Sammlungen bereits digitalisiert haben, aber nicht genau wissen, wie der nächste Schritt aussehen soll“ – das hätten viele Coding-da-Vince-Ausgaben gezeigt, so Mühlich. Müller bestätigt: „Häufig haben Institutionen sich mit ihren Datensätzen angemeldet, in der konkreten Hoffnung, dass jemand eine gute Idee dazu hat“. Aus dem bei CdV gewonnenen Erfahrungsschatz etwas zurückzugeben – das ist einer der Ansprüche, den die beiden mit dem Digitalwarenkombinat haben. Anfang 2022 haben sie das Unternehmen als GbR gegründet, der Name spielt zum einen mit der ostdeutschen Herkunft von Mühlich und Müller, zum anderen verweist er darauf, dass sich verschiedenste Gewerke unter dem Dach eines Kombinats vereinen.
Das Digitalwarenkombinat bietet Beratung an, hilft Kulturinstitutionen bei der Entwicklung von Webanwendungen, Medienstationen oder Merchandise. Nicht zuletzt aber soll die junge Firma helfen, Hürden abzubauen. „Wir sehen gerade Museen und Archive in der Verantwortung, noch mehr auf die Bevölkerung zuzugehen, Zielgruppen anzusprechen, die nicht selbstverständlich den Weg zu ihnen finden“, so Mühlichs Plädoyer. „Spielerische Anwendungen, die nicht nur im Rahmen eines Museumsworkshops nutzbar sind, können Schwellen senken“.
Überhaupt könnte gerade jüngeren Menschen noch viel stärker vermittelt werden, „dass offene Kulturdaten etwas unheimlich Spannendes sind“, findet Müller. Ihr erklärtes Ziel, ganz im Geiste von Coding da Vinci: „Lust auf Kulturinstitutionen wecken, auf Digitalisate – das wollen wir gern mit dem Digitalwarenkombinat erreichen“. Es ist ein Anfang.