zurück

Offene Archive

Ein Mehr an Offenheit

Anlässlich des Digitaltags 2022 hat Wikimedia Deutschland erstmals mit dem Stadtarchiv Leipzig kooperiert. Die gemeinsamen Aktionen waren für beide Seiten ein Gewinn – und haben einmal mehr verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass Archive sich dem Freien Wissen öffnen.
Forschungssaal des Stadtarchivs Leipzig

Patrick Wildermann

17. August 2022

Das höchste Gebäude Leipzigs wird im Volksmund „Uniriese“ oder auch „Weisheitszahn“ genannt, wenngleich das 142 Meter hohe City-Hochhaus eigentlich ein aufgeschlagenes Buch darstellen soll. Die Großmarkthalle wiederum – ein imposanter Komplex aus Kuppelhallen, die in den 1920er Jahren erbaut wurden – trägt den Spitznamen „Kohlrabizirkus“, weil dort früher Handel mit Gemüse getrieben wurde. Überhaupt hatte und hat die Stadt eine Reihe von Bauwerken zu bieten, die zu ihrer jeweiligen Entstehungszeit kühne Projekte waren – vom unterirdisch gelegenen, mit kubanischem Marmor ausgestatteten Bowlingcenter, in dem perspektivisch das Naturkundemuseum einziehen soll, bis zum „Blauen Wunder“, dieser 1973 in nur drei Monaten errichteten Fußgängerbrücke, die 2004 schließlich abgerissen wurde. 

Nicht nur aus deren Bauphase und Bestandszeit existiert im Leipziger Stadtarchiv eine Reihe von historisch wertvollen Aufnahmen. „Allein zum Neuen Rathaus besitzen wir beispielsweise weit über 1000 Bilder von der Erbauung bis heute“, so Nora Blumberg, Mitarbeiterin Öffentlichkeitsarbeit und Digitales Stadtgedächtnis am Leipziger Stadtarchiv. 

Ein wichtiger Schritt hin zum „offenen Archiv“ ist für die Institution vor allem ihr Online-Rechercheportal, auf dem zahlreiche Digitalisate zur Verfügung stehen – und es werden immer mehr. Die digitalisierten Akten, Karten und Pläne sowie Urkunden und Geschäftsbücher können bereits jetzt von allen Interessierten dauerhaft genutzt werden. Perspektivisch sollen auch Fotografien und Ansichtskarten online abrufbar sein.

Insgesamt 51 ihrer Digitalisate hat die Gedächtnis-Institution anlässlich des Digitaltags 2022 nun den Wikimedia-Projekten zur Verfügung gestellt – zur Verwendung am 24. Juni selbst, und auch darüber hinaus. Der Digitaltag, der vom Bündniszusammenschluss „Digital für alle!“ initiiert wurde und mit deutschlandweiten Aktionen die digitale Teilhabe fördern soll, war in diesem Jahr der Anlass für eine Kooperation zwischen dem Stadtarchiv Leipzig und Wikimedia Deutschland e.V., die beide Seiten als bereichernd erlebt haben – und die gezeigt hat, welchen Gewinn es bedeutet, wenn Archive sich öffnen.

Wenn Herzblut in Projekte fließt

„Für uns war es spannend, die ganze Bandbreite des ehrenamtlichen Engagements zu erleben – und zu sehen, wie viel Herzblut in die einzelnen Wikimedia-Projekte fließt“, sagt Blumberg. 

Über „hervorragend aufbereitetes Material mit klarer Ordnerstruktur“, das seitens des Stadtarchivs angeboten wurde, hat sich wiederum Matti Blume gefreut, der seit 2008 als Ehrenamtlicher bei Wikimedia Commons engagiert ist, der Mediensammlung für gemeinfreie und frei lizenzierte Fotos, Grafiken, Audio- und Videodateien. Blume hat am Digitaltag in einer Live-Demo vorgeführt, wie Bilddateien bei Commons hochgeladen und die dazugehörigen Metadaten im manuellen Upload eingepflegt werden – „Wer hat das Foto gemacht, wie ist es datiert, was ist darauf zu sehen, ist es schwarzweiß, in Farbe aufgenommen oder nachkoloriert – all diese Informationen haben wir vom Stadtarchiv in Excel-Dateien zur Verfügung gestellt bekommen“. Best-practice-Voraussetzungen, um mehr Menschen dafür zu gewinnen, zu Commons beizutragen.

Eine große Auswahl von Bildern unter freier Lizenz ist auch für die Arbeit von Ziko van Dijk von Bedeutung. Der Historiker ist Mitinitiator des Klexikons, auch bekannt als „Wikipedia für Kinder“ – ein Projekt, das seit 2014 besteht und von Wikimedia Deutschland gefördert wird. Rund 3300 für junge Menschen verständlich aufbereitete Artikel sind hier zu finden, das Themenspektrum reicht von der Französischen Revolution bis zu „Star Trek“. Nicht auf Quantität setzt das Klexikon, sondern auf Relevanz. Wichtig ist auch die kindgerechte Bebilderung der Texte – wobei er und seine Mitstreitenden stets auf der Suche nach der größtmöglichen Vielfalt sind. Nach Motiven, die nicht Stereotype bedienen. „Im Grunde sind wir mit ähnlichen Fragen konfrontiert wie Archivare“, findet van Dijk. „Wie können wir Inhalte so aufbereiten, dass sie den Zielgruppen am besten dienen?“

Wissen verbreiten

Einen Weg der Aufbereitung von Wissen hat noch ein weiteres Wikimedia-Projekt gefunden, das anlässlich des Digitaltags präsentiert wurde: Wikisource – eine Sammlung von Quellen unter freier Lizenz. Die teils Jahrhunderte alten, noch in Fraktur geschriebenen Dokumente werden eingescannt und mit speziellen Programmen in Antiqua-Text übertragen, womit sie auffindbar für Suchmaschinen werden. Außerdem lassen sich auf der Plattform Schrift und dazugehörige Bilder auf einer Quellentextseite vereinen. Ein großer Zugewinn gegenüber dem Original.

Der Dresdner Andreas Wagner – seit 2007 bei Wikisource aktiv – hat bereits Schätze wie das komplette Reichsgesetzblatt der Jahrgänge 1867 bis 1945 auf diese Weise erschlossen. Aktuell überträgt er beispielsweise die Malerwerke des 19. Jahrhunderts des Kunsthistorikers Friedrich von Boetticher zu Wikisource. „Wir liefern wissenschaftlich brauchbare Ergebnisse“, so Wagner. „Was wir einmal fertiggestellt haben, das bleibt und muss nicht aktualisiert werden.“ Bei der Erschließung von Quellen erlebt er besonders Bibliotheken wie etwa die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) als kooperativ. „Bibliotheken”, so Wagner, wollten schließlich von Hause aus “ihr Wissen verbreiten”. 

Gemeinsamer Kampf für Offene Archive

„Gerade im Archivbereich gibt es noch immer Vorbehalte, gemeinfreie Digitalisate für die Wikimedia-Projekte zur Verfügung zu stellen“, stellt Joachim Kemper fest, Leiter des Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg. Zusammen mit Antje Diener-Staeckling, stellvertretende Leiterin im LWL-Archivamt für Westfalen, steht Kemper auch dem Arbeitskreis „Offene Archive“ beim VdA vor, dem Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V., der die aktuellen Entwicklungen von digitalen Kommunikations-, Kollaborations- und Präsentationsmöglichkeiten begleitet. Der Arbeitskreis – der zu seinem zehnjährigen Jubiläum unlängst das auch als Open Access verfügbare Buch „Deutsche Archive im digitalen Zeitalter“ herausgegeben hat – organisiert eine regelmäßige Konferenzreihe zum Thema „Offene Archive”. 

Die jüngste Ausgabe fand vom 13. bis 15. Juni 2022 beim Bundesarchiv in Koblenz statt und bot unter anderem ein ArchivCamp als Begegnungs- und Diskussionsplattform, von der wichtige Impulse ausgegangen sind. „In Präsenz lassen sich am besten gemeinsame Projekte anstoßen, etwa in Bezug auf das Erschließen von Quellen“, so Diener-Staeckling. 

Tim Odendahl – Verantwortlicher für Digitale Langzeitarchivierung im Stadtarchiv Esslingen und ebenfalls beim Arbeitskreis „Offene Archive“ aktiv – ist überzeugt, dass Archive sich vor allem dann öffnen, „wenn Projekte Rückhall finden, etwa innerhalb der Verwaltung, aber auch in den interessierten Szenen der Stadt“. Sowohl er als auch Antje Diener-Staeckling und Joachim Kemper sind überzeugt, dass gerade regionale Ansätze und Aktionen die Öffnung von Archiven fördern können: „Auch für kleinere Archive bieten die Wikimedia-Projekte einen Mehrwert.“

Offenheit und Transparenz als Ziel

„Archive sind das Gedächtnis unserer Gesellschaft und leisten einen zentralen Beitrag für unsere Demokratie. Ein Mehr an Offenheit und Transparenz muss unser Ziel sein“, betont Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Deutschen Bundestag und mit einem Impulsvortrag auf der Konferenz „Offene Archive“ in Koblenz vertreten. 

Ein Beispiel für die Verwirklichung von Notz’ Forderung ist das Forschungsprojekt #FemaleHeritage der Monacensia im Hildebrandhaus – eine Kulturerbe-Institution, die sich als literarisches Gedächtnis Münchens immer mehr der Stadt und dem Netz öffnet. #FemaleHeritage zielt darauf ab, Lücken in Bezug auf Diversität zu schließen. „Von Anfang an haben wir dabei mit Wikimedia und mit dem lokalen Raum der in den Wikimedia-Projekten aktiven Ehrenamtlichen vor Ort in München, dem WikiMuc, vor Ort kooperiert“, so die Monacensia-Leiterin Anke Buettner. „Dadurch bekam das Projektvorhaben Verbündete. Wissen wurde entdeckt und gestreut, Artikel wurden geschrieben, verbessert und mit Quellen angereichert“. Für den aktuellen Editathon wurden zeitgleich verschiedenartige Quellen über junge Münchner Schriftstellerinnen gesammelt: analog für die Monacensia und digital für Wikipedia. Ehrenamtliche, Autorinnen und die Monacensia-Bibliothekarin Christine Hannig trafen sich vor Ort und tauschten Wissen und Material aus. 

„Das Bewusstsein für Open Data und freies Wissen hat zudem den Umgang mit unseren eigenen Daten und Quellen verändert“, so Buettner. „Mittelfristig wird sich das deutlich bemerkbar machen.“ Zum Beispiel wird parallel zur aktuellen Ausstellung „Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890 – 1920“ der Monacensia-Bestand der Schriftstellerin Franziska zu Reventlow digitalisiert und frei im Netz zur Verfügung gestellt.

Zum Einstieg Hemmschwellen abbauen

Auch Kerstin Wolff, Forschungsleiterin am Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, hat es als Bereicherung erlebt, ihre Institution Anfang 2022 im Kontext des Formats GLAM digital vorzustellen: „Die Wikipedia-Ehrenamtlichen waren an den Forschungsthemen und Archivbeständen interessiert und sind in den Kontakt gegangen. Die Öffnung der Archivkartons und Wissensschätze zur Frauenbewegung bot nicht nur uns als Einrichtung einen unmittelbaren Gewinn durch die Nachfragen. Auch, dass die Ehrenamtlichen ihr Wissen in Artikel übertrugen und ihr schon vorhandenes Wissen teilten und weitergaben, war eine tolle Erfahrung.“ Wolff spricht eine klare Empfehlung an andere Kultur- und GLAM-Einrichtungen aus: „Sucht den Austausch mit Wikipedianer*innen – es lohnt sich!“

„Überhaupt ins gemeinsame Arbeiten zu kommen ist das Wichtigste und schafft die Voraussetzung dafür, zu sehen, welche Angebote man als Institution unterbreiten kann, welche Bedürfnisse uns aus der Community heraus gespiegelt werden“, so Nora Blumberg. Zum diesjährigen Digitaltag, zieht die Mitarbeiterin des Leipziger Stadtarchivs eine positive Bilanz: „Insgesamt war der Digitaltag ein guter Einstieg, um miteinander ins Gespräch zu kommen und Hemmschwellen abzubauen.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert