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Der ehemalige Präsidiumsvorsitzende im Interview

“Wir müssen mehr Widerspruch wagen”

Ein Abschiedsgespräch mit Lukas Mezger, Präsidiumsvorsitzender von Wikimedia Deutschland

Maiken Hagemeister

14. April 2022

Lukas Mezger ist seit 2013 im Präsidium des Vereins aktiv, seit zwei Amtszeiten als Vorsitzender. Im Mai gibt er sein Amt ab und stellt sich nicht erneut zur Wahl. Das neue Präsidium wird am 14. Mai 2022 auf der Mitgliederversammlung in Berlin gewählt.  

Wikimedia Deutschland: Seit mehr als 8 Jahren gestaltest Du ehrenamtlich die Vereinsarbeit. Wie bist Du denn überhaupt zum Verein gekommen?

Lukas Metzger: Ich wurde gefragt, ob ich nicht kandidieren möchte – offenbar suchte der Verein nach jemandem aus der Wikipedia-Community mit einem Interesse an Organisationsentwicklung und Governance, was ich mit meinem juristischen Hintergrund mitbrachte. Ich habe mich dann in meiner ersten Amtszeit auch hauptsächlich mit Governance-Fragen auseinandergesetzt. Gleichzeitig habe ich mich aber immer vor allem als Vertreter der Wikipedia-Community verstanden. Mein Blick auf den Verein war geprägt von einem Verständnis des Vereins als “Wikipedia-Fanclub” auf der einen und als “Greenpeace für Freies Wissen” auf der anderen Seite.

Welche verrückten Geschichten hast du in deiner Zeit erlebt?

Überrascht hat mich tatsächlich die internationale Wikimedia-Diplomatie! Dass unser Verein quasi ein Planet in einem größeren Sonnensystem ist, das war mir vorher gar nicht klar gewesen. Dass wir hier überhaupt von “Diplomatie” sprechen, ist schon irre. Verrückt war auch mein Treffen mit Günther Oettinger in Brüssel. Er war seinerzeit EU-Kommissar und ich sollte mit ihm über unsere Position zur Reform des Urheberrechts sprechen. Das war für mich als junger Jurist – ich schrieb damals noch an meiner Doktorarbeit – eine unerwartete Situation. Schöne Erinnerungen habe ich natürlich auch an unsere Präsidiums-Klausuren. Einmal landeten wir in einer Bowling-Bahn mit Disco-Beleuchtung und hatten einen Heidenspaß.

Was nimmst du mit?

Ich habe auf jeden Fall viel gelernt, wie Gremienarbeit funktioniert, wie man seine Ziele und Haltungen in einem solchen Raum durchsetzen kann. Ich stelle mir aber vor, dass das in einem so konstruktiv arbeitenden Gremium wie dem Präsidium von Wikimedia Deutschland deutlich harmonischer ist als beispielsweise im politischen Raum. Und ich bin auch ein wenig stolz darauf, wie sich der Verein in “meiner” Zeit entwickelt hat: dass wir immer weiter an unserer Struktur gefeilt haben und vor allem, dass der Verein heute auf so vielfältige Weise mit der Community zusammenarbeitet.

Es gab doch sicherlich auch ein paar Hürden zu überwinden, oder?

Für mich persönlich war es eine große Herausforderung, die Arbeit innerhalb unseres Gremiums zu organisieren. Durch unsere Bemühungen, im Präsidium möglichst verschiedene Blickwinkel einzubeziehen, setzen wir uns aus Mitgliedern der Wikipedia-Community, aus Expert*innen für politische Lobbyarbeit, institutionelle Kooperationen oder Softwareentwicklung zusammen. In einer solchen Gruppe gemeinsame Ziele für Wikimedia Deutschland mit seinen vielfältigen Aufgaben zu entwickeln, ist spannend, aber auch herausfordernd. Ich halte mich nicht für den geborenen Moderator, daher musste ich in die Aufgabe erst hineinwachsen.

Was gibst Du dem*der neuen Vorsitzenden mit auf den Weg in die neue Amtszeit?

Zunächst ist und bleibt die aus meiner Sicht wichtigste und gleichzeitig schwierigste Aufgabe des Vereins die bestmögliche Unterstützung der ehrenamtlichen Wikipedia-Community.

Deshalb freue ich mich sehr, dass auf der Mitgliederversammlung im Mai meine aktuelle Stellvertreterin Alice Wiegand als Vorsitzende kandidieren wird. Sie ist schon seit vielen Jahren für Wikimedia aktiv und in der Community äußerst gut vernetzt. Spannend wird auch das weitere Zusammenwachsen der europäischen Wikimedia-Organisationen. Und dann sind da natürlich Wikidata und Wikibase, für die Wikimedia Deutschland ja als Treuhänder für die gesamte Wikimedia-Bewegung an unseren zukunftsträchtigsten Projekten arbeitet.

Was wünscht Du Dir von einem Wikimedia der Zukunft?

Wikimedia Deutschland darf gern noch mutiger und innovativer werden, schwierige Aufgaben angehen und dabei auch Misserfolge in Kauf nehmen! Dafür brauchen wir eine Kultur, in der alle beteiligten Gruppen einander mit Vertrauen begegnen, um groß zu denken.

Über Wikimedia hinaus wünsche ich mir, dass wir alle mehr Widerspruch wagen. Dass wir nicht um des lieben Friedens willen still bleiben, sondern dass wir laut dagegenhalten, wenn unser Grundkonsens in Gefahr ist. Dafür muss man zum Streit bereit sein: Wikimedia steht für einen faktenbasierten Diskurs, in dem nach wissenschaftlichen Methoden erarbeitetes und nach journalistischen Grundsätzen recherchiertes Wissen die Grundlage für Entscheidungen ist. Wir müssen denen widersprechen, die es mit diesem Grundkonsens nicht so genau nehmen – zum Beispiel diesem einen Onkel, der auf dem Familienfest Verschwörungstheorien auftischt. In den Wikimedia-Projekten haben wir uns auf dieses eigentlich selbstverständliche Koordinatensystem geeinigt, innerhalb dessen verschiedene Meinungen nebeneinanderstehen können. Wo Menschen diesen für unsere Gesellschaft so enorm wichtigen Rahmen verlassen, braucht es unseren konsequenten und lauten Widerspruch.

Bleibst Du Wikimedia treu?

Das Thema Freies Wissen wird mich sicherlich mein Leben lang begleiten und ich möchte definitiv weiter Teil der Wikipedia-Community bleiben. Ich freue mich schon jetzt darauf, auf der nächsten WikiCon im Herbst wieder mit dem WikiEulenOrchester Musik zu machen. Außerdem möchte ich die Wikipedia weiterhin bei Fragen zum Urheber- und Persönlichkeitsrecht unterstützen. Ich hoffe, dass ich auch wieder mehr Zeit finden werde, neue Artikel anzulegen und meine speziellen Interessen wie den Kampf gegen die Klimakrise stärker zu verfolgen.

Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit!

  • Sehr geehrter Herr Lucas Mezger, Ihre Statements für freies Wissen haben mich heute begeistert.
    Ihr Engagement der vergangenen Jahre hat zum großen Erfolg von Wikimedia geführt. Ihre Aufforderung zum Widerspruch bei Verschwörungsthstheoretikern ist Ihr Vermächtnis. Herzlichen Dank und alles Gute!
    Margarete Speth

    Kommentar von Margarete Speth am 13. Mai 2022 um 22:45

  • „Verschwörungstheorien“ und „Widerspruch“: damit haben Sie die passenden Schlüsselworte im aktuellen Deutschland geliefert! Jetzt fehlt nur noch jemand (es kann auch eine Jemandin sein) der bestimmt, wo eine solch böse „Verschwörungstheorie“ beginnt und schon ist die weitere Ausgrenzung Andersdenkender und die Monopolisierung erlaubter Meinungen perfekt. Erschütternd, dass Sie die damit verbundenen Missbrauchtsmöglichkeiten nicht erkennen. Für Putin wird auch der Krieg in der Ukraine als Verschwörung gelten. Und ich Blödmann dachte immer, konstituierend für eine Demokratie sei absolute Meinungsvielfalt und nicht etwa die von Ihnen hier propagierte künftig zu lenkende und zu koordinierende Meinungseinfalt. Freiheiten, die früher mühsam erstritten wurden, wollen junge Juristen wieder einschränken. Ich bin selber – wenngleich kein junger – Jurist und sage nur noch: gute Nacht Wikipedia!

    Kommentar von Thomas Schaefer am 12. Mai 2022 um 14:17

  • Vielen Dank für deine Arbeit, Lukas! Sehr sympathisch und gleichzeitig inhaltsklar und verständlich die Antworten.
    Und Danke für das Hervorheben desr Wichtigkeit, mehr Widerspruch zu wagen. Nicht um des Prinzips willen – Wikipedia ist ja so gut wie aus der Pubertät raus, oder? – sondern da, wie du es sagst, wo der Grundkonsens verlassen wird.
    Alles Gute für dich und das, was du vorhast!

    Kommentar von Jürgen Wörner am 9. Mai 2022 um 20:03

  • Vielen Dank Frau Hegemeister,

    für das kurze und doch informative Interview.

    Danke auch für das nur mäßig verwendete Gendern (steigert die Lesefreundlichkeit deutlich).

    Und alles Gute für den Herrn Lukas Mezger

    Gruß aus Saarbrücken
    Peter Scholze, 25.04.2022

    Wie die Begegnung mit Herrn Öttinger in Brüssel aus- und vielleicht weiterging hätte mich doch interessiert ;-) ….

    Kommentar von Peter Acholze am 25. April 2022 um 11:03

  • Sehr sympathische Interview-Antworten. Und vielen Dank für allen Einsatz für dieses großartige Projekt, Lucas Mezger!

    Eine Frage beschäftigt mich aus gegebenem Anlass: Wie kann Wikipedia verhindern,
    dass manche Artikel zu Werbeartikeln mit entsprechender Schlagseite werden? Ich selbst habe manchmal, aus persönlichen Rücksichten, Hemmungen, mich als Kritiker zu betätigen. Beispiel: der Artikel “Integrale Theorie”. Vielleicht müsste eine Kritik unter
    Pseudonym möglich sein?

    Dank und Grüße an alle Beteiligten!

    Kommentar von Prof. Johannes Heinrichs am 21. April 2022 um 18:17

  • eigentlich Schade! Solche Personen wie er sind schwer ersetzbar. Leider habe ich nicht gehört, in welcher Position Herr Metzger der Community weiter verbunden bleibt
    Schauwecker

    Kommentar von schauwecker am 21. April 2022 um 16:17

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