Kürzlich hat die Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften – Leibniz Informationszentrum Wirtschaft (ZBW) den Bericht “Science 2.0 – Mapping European Perspectives” veröffentlicht. Darin werden 26 Positionspapiere wissenschaftlicher Organisationen untersucht, die die Europäische Kommission im Rahmen eines offenen Konsultationsprozesses zum Thema Science 2.0 in Europa veröffentlicht hat. Das Fazit des Berichts: Es gibt in der Europäischen Union kein einheitliches Verständnis des Begriffes Science 2.0. Welche verschiedenen Sichtweisen gibt es? Und ist ein einheitliches Verständnis zwingend notwendig?
Prof. Tochtermann: Ganz gleich, welchen Begriff man verwendet, es geht immer um die Chancen und Risiken der Digitalisierung der Wissenschaft. In Abhängigkeit des Schwerpunktes, den eine Forschungsgruppe setzt, wird mal von Science 2.0 und mal von Open Science gesprochen; dies sind die beiden dominierenden Begriffe für dieses Thema. Die Gruppe, die den Begriff Science 2.0 verwendet, setzt einen inhaltlichen Schwerpunkt auf partizipatorische Aspekte, die durch die Digitalisierung der Wissenschaft möglich werden. Beispielsweise geht es darum, zu untersuchen, welche Rolle soziale Medien in der Wissenschaft spielen. Demgegenüber konzentrieren sich die Forschungsaktivitäten im Umfeld Open Science auf die Frage, welche Auswirkung die Öffnung von Wissenschaft und wissenschaftlichen Ergebnissen hat. Hier spielen also Themen wie Open Data und Open Access eine große Rolle.
Ich möchte noch kurz das Verhältnis zwischen Science 2.0 und Open Science darstellen: Science 2.0 muss nicht notwendiger Weise „open“ sein. So können sich z. B. Forschungsgruppen in einem sozialen Medium zu einer geschlossenen Gruppe zusammenschließen und erzielte Ergebnisse lizenziert veröffentlichen. Umgekehrt kann Science 2.0 Open Science unterstützen, etwa indem es Werkzeuge zur offenen Zusammenarbeit bereitstellt, wie etwa wissenschaftliche Wikis oder Blogs. Ich glaube also nicht, dass ein einheitliches Verständnis zwingend notwendig ist. Denn das Ziel ist klar, es geht um die Förderung der Digitalisierung der Wissenschaft, und dies mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.
Welche thematischen Handlungsfelder sind für die Wissenschaft am wichtigsten und wo erhoffen Sie sich politisches Handeln?
Prof. Tochtermann: Hier möchte ich drei Handlungsfelder aufzeigen:
- Die ganze Science 2.0-Bewegung ist sehr stark „bottom-up“ getrieben. Das heißt, die Forschenden haben sich selbst organisiert und für sich selbst neue Wege der Zusammenarbeit erschlossen. Dieser Charakter muss unbedingt erhalten bleiben und darf nicht durch politische Maßnahmen unterlaufen werden.
- In unserem wissenschaftlichen Anerkennungssystem werden noch viel zu wenig alternative Bewertungskriterien eingesetzt. Ein guter Anfang wird etwa schon damit gemacht, dass Open Access-Strategien, etwa die des Landes Schleswig-Holstein, fordern, auch Open Access-Veröffentlichungen bei der Rekrutierung von wissenschaftlichem Personal zu berücksichtigen. Dies sollte noch ausgeweitet werden, sodass auch Engagement in sozialen Medien, natürlich immer mit Bezug zur eigenen Forschung, als Bewertungskriterium herangezogen wird.
- Nahezu alle bedeutenden Dienste im Social Web werden in den USA und zumeist von privatwirtschaftlichen Unternehmen betrieben. Dies führt unweigerlich zu Rechtsunsicherheiten, etwa wenn ein Projektantrag mit personenbezogenen Daten wie einem Lebenslauf eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin über einen solchen Dienst gemeinsam bearbeitet wird. Da die Server meist ebenfalls in den USA stehen, wird wegen der Weitergabe personenbezogener Daten an ein amerikanisches Unternehmen deutsches Datenschutzrecht verletzt. Wir müssen hier Rahmenbedingungen schaffen, die den Forschenden Rechtssicherheit garantieren. Unabhängig davon stellt sich die Frage, was passiert, wenn ein von Forschenden intensiv genutzter Dienst im sozialen Web aus wirtschaftlichen Gründen einfach abgestellt oder signifikant verändert wird.
Wikipedia und Wikidata sind zwei Projekte, durch die Freies Wissen gemeinsam erstellt wird. Wichtig für unser Verständnis von Freiem Wissen ist neben freiem Zugang auch die rechtliche Nachnutzbarkeit und Weiterverarbeitung von Inhalten. Inwiefern spielt dies für Science 2.0 zukünftig eine Rolle?
Prof. Tochtermann: Science 2.0 legt seinen Schwerpunkt auf neue Möglichkeiten zur Partizipation im Forschungsalltag. Dies wiederum kann dann besonders gut erreicht werden, wenn die eigenen Erkenntnisse zur Nachnutzung und/oder Weiterverarbeitung offen verfügbar gemacht werden. Insofern unterstützen wir mit unseren Aktivitäten diesen Ansatz ausdrücklich.
Prof. Dr. Klaus Tochtermann ist Professor am Institut für Informatik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie Direktor der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften – Leibniz Informationszentrum Wirtschaft (ZBW). Auf seine Initiative wurde im Jahr 2012 der Leibniz-Forschungsverbund “Science 2.0” ins Leben gerufen, der die Auswirkungen der Digitalisierung und insbesondere des Social Web auf wissenschaftliche Forschungs- und Publikationsprozesse untersucht. Wikimedia Deutschland ist einer von 37 Partnern im Verbund.
Mehr aus der Reihe “Freies Wissen und Wissenschaft”
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 02): Offene Bildungsressourcen (OER) an Universitäten und Hochschulen: Plädoyer für eine didaktische Sicht (Gastbeitrag von Dr. Sandra Hofhues, Universität zu Köln)
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 03): Open Access und seine Wirkung in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft (Gastbeitrag von Ulrich Herb,Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek)
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- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 05): Wikipedia als Instrument der Forschungskommunikation (Interview mit Prof. Dr. Patrick Franke, Universität Bamberg)
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 06): „All of Open Access on a stick“, oder: Wie überwinden wir die Open-Silos? (Gastbeitrag von Lambert Heller,Open Science Lab der TIB Hannover)
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