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Italienische Wikipedia im Streik

WMDE allgemein

6. Oktober 2011

Die italienische Wikipedia-Community ist in diesen Tagen einen Schritt gegangen, der so in der 10-jährigen Geschichte der freien Enzyklopädie einmalig ist. Seit gestern Abend  ist die italienische Version der größten Wissenssammlung der Menschheit für Leser nicht mehr erreichbar – die Inhalte sind vorübergehend versteckt. Stattdessen erklärt ein Brief die Gründe für dieses Vorgehen. Ursache dafür ist der Paragraph 29 eines italienischen Gesetzesentwurfs, den das italienische Parlament zurzeit debattiert. Dieser enthält eine Verpflichtung für Webseiten, innerhalb von 48 Stunden kommentarlos jegliche Korrektur am Inhalt vorzunehmen, die der Antragsteller im Interesse seiner Reputation fordert. Unerfreulicherweise verlangt dieses Gesetz keine Evaluation durch eine unabhängige dritte Person.

Die ehrenamtlichen Wikipedia-Autoren haben in den letzten 10 Jahren in Gemeinschaftsarbeit eine neutrale, frei lizenzierte und vor allem unabhängige Wissensquelle erstellt. Relevanzkriterien, Löschanträge, Änderungen in Artikeln und Umgang mit Persönlichkeitsrechtsverletzungen werden öffentlich diskutiert. Durch Quellennachweise, Belege und die Einhaltung eines neutralen Standpunkts wird die Qualität der Artikel gesichert.  Wikipedia hat eine Reihe von Mechanismen etabliert, über die Sorgen und Beschwerden von Einzelpersonen oder Organisationen gesammelt und gelöst werden. Das jetzige System zur Entfernung falscher Informationen ist erprobt und belastbar. Diese bewährten Arbeitsmethoden sind nun durch eine mögliche Gesetzesänderung in Italien in Frage gestellt und damit werden die Grundprinzipien der freien Enzyklopädie missachtet.

Seit Bestehen des Online-Lexikons haben Wikipedia-Benutzer auf Nachfrage hin jede Art von Inhalt überprüft, der für jemanden nachteilig sein könnte, ohne dabei auf die Neutralität und Unabhängigkeit des Projektes verzichten zu müssen. Eine Korrektur ohne Recht auf Diskussion und Überprüfung der Inhalte veröffentlichen zu müssen, würde zu einer inakzeptablen Einschränkung der Freiheit und Unabhängigkeit von Wikipedia führen.

Als gemeinnütziger Verein zur Förderung Freien Wissens setzt sich Wikimedia Deutschland nicht nur für den freien Zugang zu Wissen ein, sondern fördert und unterstützt auch die Erstellung und Verbreitung von Freiem Wissen. Wikimedia Deutschland ist nicht an redaktionellen Prozessen beteiligt und mischt sich auch nicht in die gewachsenen Strukturen und das komplexe Regelwerk von Wikipedia ein. Die aktuelle Diskussion über den Gesetzesentwurf in Italien widerspricht jedoch unseren Grundsätzen und der Mission der Förderung Freien Wissens.

Die italienische Autoren-Gemeinschaft hat sich für eine drastische Reaktion entschieden, die nicht nur auf Zuspruch stößt. Vielleicht hätte es andere Maßnahmen gegeben, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Aber die Entscheidung, Wikipedia für geplante 48 Stunden nicht verfügbar zu machen, ist zumindest sehr wirkungsvoll. Es geht hier um ein grundsätzliches Problem im Umgang mit Freiem Wissen, Neutralität und Meinungsfreiheit. Dies zeigen auch die zahlreichen Medienberichte, Online-Unterstützer weltweit und Solidaritätserklärungen.

Wikimedia Deutschland steht an der Seite der Freiwilligen aus Italien, die gegen den „Kill-Blog“ genannten Gesetzesentwurf protestieren. Dieses Gesetz würde die Arbeit von Projekten wie Wikipedia behindern: offene, ehrenamtliche und gemeinschaftliche Orte, die dem Teilen von Wissen gewidmet sind. Ganz zu schweigen von der Einschränkung der Möglichkeit für alle Internet-Benutzer, sich an demokratischen Vorgängen zu beteiligen und ihr Recht auf freie Rede auszuüben.

Kommentare

  1. […] Community, die so in diesem Jahr ihren Protest gegen einen netzpolitischen Gesetzesentwurf ausgedrückt hat. Das Gesetz mit Namen “Stop Online Piracy Act” beschäftigt sich mit Möglichkeiten […]

  2. Marcus Cyron
    7. Oktober 2011 um 18:36 Uhr

    Jan (welcher?), ich bin hier absolut anderer Meinung.

  3. Anneke
    7. Oktober 2011 um 17:21 Uhr

    Ich glaube es bleibt abzuwarten, ob wir solche Aktionen öfter sehen werden, denn sie setzen eine geschlossene Community voraus. Das ist nicht überall so. @verein: Danke für das Statement.

  4. Jan
    6. Oktober 2011 um 23:13 Uhr

    Ich finde die Stellungnahme in Ordnung. Es ist die Pflicht von Wikimedia als Verein, an solchen Stellen als Lobbyorganisation zu agieren.

    Allerdings finde ich es absolut unmöglich und einen mittelschweren Skandal, wie hier die Webseite der italienischen Wikipedia zur politischen Meinungsmache missbraucht wird. Ich schreibe absichtlich “missbraucht”, denn es ist für mich ganz klar eine Überschreitung einer Grenze. Das ist aus meiner Sicht ein Dammbruch. In Zukunft werden wir solche Aktionen öfter sehen. Ich hoffe, dass die Foundation dafür Sorge trägt, das so etwas nie wieder vorkommt. Wir haben als Wikipedia-Autoren sowieso schon viel zu viel Meinungsmacht in Bezug auf unsere Größe.
    Mit der Aktion hat die italienische Wikipedia ihre eigenen Grundsätze verraten: Nämlich den des neutralen Standpunkt und das Ziel der freien Verbreitung von Wissen.

    Und das sage ich, obwohl ich selbstverständlich inhaltlich das Ziel unterstütze.

  5. DerHexer
    6. Oktober 2011 um 22:41 Uhr

    Es wäre noch ganz gut, wenn man die wörtlichen Zitate aus dem Bericht in Anführungszeichen setzen würde. Zudem erscheint mir „Die aktuelle Diskussion über den Gesetzesentwurf in Italien widerspricht jedoch unseren Grundsätzen und der Mission der Förderung Freien Wissens.“ doppeldeutig: So wie ich den Tenor dieses Artikels hier verstehe, wird die Diskussion innerhalb der Wikimedia-Gemeinschaft selbstverständlich unterstützt. Aber nicht die Diskussion im italienischen Parlament im Interesse einer Einführung des Gesetzes.

    Als Update kann genannt werden, dass auf das Projekt wieder zugegriffen werden kann. Grudn dafür ist ein Zurückrudern seitenes der Politik: nur noch Online-Zeitungen wären betroffen (was die Sache in meinen Augen nicht wirklich ändert, dies bleibt trotzdem Beschneidung der Meinungsfreiheit). Bis zur endgültigen Entscheidung des Parlaments verbleibt ein Hinweis über allen Artikel (die sogenannte Site Notice).

  6. Marcus Cyron
    6. Oktober 2011 um 14:46 Uhr

    Grundsätzlich: gut, daß es vom Verein ein Statement gibt. Dennoch ist es mir zu staatstragend und weich. Ich hätte mir noch deutlichere Worte gewünscht.

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