Den Vormittag verbrachte man – das ist fast schon Tradition – mit der Regelung von Formalien: Wahl der Versammlungsleitung, Wahl der Wahlkommission, Festlegung der Tagesordnung, Feststellung der ordnungsgemäßen Ladung – in Deutschland macht man so etwas gründlich und das bedeutet eben, dass es schon mal eine Abstimmung über den Abstimmungsmodus geben kann.
Deutlich spannender wurde es in der anschließenden Beratung über das eingebrachte Misstrauensvotum gegen den Vorstand. Dieser basierte in der Hauptsache auf einen Mangel an Beteiligung der Mitglieder bei der im Spätherbst 2010 erfolgten Gründung der Wikimedia Fördergesellschaft. Interessant war für mich, dass von den Mitgliedern die Notwendigkeit zu diesem Schritt gar nicht abgestritten, das Ergebnis vielmehr als notwendig und gut erachtet wurde, sondern nur die Art und Weise der Mitgliederbeteiligung an diesem Schritt kritisiert wurde. In knapp zwei Stunden konnten aber in einer – erstaunlich ruhigen und sachlichen – Diskussion viele Fragen geklärt, viele Ungereimtheiten aufgelöst und viele Missverständnisse beseitigt werden.
Zwischendrin konnte man sich einem weitaus erfreulicheren Punkt
zuwenden: dem Mittagessen. Gestärkt mit Kartoffelsuppe und / oder Chili con carne ging es zu Phase 2 der Debatte.
Mitgenommen aus dieser Diskussion habe ich für mich, dass es zwei große Gruppen an Mitgliedern gibt, die sich in ihrem Verständnis der Vereinsarbeit unterscheiden. Während die eine Gruppe dem Vorstand eine Art „Mandat“ zur Erledigung der anfallenden Geschäfte – wozu auch so „spektakuläre Ereignisse“ wie die Gründung einer Fördergesellschaft gehören können – inklusive dem dazu notwendigen Vertrauensvorschuss gibt, möchte die andere Gruppe deutlich stärker in die laufende Vereinsarbeit einbezogen und bei solchen Entscheidungen vorab befragt werden. Eine kleine Splittergruppe darf dabei nicht unterschlagen werden: diejenigen, die prinzipielle Kritik an jeglicher Arbeit des Vorstands üben, dann aber handumkehr auch geistig zu erschöpft sind, um einen Verbesserungsvorschlag einzubringen. Ich denke, es wird tatsächlich eine große Aufgabe für die Zukunft sein, darüber zu befinden, wie mit den beiden großen Gruppen umgegangen werden soll bzw. wie sich der Verein weiterentwickeln muss, um die krass unterschiedlichen Vorstellungen gleichfalls zu befriedigen.
Zurück zur Aussprache über den Misstrauensantrag. Die Klärung der Missverständnisse scheint hier erfolgreich gewesen zu sein, denn zum Ende der Debatte kam die Frage auf, ob man die Abstimmung zum Misstrauensantrag nicht aufschieben, vertagen oder gar komplett unter den Tisch fallen lassen könne. Dies wurde – aus verschiedenen Gründen – verneint und so kam es zum ersten Auftritt der Wahlkommission, die die entsprechenden Stimmzettel einsammelte und zusammen mit den abgegebenen Briefwahlstimmen auszählte. Das Ergebnis war für mich nicht berauschend, aber gut: 48 Mitglieder stimmten für den Antrag, 129 dagegen, 2 enthielten sich der Stimme.
Danach präsentierten Alice Wiegand und Michail Jungierek den Vorschlag der vor knapp einem Jahr gegründeten AG Verantwortungsstruktur, der – grob zusammengefasst – einen hauptamtlichen Vorstand anstelle des Geschäftsführers und anstelle des bisherigen Vorstands ein ehrenamtliches Präsidium vorsieht. Während die Aufgaben der jeweiligen „Parteien“ dabei vollkommen gleich bleiben, wird die Haftungsfrage verändert. Auch hier diskutierte die Versammlung sehr sachlich die Vor- und Nachteile des vorgestellten Modells. Die Notwendigkeit, die Haftung vom ehrenamtlich tätigen Vorstand auf denjenigen zu übertragen, der tatsächlich das Tagesgeschäft erledigt und dafür bezahlt wird, schien von einer breiten Mehrheit der Vereinsmitglieder mitgetragen zu werden, denn das Ergebnis der Abstimmung ergab 115 Ja-Stimmen, 62 Nein-Stimmen und 3 Enthaltungen. Der Antrag verpasste damit allerdings ganz knapp die für eine Satzungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Letzter Punkt der Tagesordnung war die Aussprache zu dem von Olaf Simons erarbeiteten Modell und seinem daraus resultierenden Antrag auf eine Satzungsänderung. Die Zustimmung zu diesem Modell war deutlich geringer: 50 Ja-Stimmen standen 125 Nein-Stimmen entgegen, Enthaltungen gab es hier 2.
Aufgrund der bereits recht fortgeschrittenen Zeit – auch das ist fast schon eine Tradition bei unseren Mitgliederversammlungen – und der damit beginnenden Ermüdung der Versammlungsteilnehmer, war der letzte Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ schnell abgewickelt und man vertagte sich auf die kommende ordentliche MV im März 2011.
Wie üblich nach einer solchen Veranstaltung, gilt es eine Danksagung auszusprechen. Diese ist verbunden mit der Hoffnung, dass ich diesmal keinen Beteiligten vergesse. Ich danke den Mitarbeitern der Geschäftsstelle für die Organisation der MV und für die Betreuung der Teilnehmer während der MV, Henriette und Cornelius für die Einlasskontrolle, der aus Debora, Ralf und Jens bestehenden Wahlkommission für die flotte Auszählung, Elly und Tobias für fleißiges Protokollieren, Arne und Martin für die Leitung der Versammlung und natürlich allen Anwesenden für die Anreise, die konstruktive Debatte und den ein oder anderen kleinen privaten Plausch in den Pausen.
Nachtrag
Vorwurf des Wahlbetrugs bei der aoMV
Die ersten Reaktionen im Nachgang auf die außerordentliche Mitgliederversammlung ließen nicht lange auf sich warten und kamen – auch in diesem Punkt wollen wir mit Traditionen nicht brechen – von denjenigen, die gar nicht anwesend waren. Es fiel der Begriff Wahlbetrug.
Nun ich will hier nicht lange auf Begrifflichkeiten herumreiten, kann es mir aber trotzdem nicht ganz verkneifen: Eine Wahl fand gar nicht statt! Die außerordentliche Mitgliederversammlung begnügte sich nämlich mit einer Abstimmung. Wahlen werden im März 2011 stattfinden, dann nämlich, wenn die nächste ordentliche Mitgliederversammlung von Wikimedia Deutschland stattfindet.
Dennoch dürfen wir diesen Vorwurf nicht ignorieren. Da ich im Gegensatz zu Verfassern solcher Vorwürfe von Anfang bis Ende der Mitgliederversammlung beiwohnte, möchte ich auch hierzu meine Eindrücke ergänzen:
Die Vereinsmitglieder Debora Weber-Wulff, Ralf Bösch und Jens Schmidt haben sich freiwillig gemeldet und wurden von den versammelten Mitgliedern als Zählkommission eingesetzt. Debora Weber-Wulff (WiseWoman) wurde als Leiterin der Zählkommission für eine vereinsinterne Abstimmung von den Mitgliedern der Zählkommission gewählt. Debora stellte in einer WP-Diskussion am Wochenende folgendes klar:
„Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil ich a) mein Unterschrift zur Einleitung dieses aoMV gegeben habe, weil ich große Probleme mit dem Kommunikation von wichtigen Dingen innerhalb des Vereins habe und b) bereits als Wahlleiterin bei etliche Universitätswahlen gearbeitet habe und seitdem ich den deutschen Staatsbürgerschaft angenommen habe, immer im Wahlvorstand einer Nachbarbezirk für Bundestag-, Abgeordnetenhaus- und Europawahlen sowie Volksabstimmungen mitmache und c) Beamtin des Landes Berlins bin. Als Dekanin einer großen Fachbereich bin ich es auch gewöhnt, Verwaltungsvorgänge zu überwachen.“
Übrigens sind aus meiner Sicht auch die beiden anderen Mitglieder der Zählkommission eher den Vereins-/Vorstandskritikern zuzuordnen. Weiter schreibt Debora:
„Mir wurden die Briefwahlunterlagen von Pavel Richter übergeben. Ich habe die verschlossene Stimmzettel erhalten, und ein Ordner mit den geprüften Wahlscheine. Wenn gewollt wird, dass wir in der Zählkommission auch die Wahlberechtigung prüfen, dann muss die Wahlordnung geändert werden […].
Es ist ja üblich bei einer Wahl, das die Überprüfung der Wahlberechtigung vor der Auszählung beginnt. Wir haben bei der ersten Auszählung länger gebraucht, weil wir uns erst mal über die unklaren Fälle unterhalten müssten: wo der Wahlschein vermutlich im Stimmzettelumschlag wäre (man spürt, wie dick es ist), oder es gar keinen Wahlschein gab. Wir haben alle Fälle protokolliert. Dann haben wir die Wahlumschläge geöffnet, getrennt nach den 3 Wahlgängen, und die Kartons der anderen beiden verschlossen. Jederzeit war Zugang zum Wahlauszählung, und Martin Zeise (Versammlungsleiter) war teilweise auch dabei. […]“
Der Rechtsanwalt war die ganze Zeit anwesend, es war ja eine offene Auszählung. Er wurde vor allem gebraucht, als nachgerechnet werden musste, ob der zweite Antrag – die von Sebastian Moleski eingebrachte Satzungsänderung – nun erfolgreich war oder nicht, weil ganz genau in der Wahlordnung nachgeschaut werden musste, wie Enthaltungen zu zählen sind. Egal wie man zählte, der Antrag fand keine erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Ich sehe, dass ein seit Jahren funktionierendes und übliches Verfahren plötzlich kritisiert wird und bin eigentlich überrascht, dass uns Wahlbetrug und nicht Dummheit vorgeworfen wird. Denn, mal ganz ehrlich, wenn man bei einer Wahl betrügen will, dann sollte wenigstens das Wunschergebnis dabei raus kommen.
Daß ich über einen solchen Automatismus gezwungen werde mit zu bekommen, daß er sich überhaupt dazu äußert. Ich will die Verdrehungen gar nicht wissen.
@Marcus Du kannst Marcus Beitrag doch inhaltlich hier kommentieren. Wo ist das Problem?
Kann man diese Kompa-Trackbacks nicht entfernen? Der Herr beschwert sich zwar über angebliche DDR-Zustände, erlaubt seinerseits aber nichtmal Kommentare. Diese Bigotterie müssen wir nicht noch stützen.
[…] bekannt, indem sie die außerordentliche Hauptversammlung erzwangen. Die seltsamen Vorfälle werden im offiziellen Wikimediablog in einer Rhetorik marginalisiert, die erstaunlich die gute alte DDR erinnert. Besonders gut gefällt […]
Es gibt wohl eine theoretische Lücke, die bislang Niemandem aufgefallen war. Offenbar nur Jemandem bei dieser MV. Diese Person(en) haben aber nicht die MV darauf aufmerksam gemacht, sondern dieses nach Außen kommuniziert. Dort wurde ein Betrug konstruiert (der, s.o., aus mehreren Gründen weder war, noch möglich war). Offenbar wurde aber nicht auch kommuniziert, daß drei kritische Mitglieder in der Zählkommission saßen. Für den Effekt wurden auf dem MV leider einmal mehr ein paar Leute geopfert. Für persönliche Ziele opfert man offenbar Jeden.
Also schließen wir einfach das nächste Mal die Lücke in der Wahlordnung.
Danke für diese ausführliche Darstellung der Ereignisse und die rasche Reaktion auf die Vorwürfe der Abstimmungsmanipulation; finde ich insgesamt sehr gelungen.
Danke für die Darstellung, insbesondere auch die Fakten die Debora geliefert hat. Damit wird klar, dass es THEORETISCH die MÖGLICHKEIT der Abstimmungsmanipulation gegeben hätte. Ich kann sie mir nicht vorstellen und unterstelle auch niemanden, dass diese Möglichkeit genutzt worden ist! Wir sollten aber solchen Unterstellungen für die Zukunft durch entsprechende Modifizierung unserer Wahl- bzw. Abstimmungsordnung einen Riegel vorschieben.
Sehr informativ, interessant und amüsant geschrieben. Danke!
Ich empfand diese MV auch als sehr konstruktiv. Nach den Ereignissen der MV im letzten Jahr hatte ich wenig Lust auf diese, aber sie war am Ende interessant und lehrreich. Wenn wir mit unseren Verschiedenen Ansichten und Meinungen so „erwachsen“ diskutieren können, bin ich sehr für mehr MVs pro Jahr. Am besten MVs auf denen über nichts abgestimmt wird, sondern in denen nur über konkrete Probleme, Ideen und Projekte diskutiert wird.
Sehr informativ. Danke!
Eine sehr schöne Zusammenfassung der Versammlung und auch der nachfolgenden Aktionen. Danke dafür!