Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder Mensch an der Menge allen Wissens frei teilhaben kann.
Im Mai hatten wir in einem Blogbeitrag von der Vorstandsklausur berichtet. Heute möchte ich mit euch einige der Inhalte teilen, die dabei herausgekommen sind.
Wichtigstes Ziel der Sitzung war es, eine gemeinsame Idee, eine Vision davon zu entwickeln, wo der Verein langfristig hin will. Was soll erreicht werden? Wie stellen wir uns die Wikimedia-Welt in zwei, fünf, zehn Jahren vor? Das ist für Internetverhältnisse eine lange Zeit. Aber mit klaren Zielen vor Augen werden wir in die Lage versetzt, nachhaltiger zu agieren und Projekte zu unternehmen, die über mehrere Monate oder Jahre laufen. Das passt zum Beispiel auch zu zwei unserer größeren Projekte: Medienkompetenz in Schulen und Generation 50plus. Beides sind Initiativen, die nicht nach ein oder zwei Monaten erledigt sind und damit über längere Zeit Geld und Personal binden.
Wie sind wir vorgegangen?
Unter der Moderation von Anna Royon-Weigelt haben wir unsere Diskussion in drei Schritte geteilt. Zuerst haben wir die Personen, Gruppen, Organisationen und Institutionen identifiziert, die entweder großes Interesse am Verein haben oder durch ihr Handeln großen Einfluss auf uns ausüben. Im Fachchinesisch der Strategieplanung werden diese Personen und Gruppen als Stakeholder bezeichnet. Für Wikimedia Deutschland sind dies auf der externen Seite unter anderem die Leser/Nutzer der Inhalte, Medien, Spender, Autoren, die Community, Artikelsubjekte (Personen und Unternehmen, die Thema von Artikeln, Fotos und anderen Beiträgen sind) und die Politik, auf der internen Seite unter anderem die Mitglieder, der Vorstand, die Mitarbeiter und die Freiwilligen.
Im zweiten Schritt haben wir die gefundenen Personen und Gruppen nach Einfluss auf und ihr Interesse am Verein geordnet. Unter „Einfluss“ muss man hier mehr verstehen als das direkte Einwirken. Es geht auch um Einfluss, der passiv dadurch entsteht, dass wir unsere Handlungen nach den Vorstellungen und Erwartungen einer Gruppe oder Institution richten, weil das im Interesse des Vereins ist. Bestes Beispiel sind die Leser der Wikipedia. Aktiv nehmen sie keinen Einfluss auf den Verein, trotzdem ist ein großer Teil unserer Aktivitäten (z.B. die Server in Amsterdam oder das Schulprojekt) auf die Leser der Wikipedia ausgerichtet, weil das zum Vereinszweck und damit zu unseren zentralen Interessen gehört. Gleichzeitig haben die Leser in dieser Rolle praktisch kein Interesse am Verein. Das ist nicht ungewöhnlich: Die meisten Kunden der Telekom haben relativ wenig Interesse an der „Deutschen Telekom AG“, wenn sie telefonieren. Um beim konkreten Beispiel der Leser zu bleiben: Bei der Beurteilung des Einflusses und des Interesses der Leser haben wir also Ersteres als hoch und Zweiteres als niedrig eingestuft.
Schließlich haben wir die sechs Gruppen herausgenommen, die wir unter Beachtung dieser Einstufungen als die wichtigsten erachten:
- Leser und andere Nutzer zum eigenen Zweck
- Nachnutzer im Sinne von Wiederveröffentlicher (z. B. Bildungseinrichtungen, Verlage, Entwickler, etc.)
- Community der aktiven Benutzer
- Bildungswesen bestehend aus Bildungseinrichtungen (privat wie öffentlich) und -personal
- Medien im konventionellen wie modernen Sinn
- Gesetzgeber und Rechtsprechung
Wesentlicher Faktor neben Einfluss und Interesse war bei der Auswahl natürlich auch der Satzungszweck des Vereins, also „die Erstellung, Sammlung und Verbreitung Freier Inhalte (engl. Open Content) in selbstloser Tätigkeit zu fördern, um die Chancengleichheit beim Zugang zu Wissen und die Bildung zu fördern“. Diese Diskussion war relativ umfangreich, da es immer schwierig ist, sich auf eine kleinere Menge „wichtigster“ Gruppen zu beschränken. Gleichzeitig ist aber eine Fokussierung notwendig, schon weil Ressourcen begrenzt sind und eine Konzentration auf alles in der Praxis eher zu einer Konzentration auf nichts führt. Diese Gruppen sind es, die zukünftig für die Arbeit des Vereins im Mittelpunkt stehen werden. Das heißt nicht, dass andere Gruppen nicht wichtig sind; sie müssen selbstverständlich ebenfalls berücksichtigt werden. Aber die Aktivitäten des Vereins sollen in der Wirkung primär auf diese sechs Gruppen ausgerichtet sein.
Was ist das Ergebnis?
Nachdem wir uns auf die sechs Gruppen geeinigt hatten, war der nächste Schritt, die tatsächlichen langfristigen Ziele, sprich „Visionen“ zu entwickeln.
Ein kurzer Kommentar zu „Visionen“: Seit dem bekannten Spruch von Kanzler Schmidt („Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“) ist der Begriff etwas diskreditiert, unserer Meinung nach zu unrecht. Wenn ein Unternehmensgründer sich vorstellt, dass er in fünf Jahren eine Million Euro Jahresumsatz hat, dann ist das eine nützliche Vision, die ihn in seinen Aktivitäten leitet. Wenn eine gemeinnützige Organisation sich vorstellt, in zehn Jahren 40 Millionen HIV-Neuinfektionen in Afrika zu verhindern, ist das ebenfalls eine nützliche Vision, die hilft, langfristig zu planen, zu investieren und aktiv zu werden. Nichts anderes ist auch mit Visionen im Zusammenhang mit dem Verein gemeint. Wir wollen uns vorstellen, wie die „Wikimedia-Welt“ in zehn Jahren aussieht, um dann herauszufinden, wie wir das erreichen können. Organisationen, die hingegen keine Vision haben und nur von Tag zu Tag oder Monat zu Monat planen, sind in ihrer Entwicklung erfahrungsgemäß viel stärker von Glück und Zufall abhängig und entsprechend schlechter positioniert, mit unerwarteten Ereignissen gut umgehen zu können.
Zurück zur Visionsfindung: Damit wir etwas gezielter bei den einzelnen Gruppen vorgehen konnten, haben wir uns aufgeteilt. Drei Vorstandsmitglieder befassten sich mit Staat und Leser, drei mit Community und Bildungswesen und drei mit Medien und Nachnutzern. Die Aufgabe: Eine halbe Stunde in kleiner Runde Aussagen entwerfen, von denen wir uns wünschen, dass sie in zehn Jahren zutreffen. Das Ergebnis davon, nach einigen Feinschliffen und Diskussionen in der großen Runde:
- Nutzer und Leser verstehen Wikimedia als „das Tor zum Wissen“. Wikimedia-Inhalte sind qualitativ hochwertig, fundiert und unübertroffen. Sie sind leicht zu nutzen und überall zu finden. Alle Wikimedia-Projekte sind als Wissensquellen etabliert
- Die Community findet, nutzt und schätzt Rückhalt und Unterstützung im Verein. Die Community steht jedem offen, der kompetent beitragen kann und möchte. Engagement für Freies Wissen ist attraktiv und wird geschätzt und gewürdigt.
- Öffentlichkeit und Medien unterstützen und fördern die Erzeugung und Verbreitung freier Inhalte und nehmen selbst daran teil. Freies Wissen ist in den Medien präsent. Wikimedia Deutschland wird von Journalisten als kompetenter Ansprechpartner genutzt.
- Der Gesetzgeber konsultiert Wikimedia Deutschland selbstverständlich als Experten in Wissens- und Urheberrechtsfragen, Bildungs- und Informationspolitik.
- Im Bildungswesen wird Freies Wissens akzeptiert und genutzt. Die kollaborative Arbeitsweise wird gefördert.
Wie werden Visionen Realität?
Nun sind solche Visionen schön und gut, aber es stellt sich natürlich die Frage, wie sie Realität werden können. Daher ist der nächste Schritt, aus diesen sehr langfristig angelegten Visionen mittelfristige Ziele zu entwickeln, die als eine Art Meilensteine den Weg zur Realisierung der Vision angesehen werden können. Hier wird die Frage gestellt, was alles in den nächsten zehn Jahren geschehen müsste, bevor Freies Wissen im Bildungswesen akzeptiert und genutzt wird. Antworten zu der Frage werden derzeit in den sechs frisch eingerichteten Vorstandsressorts erarbeitet, die wir auf der Klausur festgelegt haben. Die Ressorts orientieren sich grob an Kompetenzen und Fertigkeiten, die für die Realisierung unserer Vision nötig sind. Konkret sind das mit Aufteilung im Vorstand:
- Qualität: Jenny und Philipp
- Öffentlichkeitsarbeit: Harald und Michail
- Marketing: Sebastian
- Usability/Technik: Maria und Tim
- Freiwilligenförderung: Jenny und Jürgen
- Lobbying: Sebastian und Alice
Neben diesen Kernressorts gibt es noch „Infrastrukturressorts“, wie beispielsweise Finanzen oder Vereins-IT, die in der nächsten Vorstandssitzung festgelegt werden sollen. Die Bezeichung kommt daher, dass sie primär eine unterstützende Funktion haben: sie dienen als nötiger Unterbau für die Realisierung unserer Kernaufgaben, sind aber kein Selbstzweck.
Im Juli und August werden in den Ressorts Ideen für mittelfristige Ziele (im Fachchinesisch „strategische Kernziele“ genannt) gesammelt. Ein Beispiel für so ein Ziel wäre die Erzeugung fachlich geprüfter Versionen der 500 “wichtigsten” Wikipedia-Artikel bis Ende 2011 oder 2014. Zweck dahinter ist die Verbesserung der Qualität hin zu „Wikimedia-Inhalte sind qualitativ hochwertig, fundiert und unübertroffen“, sowie das Erreichen der oben genannten Vision, dass Freies Wissen im Bildungswesen akzeptiert und genutzt wird. Ein weiteres Ziel könnte das Erreichen und Halten von mindestens 10000 monatlich aktiven Autoren in der Wikipedia bis Juli 2012 sein. Oder ein anderes die Kenntnis der Funktionsweise der Wikimedia-Projekte unter mindestens 80% aller befragten Journalisten im April 2010. Wichtiges Kriterium für diese Ziele ist, dass sie konkret, realistisch und zeitlich begrenzt sind. Ihr Erreichen ist objektiv messbar und hat einen direkten Bezug zu mindestens einer der zu erreichenden Visionen. Es muss also klar sein, was genau erreicht wird, bis wann es erreicht werden soll und wie der Erfolg oder Misserfolg feststellbar ist.
Auf einer gemeinsamen Vorstandssitzung im September werden wir diese Zielvorstellungen besprechen und gemeinsam als zu erreichende strategische Kernziele beschließen. Mit dem Beschließen ist aber bekanntlich noch kein Problem gelöst, hier passiert dann also noch mehr. Was das genau ist, steht dann im nächsten Blogeintrag zum Thema.
[…] Der Tag war geprägt durch die Moderation von Anna Royon-Weigelt, die den Vorstand bereits bei der ersten Klausur 2009 unterstützte. Sie sorgte zunächst dafür, dass sich der neue (und alte) Vorstand zu einem […]
[…] Kompass fußt auf den „Visionen für WMDE“, die ein Bild geben, wo wir 2020 stehen wollen und die wir Euch nach dem letzten Klausurtreffen […]
Nunja, präziser, knapper, griffiger wär’s besser gewesen. Dennoch: Ich finde gut, dass der Vorstand die Ziele des Vereins (m.E. ein besseres Wort anstatt der ausgelutschten „Visionen“), die bisher immer wieder im Verein rumwaberten, deutlich und längerfristig niedergeschrieben hat.
Was ich jedoch eher vermisse – vielleicht kommt das auch noch oder es wurde schon geschrieben und ich hab’s übersehen – sind neben den nun niedergeschriebenen *langfristigen* Zielen (10-15 Jahre), die mittel- und kurzfristigen Ziele (nächste 3 Monate bis 2 oder 3 Jahre). Irgendwie fehlt es hier an einem Konzept, das auch Kontinuität beweist. Mir persönlich fehlt zum Beispiel ein griffiges Veranstaltungskonzept – und das kann bitte nicht durch ein sinnloses, durch Frank initiiertes Meinungsbild in der Wikipedia entschieden werden. Auf welche Veranstaltungen möchte sich WMDE in den nächsten 2 Jahren konzentrieren? Aber auch das angesprochene Projekt “Medienkompetenz in der Schule”: Was für eine Verfahrensweise gibt es jetzt beim Schulkonzept? Gibt es, wie beim Geschäftsführer, eine zweite Ausschreibung für den Projektmanager? Oder übernimmt das jetzt längerfristig Denis Barthel? Aber auch andere Dinge, wie bspw. dieses elendige Kommunikationsthema: Auf welche Kanäle darf/möchte/kann sich der Verein beschränken? Gibt es eine (öffentlichkeitsstärkere) Förderung der anderen Wikimedia-Projekte, abgesehen von Wikipedia und Commons (vorrangig vermutlich z.B. Wikisource)? Das nur als Beispiele.
Nunja, allsowas halte ich für besprechenswert und durch den aktuellen Vorstand für “ergreifenswert”. Vielleicht sollte es in diesem Zusammenhang einen (ggf. weiteren) Visions-Workshop mit den Mitgliedern geben – und das bitte nicht auf einer Wikimedia-Party, bei der nur ein Bruchteil der Interessierten dabei war/sein konnte.
@Marcus: “Der Verein stagniert seit Franks Abschied”. Na, übertreib mal nicht. Auch ohne Frank wurden Dinge auf die Beine gestellt und nicht alles, was Frank anfasst oder angefasst hat, ist Gold. Ich denke, diese Rührseligkeit ist hier nicht angebracht.
Komisch – seit dem Blogbeitrag verstehe ich Schmidt. Mal ehrlich – abgesehen vom letzten Drittel, wo es endlich Konkret wurde, ist das viel Gerede mit wenig Substanz. Bei solchen Themen, die ja nicht ganz Unabstrakt sind, hätte ich dann doch gerne, daß man schnell auf den Punkt kommt nicht einen Anlauf mit Umweg nimmt.
Aber es ist gut, daß es endlich voran geht. Der Verein hat lange genug seit Franks Abschied stagniert. Ich bitte aber die schon geäußerte Meinung ernst zu nehmen, daß man hier auch auf die Visionen der Mitglieder ein geht, nicht nur die des Vorstandes. Sonst haben wir womöglich nach der nächsten Wahl einen Teilveränderten Vorstand, der sich dann erst einmal neu seinen Visionen widmen muß. Und das kann es nicht sein. Wir brauchen etwas Verbindliches, mit dem sich die Mehrheit auch identifizieren kann (ungleich etwa Akzeptieren, weil es das kleinere Übel ist).
Schließe mich Sebastian Wallroth voll und ganz an; nach dem Lesen kann man nur sagen: Was ein Riesenglück und Zufall, dass die bisherigen Projekte des Vereins so gut zu den ganz neu entwickelten Visionen passen… :-)
Aber mal Butter bei die Fische: Welche Schlüsse zieht Ihr aus Euren Erkenntnissen? Werden irgendwelche Projekte eingestampft, weil sie sich mit den Visionen beißen? Und habt Ihr Blinde Flecke identifiziert, die bisher – aus ideologischen Gründen, nicht wegen fehlender Kapazitäten – fälschlicherweise vernachlässigt wurden?
Ich finde es grundsätzlich gut, dass sich auch der neue Vorstand Gedanken über die langfristigen Vereinsziele macht. In den ersten Jahren haben wir oft den Samstag eines Klausurwochenendes für diese Art der Selbstreflexion genutzt, um vor diesem Hintergrund dann am Sonntag ganz Konkretes zu planen und beschließen. (Auf dieser Entwicklungsstufe des Vereins darf der Vorstand es sich auch mal gönnen, nicht mehr selbst das Moderationsköfferchen zu bedienen, sondern eine Moderatorin zu engagieren.)
Wichtig ist nur, nicht zu vergessen, dass die abstrakten Überlegungen letztlich immer wieder aufs ganz Konkrete runtergebrochen werden müssen. Nicht, dass man am Ende eines Klausurwochenendes, wenn die ersten schon am Aufbrechen sind, plötzlich merkt, dass man ganz vergessen hat, über die in naher Zukunft vakante Stelle des Geschäftsführers zu sprechen… :-)
Und hey, wer weiß, vielleicht arbeitet Wikimedia ja schon seit Jahren an der Umsetzung einer gesellschaftlichen Vision, die weit darüber hinausgeht, der – objektiv messbar – tollste und bekannteste Verein mit den schönsten und größten Projekten zu sein. Und keiner hat’s gemerkt. Wer weiß.
Klingt ehrgeizig, ich wünsch euch viel Erfolg bei der Umsetzung.
Ein paar Fragen hätte ich aber:
Es ist jetzt konkreter geworden, aber ich sehe jetzt noch nicht, wo es communitischer wird. Wie schaut es mit der Beteiligung der Community aus bei der Definition dieser mittel- bis langfristigen Ziele aus? Wie wollt ihr kurz- bis mittelfristig die Community involvieren?
Habt ihr Überlegungen angestellt, wie diese längerfristig angelegten Ziele auch von kommenden Vorständen übernommen und umgesetzt werden sollen? Ist da etwas wie eine Mitgliederbefragung im Hinblick auf die Satzung oder ähnliches angedacht?
Ich wünsche euch, wie bereits geschrieben, viel Erfolg und verbleibe mit der Bitte, in Zukunft öffentlich gemachte Zeitpunkte, zu denen etwas publiziert wird, besser einzuhalten (oder zumindest zu sagen warum etwas späterkommt), damit die Interessengruppe der Community (danke übrigens, dass Ihr nicht Stakeholder geschrieben habt ;-) ) auch informiert wird und interessiert bleibt ;-)
Ick freu’ mir ein Loch in’n Bauch, dass es mit dem Verein nach fünf Jahren herdümpeln jetzt so abgeht.