

Patrick Wildermann
7. Mai 2025
„Stellen Sie sich eine Welt vor, in der das gesamte Wissen der Menschheit jedem frei zugänglich ist.“ Mit dieser Philosophie hat Jimmy Wales 2001 die Wikipedia ins Leben gerufen. Der US-Amerikaner hätte sich damals wohl kaum vorstellen können, dass das größte Mitmachprojekt in der Geschichte des Internets rund zwei Jahrzehnte später in seinem eigenen Land Angriffen aus Regierungskreisen ausgesetzt sein würde.
Post vom Bundesanwalt
Aktuell sorgt ein Brief des US-Bundesanwalts Ed Martin an die in San Francisco ansässige Wikimedia Foundation als Betreiberin der Wikipedia für Schlagzeilen. Der darin formulierte Vorwurf: Die Wikipedia erlaube „die Manipulation von Informationen auf der eigenen Plattform, inklusive der Umschreibung wichtiger historischer Ereignisse“. Verbunden mit diesen Vorwürfen ist die implizite Drohung, der Wikimedia Foundation die Steuerbefreiung zu entziehen.
Dazu passt die jüngste Ankündigung von US-Präsident Trump, Steuerbefreiungen von Umweltgruppen und insbesondere der Bürgerrechtsorganisation „Citizens for Responsibility and Ethics in Washington“ (CREW) auf den Prüfstand zu stellen. Ed Martin weist darauf hin, dass sich steuerbefreite Organisationen ausschließlich für religiöse, wohltätige und wissenschaftliche sowie weitere Zwecke einsetzen dürfen. In der Wikipedia könnten nach seinem Kenntnisstand aber „ausländische Akteure Informationen manipulieren und Propaganda verbreiten“.
Wikimedia Foundation weist Vorwürfe zurück
Die Wikimedia Foundation weist die haltlosen Vorwürfe entschieden zurück. Die Online-Enzyklopädie sei einer der letzten Orte, der für die Versprechen des Internets stehe und mehr als 65 Millionen Artikel enthalte, “die zur Information und nicht zur Überzeugung geschrieben wurden”, heißt es. „Der gesamte Prozess der Inhaltsmoderation wird von fast 260.000 Freiwilligen überwacht und ist offen und transparent für alle.“ Es gehe darum, zu informieren, nicht zu überzeugen. Informationen würden, angeleitet durch das Regelwerk, von dem Autorenkollektiv „so genau, fair und neutral wie möglich“ dargestellt. Der neutrale Standpunkt zählt zu den vier unveränderlichen Grundprinzipien der Wikipedia, denen sich alle ehrenamtlichen Autor*innen verpflichten.
Bis zum 15. Mai ist die Wikimedia Foundation aufgefordert, einen ausführlichen Fragenkatalog des Bundesanwalts Martin zu beantworten.
Auch zahlreiche deutsche Medien berichten über die aktuellen Entwicklungen in den USA. Hier eine Auswahl:
RedaktionsNetzwerk Deutschland: Wikipedia: Der US-Angriff auf das freie Wissen hat begonnen
Zeit Online: Angriff auf das Wissen der Welt (hinter Bezahlschranke)
heise online: Angebliche Verbreitung von Propaganda: US-Regierung bedroht die Wikipedia
Süddeutsche Zeitung: Nicht zu verkaufen (hinter Bezahlschranke)
Drohung gegen Ehrenamtliche
Schon im Februar gab eine Meldung, die das Magazin Forward veröffentlichte, Anlass zur Sorge. Demnach wolle die Donald Trump nahestehende konservative US-Denkfabrik Heritage Foundation Autor*innen der englischsprachigen Wikipedia-Community „identifizieren und ins Visier nehmen“ (netzpolitik.org berichtete). Der Vorwurf: Bestimmte Editierende würden ihre Position auf der Plattform „missbrauchen“.
Um die wahre Identität aktiver Wikipedianer*innen zu ermitteln, wurde angedroht, dass dazu verschiedene Methoden zum Einsatz kommen sollen, wie die Analyse von Schreibstilen und Benutzernamen und die Auswertung von Datenlecks, digitale Fingerabdrücke, Hinweise aus persönlichen Kontakten sowie gezielte technische Recherchen. Laut Forward wird das Vorhaben von einem früheren FBI-Agenten geleitet.
In der Wikipedia ist es bekanntlich Usus, dass Ehrenamtliche Pseudonyme nutzen, um ihre Privatsphäre zu schützen und persönliche Bedrohungen zu vermeiden. Die Offenlegung der persönlichen Daten von Editierenden ohne deren Zustimmung ist als Doxing bekannt und nach den Wikipedia-Regeln streng untersagt. Die Geschäftsführerin Maryana Iskander teilte der Community mit, dass sie „eine Zunahme von Bedrohungen, sowohl durch Regulierung als auch durch Rechtsstreitigkeiten auf der ganzen Welt“ sieht, wie sie unter anderem 404 Media berichtet.
Um die Ehrenamtlichen möglichst gut gegen Angriffe zu wappnen, bietet die Wikimedia Foundation in Zusammenarbeit mit Menschenrechts-NGOs weltweit in mehreren Sprachen Sicherheitsschulungen an. Generell werden nur sehr wenige persönliche Informationen über die Nutzer*innen der Wikimedia-Projekte gesammelt. Darüber hinaus gibt es in einigen Sprachversionen mittlerweile sogenannte temporäre Konten, die mehr Schutz der Privatsphäre ermöglichen. Bisher wurden Bearbeitungen von nicht angemeldeten Nutzer*innen öffentlich mit ihrer IP-Adresse angezeigt. Temporäre Konten ersetzen diese Anzeige durch automatisch generierte Benutzernamen (z. B. ~2025-1234567), die für Außenstehende nicht zurückzuverfolgen sind.
Wie sicher ist das Freie Wissen?
Die aktuellen Entwicklungen in den USA werfen eine brisante Frage auf: Wie gut sind das Wissen und die digitalen Infrastrukturen der Wikipedia für den Fall der Fälle geschützt?
Schon jetzt greift die US-Regierung Archive und Behörden-Webseiten an, deren Inhalte nicht zur eigenen ideologischen Ausrichtung passen. Die Tagesschau spricht von einer „großangelegten Löschaktion“ – betroffen sind vor allem Beiträge und Bilder, die Frauen, queere Menschen oder People of Color sichtbar machen. Als Reaktion darauf hat das in Kalifornien ansässige Internet Archive – das sich die Langzeitarchivierung digitaler Daten in frei zugänglicher Form zur Aufgabe gemacht hat – damit begonnen, seine Server aus Sicherheitsgründen in Kanada zu spiegeln.
Auch die Wikipedia-Infrastruktur ist bislang zentralisiert: Die Hauptserver, über die alle Sprachversionen weltweit laufen, stehen in den USA. Zudem gibt es in Amsterdam, Marseille, Singapur und Sao Paulo weitere Caching-Server, die die Inhalte lokal zwischenspeichern, um den Zugriff zu beschleunigen.
Die gute Nachricht: Inhalte aus dem Netz komplett und dauerhaft zu entfernen, ist nach wie vor alles andere als einfach. In den USA gibt es zivilgesellschaftliche Projekte wie das Data Rescue Project, das gefährdete Daten sammelt und deren Sicherung aktiv unterstützt. Und auch Wikipedia selbst ist widerstandsfähig. Selbst in Russland ist es bislang nicht gelungen, die Plattform vollständig zu blockieren. Zwar warnt die russische Regierung beim Aufruf der Seite vor vermeintlich „unzuverlässigen Inhalten“, und mit „Ruwiki“ wurde ein staatsnaher Klon aufgebaut – doch das Original bleibt zugänglich und wird weiterhin genutzt.
Entsprechend bleibt Franziska Heine, Vorständin von Wikimedia Deutschland, auch in Bezug auf die Entwicklungen in den USA ruhig. „Die Mechanismen der englischsprachigen Wikipedia haben über viele Jahre gehalten, auch während der ersten Amtszeit Trumps.“ Das stimme sie für die Zukunft optimistisch.
Hilfe vom Human Rights Team
Aufgrund der zahlreichen Fälle weltweit, in denen Wikipedianer*innen aufgrund ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit gezielt attackiert werden, hat die Wikimedia Foundation 2021 ein Human Rights Team gegründet. Dieses widmet sich der Wahrung und Verteidigung der Sicherheit der Ehrenamtlichen und soll sie nach besten Kräften vor Angriffen schützen. Zuvor wurde ein Menschenrechts-Report (Human Rights Impact Assessment) in Auftrag gegeben, der die Risiken im Zusammenhang mit den Wikimedia-Projekten identifiziert und Möglichkeiten ermittelt, diese zu mindern. Auch Wikimedia Deutschland bietet Rechtsbeihilfe für Wikipedianer*innen an, die aus verschiedenen Gründen unter Druck geraten. Die Spanne reicht von der Beauftragung von Rechtsgutachten bis zur vollständigen Übernahme von Gerichtskosten durch mehrere Instanzen.
Verbunden ist damit die Botschaft: Wer sich für Freies Wissen einsetzt, kann auf Unterstützung zählen.
Wie eine wehrhafte Community die Wikipedia vor Manipulation schützt
Politische Einflussnahme, Vandalismus, Fake News: Als größtes freies Wissensprojekt der Welt ist die Wikipedia immer wieder Manipulationsversuchen ausgesetzt. Zum Glück gibt es in der deutschsprachigen Community eine Vielzahl von Ehrenamtlichen, die sich auf die Abwehr genau solcher Angriffe spezialisiert haben. Ihnen steht ein wirksames Instrumentarium zur Verfügung.