Patrick Wildermann
15. Juli 2024
Das Thema Wissensgerechtigkeit liegt Lee Modupeh Anansi Freeman in mehrfacher Hinsicht am Herzen. Persönlich und politisch. „Zum einen bin ich eine Person afrikanischer Herkunft und kenne Generationen meiner eigenen Familie nicht – weil unser Wissen systematisch gelöscht und zerstört wurde.“ Zum anderen, stellt Freeman fest, „leben wir in einer Ära der Desinformation. Je mehr Raum die verdrängten Stimmen bekommen, desto besser können wir dagegen ankämpfen.“
Lee Modupeh Anansi Freeman zählt zu den Teilnehmenden der ersten Ausgabe des Förderprogramms re•shape, mit dem Wikimedia Deutschland sich für die Sichtbarkeit von marginalisiertem Wissen stark macht. In Kooperation mit den neuen deutschen organisationen – das postmigrantische Netzwerk e.V., einem Verbund von fast 200 Vereinen, Initiativen und Selbstorganisationen, ist im Dezember 2023 ein Call mit beachtlicher Resonanz gestartet worden: Fast 90 Projekte bewarben sich auf die erste re•shape-Runde, zehn davon wurden gefördert. Ein unabhängiges Kuratorium aus Hajdi Barz, Juliana Kolberg und Victoria Kure-Wu hat das vierköpfige Programmteam von Wikimedia Deutschland bei der Konzeption des Programms unterstützt und gemeinsam mit einer Vertretung von Wikimedia und den neuen deutschen Organisationen e.V. die Projekte ausgewählt.
Ein Programm, das neues Denken braucht
Zu den geförderten Vorhaben zählt auch das TRAP$ Academy-Projekt von Lee Modupeh Anansi Freeman und Farah Abdullahi Abdi, das sich der Weitergabe von Wissen innerhalb der Black Trans/GNC (Gender Non-Conforming) Community widmet. „Wir sind eine Minderheit innerhalb der Schwarzen Bewegung und eine Minderheit innerhalb der LGBTQ*-Community“, beschreibt Freeman. Und lobt an re•shape, „dass es ein sehr niedrigschwelliges Programm ist. Das hilft, wenn du ohnehin mit vielen Hürden in deinem Leben zu kämpfen hast.“ Im Zuge des TRAP$ Academy-Projekts ist Wissen über Schwarze Geschichte aus trans- und genderdiverser Perspektive in Workshops gesammelt worden, unter anderem entstand daraus ein Arbeitsbuch, das andere empowern soll, die von Diskriminierung und Rassismus betroffen sind.
Allen Teilnehmenden standen dabei Mentor*innen zur Seite, hauptsächlich aus den Communitys der Wikimedia-Projekte. In verschiedenen Workshop-Formaten gab es Vorträge zum Thema Freies Wissen und Freie Lizenzen. Auf der unmittelbaren Verwertbarkeit der Projektergebnisse für Wikipedia oder Wikimedia Commons lag in der ersten Runde noch nicht der Fokus, künftig wird sich das ändern: „Welches marginalisierte Wissen Eingang in die Wikimedia-Projekte finden kann, ist ein gemeinsamer Lernprozess für alle Beteiligten, in dem wir zusammen das Ziel verfolgen, die Darstellung des Wissens ausgewogener und gerechter zu gestalten“, beschreibt Dominik Scholl, Leiter Kultur & Marginalisiertes Wissen bei Wikimedia Deutschland: „Wir müssen und wollen bei diesem Programm vieles neu denken.“
Abwägung der Risiken
„Wir haben versucht, den Menschen, mit denen wir arbeiten, Freiräume und eigene Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Freies Wissen zu eröffnen“, beschreibt Riham Abed-Ali aus dem re•shape-Projektteam. Was sie auch betont: Für marginalisierte Communitys kann das Teilen ihres Wissens mit Risiken verbunden sein. Ein Beispiel wäre, dass unter Umständen Daten und Informationen zugänglich werden, „die genutzt werden könnten, um Menschen zu kriminalisieren – gerade dann, wenn wir von illegalisierten Perspektiven sprechen.“
Das betrifft beispielsweise ein Projekt wie Mujeres migrantes invisibles [unsichtbare migrantische Frauen]. Die Verantwortlichen Antonia Ramos Posto, Yolanda Justina Nina Becerra und Llanquiray Painemal Morales bemühen sich um die Sichtbarmachung von Migrantinnen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin. Im Rahmen des Projekts haben sie Podcasts erarbeitet, die die Situation dieser undokumentierten Migrantinnen thematisieren. Und natürlich genau abgewogen, welche Informationen sie preisgeben.
Zu den möglichen Risiken, so Riham Abed-Ali, zähle auch der Umgang mit Bildern, die unter freier Lizenz veröffentlicht werden – und die für propagandistische oder andere missbräuchliche Zwecke verwendet werden könnten.
Antikolonialer Raum und migrantisches Wissen
Trotz dieser Abwägungen ist im Kontext der ersten re•shape-Ausgabe viel Konkretes entstanden. Wie etwa der Antikoloniale Raum Köln, ein Projekt von Muriel Gonzales Athenas und Amdrita Jakupi. In diesem physischen Raum geht es um Vermittlung des Wissens marginalisierter Communitys – „durch Literatur, Workshops, Vorträge von Aktivist*innen oder Wissenschaftler*innen vornehmlich aus der BIPoC-Community“, wie Jakupi es im Gespräch während der re•shape-Abschlussveranstaltung beschreibt. Die Zusammenkunft hat alle Teilnehmer*innen noch einmal in der Geschäftsstelle von Wikimedia Deutschland zusammengeführt, wo die Projekte bei einem Gallery Walk präsentiert wurden und es Räume zur Reflexion von Herausforderungen und Learnings gab. Der Antikoloniale Raum Köln, so Jakupi, „soll ein Begegnungsort und ein Schutzraum für Menschen sein, die sonst keine Räume haben.“ Für indigene, kurdische oder afrodiasporische Communitys etwa, für Rom*nja und Sinti*zze. „Die Förderung durch re•shape hat uns geholfen, diesen Ort überhaupt zu erschließen und benutzbar zu machen.“
Um eine konkrete Auseinandersetzung mit der Wikipedia wiederum ging es in dem Projekt „Social Media und Freie Lizenzen“, das die Journalistin Esra Karakaya mit ihrem Medienunternehmen KARAKAYA TALKS unternommen hat. Es produziert News und Talkshows für deutschsprachige Millennials und Gen Zs of Color. „Unsere Frage war: Wie können wir Inhalte, die in Videoform auf TikTok oder Instagram laufen, journalistisch so aufbereiten, dass sie als Referenzen und Quellenangaben für Wikipedia-Artikel nutzbar werden?“, beschreibt Karakaya. Im Rahmen von re•shape hat sie eine Webseite getestet, auf der Videos nun in Form von Texten veröffentlicht werden sollen. „re•shape war eine wichtige Unterstützung bei unserem Versuch, migrantisch situiertes Wissen, das oft nicht dokumentiert ist, eben doch festzuhalten – so dass es vielleicht in ein Wissensarchiv wie Wikipedia gelangt“, so Karakaya.
Austausch in der Ideenwerkstatt
Wie können Menschen, die von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind, mit ihrem Wissen und ihren Anliegen innerhalb der Wikipedia-Community mehr Gehör finden? Dieser Frage widmete sich eine von Wikimedia organisierte Ideenwerkstatt, bei der einzelne re•shape-Teilnehmende, aber auch viele weitere Interessierte zusammen kamen. „Es ging bei der Veranstaltung darum, dass die Beteiligten selbst Barrieren, aber auch Handlungsmöglichkeiten für mehr Wissensgerechtigkeit identifizieren“, beschreibt Christopher Schwarzkopf aus dem re•shape-Projektteam. Über den Austausch im Rahmen der Ideenwerkstatt ist auch eine filmische Dokumentation entstanden.
„Ich denke, dass die Wikipedia noch vielfältiger werden könnte, indem man Autor*innen aus marginalisierten Communitys gezielt anwirbt, durch Veranstaltungen oder Workshops wie diesen“, so eine Teilnehmende. Wikipedianerin Kritzolina, ebenfalls bei der Ideenwerkstatt mit an Bord, sieht zwar auch Wissenslücken in der Online-Enzyklopädie – gerade dort, wo es um Themen außerhalb Europas geht – betont aber: „Die Wikipedia wird offener, auch für Wissen, das nicht zum klassischen Herrschaftswissen gehört.“ Eine Teilnehmende mit uigurischen Wurzeln berichtet davon, dass sie Vorurteile gegenüber der Wikipedia hatte, vor allem, weil sie dort viel Wissen über die uigurische Geschichte vermisste. „Ich habe aber gemerkt, dass man selber sehr viel Wissen einbringen kann.“
Insgesamt war die Ideenwerkstatt ein lebendiges Plädoyer für Dialog und offenen Austausch. „Menschen sind bereit, Sachen zu verändern, auch neue Sachen zu lernen“, bringt eine Teilnehmende es auf den Punkt.
Ein Instrument der Vernetzung
Wie soll die Wikipedia im Jahr 2030 aussehen? Auch diese Frage stand auf der Agenda der Ideenwerkstatt. „Ich kann mir vorstellen, dass sie sehr, sehr bunt aussehen könnte“, lautete eine der Antworten, „dass sehr viele Jugendliche sich beteiligen, auch aus marginalisierten Gruppen.“ „Wir müssen uns mit Wissensproduktion auseinandersetzen, kritisch hinterfragen: Wer produziert dieses Wissen? Über wen wird geschrieben, welche Quellen werden genutzt?“, so wiederum eine andere Teilnehmerin zu der Frage, wie die Wikipedia auch 2030 noch aktuell und relevant bleiben könne.
„Die Wikipedia ist wie ein Kühlschrank oder ein Wäscheständer – sie wird im Alltag selbstverständlich genutzt, aber wir denken kaum darüber nach“, findet Esra Karakaya. Die Teilnahme an re•shape habe sie zu genau dieser Auseinandersetzung motiviert. Als „sehr offen im Dialog, sehr unterstützend“ hat Lea Sherin Kübler – beteiligt am Projekt „Von Träumen und Traumata zu Selbstorganisation und Widerstand“, bei dem unter anderem ein Zine entstanden ist – die re•shape-Zeit erlebt. So erzählt sie es am Rande der re•shape -Abschlussveranstaltung, die wie das gesamte Projekt auch der Vernetzung und dem Austausch der Geförderten untereinander dienen sollte – und ihrer Verbundenheit mit den Wikimedia-Projekten. So konnten einige auch als Teilnehmer*innen für den ersten Wikipedia-Zukunftskongress gewonnen werden.
Ein Lernprozess für alle Beteiligten
Natürlich war die erste Ausgabe von re•shape für alle Beteiligten auch ein Lernprozess. Bei der anstehenden zweiten Runde des Programms wird es einige Anpassungen geben. Während im ersten Programmjahr noch das Prinzip “Open by default” galt, bei dem sich die Geförderten gegen eine freie Lizenz entscheiden konnten, wenn es gute Gründe dafür gab, wird die Veröffentlichung der Projektergebnisse unter einer freien Lizenz nun zur Fördervoraussetzung. Projektgruppen müssen fortan nicht mehr ausschließlich aus BIPoC-Personen bestehen, es reicht, wenn die Mehrheit der Mitglieder BIPoC sind oder Organisationen mehrheitlich von BIPoC geleitet werden – so wird die Vielfalt der Teilnehmenden erhöht. Außerdem wird das Mentor*innen-System überdacht, um noch passgenauer auf die Bedarfe der Geförderten eingehen zu können.
„Wir wollen auch daran arbeiten, das Programm außerhalb Berlins noch besser zu bewerben und unsere bestehenden Netzwerke entsprechend zu erweitern“, beschreibt Riham Abed-Ali. Unter anderem könnten die Verbindungen des entstehenden Antikolonialen Raums Köln dabei helfen. Und last but not least soll der Fokus noch mehr auf das große Thema Wissensgerechtigkeit gerichtet werden. Die Frage, wie konkret die Wikimedia-Projekte zu mehr Wissensgerechtigkeit beitragen können, wird künftig noch mehr Raum erhalten.
Eines jedenfalls hat die erste Ausgabe des neuen Förderprogramms bereits deutlich gezeigt, findet Dominik Scholl: „An einem Programm wie re•shape besteht großer Bedarf.“
Der Abschlussbericht von re•shape ist hier zu finden:
Infos zur zweiten re·shape-Runde
Im November 2024 startet re•shape – Ein Wikimedia-Programm zur Förderung von Wissensgerechtigkeit in das zweite Programmjahr. Neben einer finanziellen Förderung von bis zu 5.000 € umfasst das Programm eine ideelle Förderung in Form von Begleitung und Beratung in der Auseinandersetzung mit Freiem Wissen und in der Umsetzung der Projekte.
Gefördert werden Projekte, die darauf zielen, marginalisiertes Wissen von Communitys, die Rassismus erfahren, mehr Raum und Sichtbarkeit zu verschaffen, indem Projektergebnisse unter einer Freien Lizenz veröffentlicht werden. Bewerbungen sind vom 15. August bis 15. September 2024 möglich und können auf Deutsch oder Englisch eingereicht werden
Du hast Fragen zum Bewerbungsprozess, der Antragstellung oder bist dir unsicher, ob deine Projektidee zum Programm passt? Dann melde dich gern bei uns, zum Beispiel indem du in unsere telefonische Sprechstunde kommst: Du kannst uns während der Bewerbungsphase jeweils dienstags und donnerstags von 14.00 bis 15.00 Uhr unter der Nummer (030) 577 116 22-0 erreichen. Gern vereinbaren wir auch individuelle Termine zur Antragsberatung – auch vor der Bewerbungsphase. Schreib dafür einfach eine Mail an reshape@wikimedia.de.
Außerdem bieten wir innerhalb des Bewerbungszeitraums am Dienstag, den 20. August, um 18.30 Uhr via Zoom eine Online-Infoveranstaltung zum Programm an. Du kannst dich via E-Mail an reshape@wikimedia.de bereits jetzt dafür anmelden.