Franziska Kelch
31. August 2022
Die Expertisen der Diskussionsteilnehmer*innen waren vielfältig. Aus queerer, feministischer oder dekolonialer Perspektive, aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen oder mit indigenem Hintergrund haben sie aufgezeigt: Daten und Technologien, die eigentlich der staatlichen Fürsorge dienen oder zur Herstellung von Sicherheit und Ordnung beitragen sollen, können ebenso zur Marginalisierung gesellschaftlicher Gruppen beitragen.
Was hat das alles mit Wikimedia zu tun?
Im strategischen Zentrum unserer Arbeit bis zum Jahr 2030 steht das Ziel, zu mehr Wissensgerechtigkeit beizutragen. Die Wiki-Projekte tun das bereits an vielen Stellen. Denn sie ermöglichen immer mehr Menschen den Zugang zu freiem Wissen – und theoretisch auch die Möglichkeit, zu mehr freiem Wissen beizutragen. Und doch gibt es noch einige Baustellen. Denn zu Gerechtigkeit gehört auch, dass möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen an der Produktion von Wissen teilhaben können. Es geht also auch darum, die Perspektiven von bisher marginalisierten Gruppen in den Wiki-Projekten sichtbar zu machen, indem Barrieren abgebaut und neue Zugänge geschaffen werden.
Daher fördert Wikimedia Deutschland ab Ende 2022 Menschen, die sich für das Spannungsfeld zwischen freiem und marginaisiertem Wissen interessieren. Wir werden Ideen und Projekte unterstützen, die dazu beitragen, dass bisher unterrepräsentierte Perspektiven Eingang in Wiki-Projekte finden. Wichtig ist, dass die Ergebnisse der Projekte unter einer freien Lizenz veröffentlicht werden und so der Allgemeinheit als Freies Wissen zugänglich sind. Das kann zum Beispiel in Form von Essays, Blogbeiträgen, Interviews, Videoproduktionen oder Podcasts geschehen.
Denn in Archiven und Wissensspeichern gibt es zahlreiche blinde Flecken und Leerstellen – das gilt auch für die Wikipedia. Diese Leerstellen entstehen aufgrund der Logiken, nach denen in Gesellschaften Wissen als relevant und irrelevant eingestuft wird. Sie ergeben sich daraus, dass Archive nur bestimmte Medien und Kulturtechniken für ihre Speicher nutzen. Und sie entstehen – und das gar nicht unbedingt absichtlich oder bewusst – durch die Dominanz bestimmter sozialer Gruppen bei der Wissensproduktion und die Abwesenheit von Minderheitenperspektiven. Das Festival Future of Code Politics trägt dazu bei, für diese Leerstellen zu sensibilisieren – und für die Mechanismen, die ihnen zugrunde liegen.
Die Macht der Daten, Karten und der Schrift
Ein Beispiel für marginalisiertes Wissen und eins für marginalisierende Wissensproduktion haben die Archivarin und Oromo-Aktivistin Ayantu Tibeso und der Wissenschaftler und Künstler Romi Morrisson im Panel “Blackness, African Indigeneity and Computation” skizziert.
Ihre These: Staatliche Akteure definieren, was relevante Daten sind und politische Akteure machen diese zur Grundlage ihrer Entscheidungen. So weit, so einfach. Wie mächtig dieses Monopol in der Wissensgewinnung und -nutzung ist, demonstrierte Romi Morrison am Beispiel des sogenannten Redlinings:
Über Jahrzehnte entschieden amerikanische Banken anhand von roten Linien, die die Federal Housing Administration auf den Karten amerikanischer Großstädte zog, wer eine Hypothek oder einen Kredit für den Hauskauf bekam und wer nicht. Die Grundlage für diese Linien waren Zensusdaten zur Bevölkerungsstruktur, Einkommen, dem Bildungsgrad, der Kriminalitätsrate und so weiter. Das Problem: Die vermeintlich neutralen Zensusdaten gaben keine Auskunft darüber, warum in einigen Stadtteilen die Armuts- oder Kriminalitätsrate hoch und der Bildungsgrad niedrig war. Sie zementierten diesen Zustand aber, weil sie Grundlage für eine Politik waren, die ökonomische und soziale Mobilität erschwerte. Die Folge dieser Wohnungspolitik, die im Rahmen von Franklin D. Roosevelts New Deal in den 1930er Jahren aufgelegt wurde, war: Weiße Amerikaner*innen konnten Immobilienbesitz finanzieren. Für schwarze Amerikaner*innen hingegen wurde es unmöglich, Hypotheken aufzunehmen oder Kredite zu erhalten.
Ayanto Tebesu beschrieb darüber hinaus am Beispiel der Oromo, einer Bevölkerungsgruppe in Äthiopien, wie groß der Einfluss ist, den schriftliche und materielle archivalische Praktiken darauf haben, was als Wissen wahrgenommen wird. Die Oromo geben Wissen vorwiegend in oraler Tradition weiter. Ihre Lebensrealität und Geschichte findet somit kaum Eingang in Archive, die gemeinhin Schriftgut oder Bilder speichern. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Archive in der Regel staatliche Institutionen sind. Im äthiopischen Staat bilden die Oromo zwar die zahlenmäßige Mehrheit. Die Tigray allerdings besetzen die Schlüsselstellen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Ihre Perspektive auf die Oromo als Gefahr oder Problem prägt daher entscheidend die Art, wie Oromo in offiziellen Wissensspeichern repräsentiert sind.
Wer dieses Panel und die weiteren acht Diskussionen nicht live verfolgen konnte, kann die Aufzeichnungen hier anschauen: