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Die digitale Transformation ist eine große Chance für das Kulturerbe

WMDE allgemein

15. Mai 2017

Vortrag zur 100. Jahresversammlung des Deutschen Museumsbundes (FG Geschichtsmuseen)

Osman Hamdy Bey Vieil homme devant des tombeaux d’enfants, Musée d’Orsay 1903, Foto von Sailko [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

Unbestritten steht unsere Zivilisation auf den Schultern unseres kulturellen Erbes. Aus diesem Erbe schöpfen wir die Bausteine unserer Identität. Unsere Kulturgüter sind die geronnenen Artefakte unserer Ideen und Wertvorstellungen. Dem wird wohl niemand widersprechen. Nur wer befasst sich heute noch aktiv mit dem Kulturerbe? Noch vor hundert Jahren waren Hausmusik, Laientheater, Lesezirkel, das Zeichnen auf Reisen, das Sammeln von Märchen und Trachten übliche Freizeitbeschäftigungen mehr oder weniger quer durch alle Schichten. Museen waren Schaufenster in die Welt. Sie waren voller neugieriger und wissbegieriger, oft kulturschaffender Besucher. Die ausgestellten Dinge hatten einen Bezug zu den Handlungen in der eigenen Welt der Betrachter und sei es nur zu denen der Freizeit. Der aktive Umgang mit kulturellen Praktiken wurde spätestens im Wandel der Freizeitkultur von “Machen” zu “Machen Lassen” vom Freizeitkonsum verdrängt. Die Distanz des Individuums zu seinem kulturellen Erbe wuchs mit der Seltenheit der Momente, in denen er unmittelbar mit ihm umging. Statistisch geht der Berliner, die Berlinerin einmal im Jahr ins Theater und etwas öfter geht man in Deutschland ins Museum. Wie vernachlässigbar, gemessen an den zehn Stunden täglicher Mediennutzung. Wenn das kulturelle Erbe ein lebendiger Teil unserer Identität bleiben und damit einen tiefen Einfluss auf unsere Definition von Zivilisation behalten soll, dann müssen Kunstsammlungen, Bibliotheken, Archive und Museen (kurz im englischen Akronym: GLAM) die Chance der digitalen Transformation nutzen. Und wir, die Besucher und öffentlichen Eigner, sollten darauf drängen, dass sie einen ersten Schritt dahin tun. Die digitale Transformation geschieht zuerst im Kopf der Entscheidungsträger des GLAM-Bereichs. In meiner Rede anlässlich der 100. Jahrestagung des Deutschen Museumsbundes in Berlin am 10. Mai 2017 vor der Fachgruppe der Geschichtsmuseen warb ich um Mut, diesen ersten Schritt zu tun.

Digitalstrategie für Geschichtsmuseen

Sie fragen sich vielleicht, warum ich ausgerechnet diesen Orientalismusschinken als Eingangsbild gewählt habe. Es ist eines der wenigen ausgestellten Bilder im Pariser Musée d’Orsay, das von einem Nicht-Europäer gemalt wurde. Daher hatte ich es zu meiner Gedächtnisstütze photographiert. Vermutlich hätte ich es schon vergessen, könnte zumindest schwerlich sagen, wer das Bild gemalt hätte, wenn ich es in den letzten Monaten nicht immer wieder beim Scrollen in meiner Smartphone-Galerie gefunden hätte. Als ich in den letzten Tagen begann, meinen Vortrag vorzubereiten, fiel es mir wieder ein. Ich will Ihnen im Folgenden meine Motive darlegen.

Auch ich saß einmal in einem Einführungskurs für Geschichtsstudenten. An die Tafel schrieb der Professor mit Kreide “History”. Er dozierte, der griechische Wortkern “histor-” bedeute das Erforschte oder Erfahrene berichten. Historiker machten die Vergangenheit in ihrer Darstellung wieder lebendig. Mir blieb im Kopf: Historiker sind Geschichtenerzähler. So passt das Gemälde des Orientalen. Das Bild erzählt Geschichte. Eine Geschichte des Malers Osman Hamdy Bey und die seines Sujets. Es ist für sich genommen selbst Geschichte und erzählt die Sammlungsgeschichte des Museums mit. Das Motiv des Gemäldes und wie ich das Gemälde reproduzierte, berichten über mich als Fotografen und “Digitaltouristen”. Der Reichtum an Geschichten wächst mit jedem Betrachter. Genau darum geht es mir heute.

Obwohl ich als Digitalstratege seit Jahren bei Wikimedia Deutschland, der Fördergesellschaft der Wikipedia und Wikidata, arbeite, werde ich weder über Wikipedia noch über digitale Technologien sprechen. Weder über den Vorteil von WiFi im Museum, noch über Tablets in der Museumspädagogik. Weder über Social Media, Deutsche Digitale Bibliothek noch Europeana. Ich werde Ihnen nicht darlegen, wie Sie Ihre Bestände digitalisieren oder wie Sie Ihre Metadaten mit Wikidata verknüpfen, um deren vernetze Reichweite zu erhöhen. Es geht mir nicht um Urheberrecht, Wissensallmende oder um Public Domain. Darum kann es erst im zweiten Schritt gehen. Nachdem Sie sich entschieden haben, ob Sie meinem Vorschlag folgen wollen. Nachdem Sie den ersten Schritt gemacht haben.

Geschichtsmuseen im Wandel

Geschichtsmuseen entstanden aus den Sammlungen von Herrschenden, später auch von Bürgern. Sie beinhalten die Objekte, die als Gedächtnisanker für ein referentielles Ereignis in der Vergangenheit dienten. Die eroberte Truppenfahne aus den Religionskriegen, die mittelalterliche Urkunde zur Verleihung des Marktrechtes. Der Humpen des Zunftmeisters. Das Tafelsilber der jüdischen Kaufmannsfamilie. Die zurückgelassenen Schuhe des Emigranten. Aus den Schaukabineten wurden chronologische Ausstellungen, um den Besuchern Geschichtskenntnisse der Stadt, der Region, des Landes oder der Nation zu vermitteln. Je nachdem welchen Brotherren das Haus hat.

In jüngerer Zeit kamen thematische Ausstellungen hinzu. Dann hielt die  Erlebnisgesellschaft Einzug in die Geschichtsmuseen. Die Inszenierung der Sammlung wurde zum Credo. Doch ganz gleich, welche Medien Sie verwenden, welche Inszenierungsform Sie wählen. Ob und wie Sie das Objekt in das Narrativ des Rundganges einbetten, Sie behalten die Fäden in der Hand. Sie haben den Vermittlungsauftrag. Sie haben das Wissen. Sie sind der Experte. Sie spinnen den Faden der Erzählung. Sie sind der Geschichtenerzähler. Das heißt aber auch: Die anderen, die Besucher, die Schulklassen, die Touristen, die Abonnenten Ihres Museumsnewsletters, die User Ihrer neuen Museumsapp, Ihre Facebookfreunde sind Ihre Leser, Zuschauer, Zuhörer, Ihre Rezipienten. Sie sind, wenn man das Wörtliche auf die Spitze treibt, die Behälter für Ihre geistigen Ergüsse.

Reicht das Ihren Besuchern heute? Reicht Ihnen das? Wenn Sie nicht nur neue Technologien und Medien in Ihrem Museum zum Einsatz bringen wollen, dann verheißt eine wirksame Digitalstrategie die Chance auf einen radikalen Rollenwechsel. Gewissermaßen vom Gleich- zum Wechselstrom. Sie stellen die Weichen um auf Dialog. Mal sind Sie der Geschichtenerzähler und mal sind Sie der Zuhörer. Mal greifen Sie den Faden Ihres Gegenübers auf und weben ihn ein in das gemeinsame Narrativ zu den Objekten Ihrer Sammlung. Ein anderes Mal sind Sie der Impulsgeber für einen neuen Spin der Geschichte eines Ihrer Besucher. Die Digitalität ist für diesen Rollenwechsel nicht zwingend, sie macht es nur wahrscheinlicher, dass er gelingt. Der Rollenwechsel eröffnet Ihnen neue Handlungsebenen, neben den hergebrachten. Denn natürlich wollen nach wie vor viele der Museumsbesucher in erster Linie unterhalten und vielleicht ein wenig unterrichtet werden. Die Besucher Ihrer Website wollen im Augenblick noch mehrheitlich wissen, wann und wo sie das Haus geöffnet finden, und Ihre Facebookfreunde versprechen sich von Ihrer “Freundschaft” meist nur aktuelle Informationen zum Ausstellungskalender.

Aufbruch zu big cultural heritage data

Camille Flammarion, L’Atmosphère: Météorologie Populaire (Paris, 1888) public domain via Wikimedia Commons

Doch mit der Weite des Netzes steigt um ein Vielfaches die Chance mit Menschen in Kontakt zu treten, die mehr wollen. Es ist daher in Ihrem Interesse, wenn Besucher im Museum fotografieren und die Bilder im Netz teilen. Eine Fotografiererlaubnis ermöglichte es mir, dieses wortwörtliche Nischenbild von Osman Hamdy Bey aus dem Musée d’Orsay mit Ihnen und meinen Twitterfollowern legal zu teilen und es so bekannter zu machen. Davon profitiert das Musée d’Orsay. Genauso wie Sie davon profitieren, wenn Forscher, die Ihre Daten mit den eigenen verknüpfen, über die Interpretation von “Big Data” zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangen, die Sie wiederum für eine neue Perspektive auf Ihre Sammlung nutzen können. Pädagogen, die Material für ihre Lerninhalte suchen, verweisen dabei auf Ihr Haus als Wissensquell. Künstler, die wie je Collagen aus Altem zu Neuem formen, erneuern das Interesse an Ihren Objekten. Menschen und Unternehmen, die die Digitalisate Ihrer historischen Sammlungen als Rohstoff für neue Kreationen nutzen wollen, seien es neue Websites, Videoclips  oder Stoffdrucke für die Frühjahrskollektion, tragen zur Verankerung dieser historischen Inhalte in der Öffentlichkeit bei.

Wenn Sie meiner Empfehlung für eine wirksame Digitalstrategie folgen wollen, dann machen Sie den ersten Schritt. Dieser passiert in Ihrem Kopf. Werden Sie zum Ermöglicher. Werden Sie Neudeutsch zum Facilitator, wie es Prof. Vogel, Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums, ausdrückte, indem Sie Sorge dafür tragen, dass Ihre Sammlungen digital nutzbar werden!  Stellen Sie Ihre digitalisierten Inhalte über Plattformen wie Deutsche Digitale Bibliothek, Europeana oder Wikimedia Commons der Allgemeinheit zur Verfügung, damit sie besser auffindbar sind. Denn viele Ihrer historischen Objekte gehören in die Wissensallmende. Sie sind gemeinfrei. Es liegt an Ihnen, ob Sie durch die Digitalisierung neue Leistungsschutzrechte als Wall zwischen die Digitalisate und ihre Nutzer hochziehen oder ob Sie darauf im Sinne der Nachnutzung verzichten. Verwenden Sie offene Creative-Commons-Lizenzen, die selbst Maschinen eindeutig kommunizieren, zu welchen Konditionen die Inhalte nachnutzbar sind. Ein wichtiger Punkt hierbei ist die einfache technische Attributierung der Digitalisate als aus Ihrem Haus stammend. Beides, der Transfer in die Portale und die offenen Lizenzen, ermöglichen es, über Softwareschnittstellen Ihre Daten mit anderen Daten frei zu kombinieren und sie in neue Kontexte zu bringen. Beides fügt Ihre Daten in den Kosmos von Big Cultural Heritage Data ein.

Starten Sie klein, aber mit Verve. Lassen Sie sich inspirieren von Projekten, wie sie zum Beispiel im Rahmen von Coding da Vinci, dem Kultur-Hackathon, entwickelt werden. Möglicherweise Geokoordinaten zu den Orten, die in Ihrer Gemäldesammlung dargestellt sind, so dass Sie die Gemäldemotive leichter auf einer Karte in Ihrer Ausstellung abbilden, oder Ihren Besuchern als Stadterkundungsapp mitgeben können. Museumswebseitenbesucher, die mit ihrem Wissen zu einem besseren Verständnis einzelner Objekte beitragen oder ungeahnte Korrekturen liefern. Gewinnen Sie neue Perspektiven auf Ihre Sammlungen und generell mehr Sichtbarkeit für Ihr Haus. Denn was nicht im Netz ist, fällt aus der Welt der Wahrnehmung heraus. Auf jeden Fall gewinnen Sie im Dialog Freunde.

Sie kommen in gute Gesellschaft

In den letzten Jahren haben sich weltweit renommierte Kulturerbeeinrichtungen entschlossen, diesen ersten Schritt zu wagen: The Smithonian Institutions, das Met, Getty, The National Gallery of Art allein in den USA. In Europa das schwedische Nationalmuseum, die dänische Nationalgalerie, das niederländische Reichsmuseum, das Schweizer Bundesarchiv, the British Library, das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, [1] die Universitätsbibliothek Heidelberg, das schwedische Amt für Denkmalpflege, das österreichische Bundesdenkmalamt, das Museum für Naturkunde Berlin. Ich zähle hier exemplarisch Institutionen auf, die den Paradigmenwechsel von der Inszenierung zum Dialog als den elementaren Schritt ihrer digitalen Strategie betrachten. Mit den Worten von Berndt Arell, Generaldirektor des schwedischen Nationalmuseums, gesprochen: “[…] these artworks belong to all of us and are there for all of us, regardless of how the images are used. We hope our open collection will inspire creative new use and interpretation of the artworks.” [2]

In unserer Zeit, in der gewohnte Gewissheiten verblassen, Strukturen komplexer werden und das Individuum sich nicht selten einsam in dem so genannten globalen Dorf fühlt, satteln all diese Institutionen auf einen Trend, der immer wichtiger wird: Bonding. Oder wie der französische Denker Didier Eribon es treffend formuliert “Für die Menschen ist es wichtig, dass sie zählen und Teil von etwas sind.”[3]

Das größte Netz-Projekt der Welt, Wikipedia, verzeichnet als Motive der zehntausenden aktiven Beitragenden: Neben der Befriedigung Teil der Bewegung für das Freie Wissen zu sein und damit sich selbst als einen Knotenpunkt im Netzwerk verorten zu können, ist es die Genugtuung, etwas zu bewirken und etwas gestalten zu können, und dieses Wirken wiederum als bedeutendes Teil des Ganzen zu erfahren, die sie antreibt, ihre Freizeit für das Schreiben von Enzyklopädie-Artikeln zu spenden. Das befriedigende Gefühl, das universale Prinzip Actio und Reactio mindestens in einem Teil der eigenen Welt zu beherrschen, machen sich Facebook und andere Social-Media-Plattformen zunutze. Es lässt immer mehr Menschen sich in deren Netzwerke einreihen. Es bindet sie: Bonding. Dieses Gefühl, verstärkt durch die Vorstellung etwas Sinnvolles und gesellschaftlich Anerkanntes zu tun, funktioniert bei Wikipedia, bei Getty, der British Library, dem Rijksmuseum. Warum nicht auch bei Ihnen? Den ersten Schritt einer wirksamen Digitalstrategie müssen Sie selber tun: Trauen Sie sich Ihre Geschichten zu teilen. Wikimedia Deutschland unterstützt Sie in den Kulturerbeeinrichtungen gern beim zweiten Schritt.

Weitere Blogposts

Markus Speidel : JAHRESTAGUNG DES DEUTSCHEN MUSEUMSBUNDES 2017 IN BERLIN

Fußnoten:

  1. zitiert nachMerete Sanderhoffs /SMK  Vortrag: How starting small can change the museum world, Hamburg 2017
  2. zitiert nach Karin Glasemann (sharing is caring Hamburg 2017)
  3. zitiert nach Der Freitag, Nr 17/2017; S.3

Kommentare

  1. Urheberrecht auf Abwegen – Marcel Waldvogel
    11. Juni 2017 um 14:49 Uhr

    […] Barbara Fischer auf wmdeblog.local: Die digitale Transformation ist eine große Chance für das K… […]

  2. Barbara Fischer
    17. Mai 2017 um 07:06 Uhr

    Der Fall REM wurde nicht im Rahmen der Fachgruppensitzung diskutiert. Hier ein weiterer Beitrag zur Einordnung https://irights.info/artikel/die-hueter-der-kultur/28229. Wie der Fall im Rahmen des DMB diskutiert wurde entzieht sich leider meiner Kenntnis. Vielleicht weiß jemand anderes darüber zu berichten?

  3. Franz
    16. Mai 2017 um 21:04 Uhr

    Gab es denn irgendeine Reaktion der REM bzw ihrer Befürworter in der Diskussion? Oder sind die alle in anderen Fachgruppen organisiert?

  4. Barbara Fischer
    16. Mai 2017 um 19:43 Uhr

    Das stimmt, daher hier der Link zum Fall: https://blog.wikimedia.de/2016/06/21/erklaerung-zum-fall-reiss-engelhorn-museen/

  5. Wikipedianer
    16. Mai 2017 um 17:29 Uhr

    Schön, dass Beispiele für progressive Museen auch namentlich genannt sind. Leider fehlt das umgekehrte Paradebeispiel für die rückwärtsgewandten Museen, die alles falsch machen, was falsch zu machen ist: die REM Mannheim, die Besucher mitsamt Wikipedia fürs Fotografieren und Hochladen gemeinfreier Werke und Alltagsgegenstände verklagen.

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