Herr Prof. Dr. Franke, sie sind seit einigen Jahren in der deutschsprachigen Wikipedia aktiv. Was genau machen Sie dort schwerpunktmäßig?
Prof. Dr. Franke: Ich bin hauptsächlich im Themenbereich Islam aktiv und bemühe mich darum, durch eine stärkere wissenschaftliche Fundierung die Qualität der islambezogenen Informationen in der Wikipedia nachhaltig zu verbessern. Ziel ist der Aufbau eines neuen umfassenden und zuverlässigen Nachschlagewerks zum Islam, das in die deutschsprachige Wikipedia integriert ist, die technischen Möglichkeiten dieses Mediums nutzt und sowohl für ein allgemeines Publikum als auch für ein Fachpublikum interessant ist. Insgesamt umfasst das Projekt mehrere Teilbereiche: die Anlage von neuen Artikeln und den Ausbau von bereits bestehenden Artikeln im Islam-Bereich, die Ergänzung von islambezogenen Informationen in Artikeln zu allgemeineren Themen, die Ordnung des islambezogenen Wissens in der WP durch Pflege des Islam-Portals und des Kategoriensystems und die Beratung anderer WikipedianerInnen, die Beiträge zu islambezogenen Themen leisten. Das Projekt ist auf meiner Benutzerseite dokumentiert. Dort nenne ich in einem “Mission Statement” auch die Gründe für mein Engagement in der WP.
Wie sind Sie dazu gekommen, Ihre wissenschaftlichen Fachkenntnisse in Wikipedia einzubringen?
Prof. Dr. Franke: Es hat bei mir angefangen, wie bei vielen anderen WikipedianerInnen auch. Ich sah einen Artikel zu einem Thema, mit dem ich mich gut auskenne, und hatte das Gefühl, dass dieser doch sehr ergänzungs- und verbesserungsbedürftig ist. Insbesondere ärgerte mich, dass die neuere Forschung zum Thema (einschließlich meiner eigenen Dissertation) gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Ich habe mich dann langsam an das Medium herangetastet, meine ersten Edits bei dem Artikel gemacht und erfreut registriert, dass meine Beiträge per Sichtung angenommen wurden. Ich habe den Artikel dann vollständig ausgebaut und im Umfeld noch ein paar andere Artikel angelegt. Das war mein erster Versuchsballon. Als ich dann im Frühjahr 2013 mein erstes Forschungsfreisemester antrat und zur gleichen Zeit aktive Sichterrechte erhielt, weitete ich meine Aktivität in der Wikipedia aus. Mir ging es darum, die Grenzen des Mediums auszutesten, zu schauen, wie weit ich gehen kann. Das Ganze war sehr experimentell angelegt. Ich wollte auch den “sozialen Raum” Wikipedia erkunden. Da meine Erfahrungen während dieser Zeit durchweg positiv waren, habe ich nach dem Ende des Forschungssemesters meine Aktivität in der WP fortgesetzt.
Stellt Ihre Arbeit in Wikipedia für Sie eine wissenschaftliche Tätigkeit dar?
Prof. Dr. Franke: Ja, auf jeden Fall. Wenn ich neue Artikel anlege, dann erfüllen diese auch die wissenschaftlichen Standards von Fachenzyklopädien. Alle Aussagen werden anhand der Sekundärliteratur bzw. von Originalquellen belegt. In der Wikipedia kann ich sogar über das hinaus gehen, was die Fachenzyklopädien bieten, indem ich Links zu digitalisierten Texten in die Artikel einbaue, anhand derer sich die von mir gebotenen Informationen sofort überprüfen lassen. Wissenschaftlichkeit stellt ja sehr stark auf den Gedanken der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ab. Wenn etwas von dem, was ich in einem Artikel schreibe, von anderen nicht nachvollziehbar ist, bekomme ich das sehr schnell mit, etwa durch Kommentare auf der Diskussionsseite oder Veränderungen am Text. Wikipedia ist ein öffentlicher Raum. Demgegenüber erscheinen wissenschaftliche Medien, Fachenzyklopädien und Fachzeitschriften, manchmal wie abgeschottete Nischen. Der Kreis derjenigen, die dort eine Publikation zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren können, ist manchmal nur sehr klein, Reaktionen kommen bisweilen erst Jahre später.
Wikipedia-Arbeit kostet viel Zeit, und Zeit ist im wissenschaftlichen Betrieb bekanntlich ein knappes Gut.
Kennen Sie KollegInnen aus dem Wissenschaftsbereich, die ebenfalls als Wikipedia-AutorInnen aktiv sind oder gelten Sie mit ihrem ehrenamtlichen Engagement eher als “Exot”?
Prof. Dr. Franke: Mir sind nur wenige WissenschaftlerInnen bekannt, die unter ihrem Klarnamen zu Wikipedia beitragen bzw. beigetragen haben. Mein Kollege Martin Haase hier in Bamberg, Olaf Simons in Gotha, Dierk Lange in Bayreuth, Ernst Kausen an der TH Mittelhessen. Das sind die Namen, die mir einfallen. Der Grund, warum so wenige WissenschaftlerInnen in der WP aktiv sind, ist natürlich klar. Wikipedia-Arbeit kostet viel Zeit, und Zeit ist im wissenschaftlichen Betrieb bekanntlich ein knappes Gut. WissenschaftlerInnen, die sich noch in der Qualifikationsphase befinden und an ihrer Karriere stricken, können sich solchen “Luxus”, der für ihre Reputation nichts bringt, meist nicht leisten. Sie leben häufig in einer prekären Situation, weil ihre Stellen befristet sind. ProfessorInnen dagegen sind meist mit Lehr- und Leitungsaufgaben, Akquirierung von Drittmitteln und Gutachtertätigkeit schon sehr beschäftigt, so dass nur wenig Zeit für anderes übrigbliebt. Darüber hinaus gibt es das Problem der leistungsorientierten Vergütung und Mittelvergabe, für die Publikationen in wissenschaftlichen Fachorganen anrechenbar sind, Artikel in der Wikipedia jedoch nicht. Vor diesem Hintergrund falle ich mit meinem Engagement für Wikipedia schon ziemlich aus dem Rahmen.
Wie reagieren Ihre KollegInnen auf ihr ehrenamtliches Engagement in der Wikipedia? Haben Sie hier auch negative Erfahrungen gemacht?
Prof. Dr. Franke: Die Reaktionen sind überraschend positiv. Die meisten sehen ein, dass es sinnvoll ist, in dieses Medium zu investieren, weil alle davon profitieren. Das trifft insbesondere für die jüngeren KollegInnen zu, die die Wikipedia selbst viel nutzen und die dortigen Links zu Digitalisaten und externen Datenbanken sehr schätzen. Große Skepsis herrscht freilich hinsichtlich der Nachhaltigkeit dieser Investition. Was machst Du, wenn Deine Artikel von anderen verändert werden? Verschwindet das nicht alles in ein paar Jahren wieder? Das sind Fragen, die ich häufig höre. Mit der Veränderbarkeit meiner Artikel habe ich bisher wenig Probleme. Der Schutz vor Vandalimus funktioniert in der Wikipedia recht gut, und inhaltliche Veränderungen durch andere führen in den meisten Fällen am Ende eher zu einer Verbesserung als einer Verschlechterung des Artikels. Größere Sorgen bereitet mir schon die Frage der Langzeitarchivierung der von mir verfassten Texte. Um diese zur sichern, denke ich zur Zeit über Möglichkeiten der Zweitveröffentlichung in wissenschaftlichen Publikationsreihen nach. Derartige Zweitveröffentlichungen von Artikelsammlungen würden mir auch ermöglichen, Punkte für die Leistungsorientierte Mittelvergabe (LOM) zu sammeln. Leider bin ich durch die Anreizsysteme im universitären Bereich gezwungen, auf solche Dinge zu achten.
Wikipedia und Wikidata können sowohl den Informationsaustausch in der Wissenschaft selbst als auch den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Öffentlichkeit enorm verschnellern.
Inwiefern denken Sie, dass Wikipedia oder andere Wikimedia-Projekte wie Wikidata sinnvolle Instrumente der Wissenschaftskommunikation darstellen? Warum sollten mehr WissenschaftlerInnen dort aktiv sein?
Wikipedia und Wikidata können sowohl den Informationsaustausch in der Wissenschaft selbst als auch den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Öffentlichkeit enorm verschnellern. Sie tun das auch bereits. Auf einige Veröffentlichungen und Datenbanken bin ich erst dadurch aufmerksam geworden, dass sie dort erwähnt oder verlinkt waren. Und das geht auch meinen KollegInnen so. Es gibt aber immer noch viele Artikel in der Wikipedia, bei denen die wissenschaftliche Fundierung fehlt: die Forschungsliteratur zu dem fraglichen Thema wird nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Indem Wissenschaftler hier aktiv werden und den Forschungsstand darstellen, kann die Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ein Stück weit geschlossen werden. Ich halte das auch für eine ethische Frage: da ich als Wissenschaftler über Steuern finanziert werde, sehe ich mich auch in einer Informationspflicht gegenüber der breiten Öffentlichkeit. Andererseits sollte man auch keine neuen Imperative aufbauen: nur diejenigen Wissenschaftler sollten sich in diesem Projekt engagieren, die sich dazu berufen fühlen. Es gibt ja auch WissenschaftlerInnen, die kein Interesse daran haben, ihr Wissen einem größeren Publikum in verständlicher Weise zu präsentieren, oder die dazu gar nicht imstande sind. Diese wären keine Bereicherung für das Projekt.
Ich empfinde es als etwas demotivierend, dass diejenigen, die an Wikipedia mitarbeiten, nicht “Beiträger” genannt werden, wie sonst in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Zusammenhängen üblich, sondern “Benutzer”. Ich weiß natürlich, dass dieser Begriff aus der elektronischen Datenverarbeitung kommt, aber trotzdem empfinde ich ihn als abwertend und sehr unpassend für das, was ich und andere leisten.
Was könnte getan werden, um mehr Menschen aus dem Wissenschaftsbereich zu motivieren, sich ehrenamtlich als Wikipedia-Autorinnen zu betätigen und das Projekt dadurch mit ihrem Fachwissen zu bereichern?
Es gibt zwei Instrumente, mit denen man die Bereitschaft von WissenschaftlerInnen, an der Wikipedia mitzuwirken, wahrscheinlich relativ schnell erhöhen könnte. Das erste hat mit der Autorschaft zu tun. Wikipedia ist ja als Veröffentlichungsmedium für WissenschaftlerInnen nur deswegen so unattraktiv, weil die Namen der AutorInnen nicht unter den Artikeln stehen. Das Studieren der Versionsgeschichte ist mühsam, und Tools wie Wikihistory, die in kürzester Zeit eine Ermittlung der HauptautorInnen ermöglichen, sind den meisten Wissenschaftlern nicht bekannt. Eine stärkere Beteiligung von WissenschaftlerInnen würde man sicher nur über eine Stärkung des Prinzips der Autorschaft erreichen. Dafür wäre es völlig ausreichend, wenn standardmäßig unter jedem Artikel ein mit “Haupautoren” beschrifteter Verweis auf Wikihistory angebracht würde, so wie das jetzt schon mit der Abrufstatistik der Fall ist. Es sollte außerdem gesichert sein, dass dieses Tool dauerhaft zur Verfügung steht. Das zweite Instrument ist die Wikipedia Library. Viele WissenschaftlerInnen leiden schon jetzt darunter, dass sie nur einen eingeschränkten Zugang zu elektronischen Fachmedien haben, entweder weil ihnen die institutionelle Anbindung fehlt oder sich ihre Universitäten die betreffenden Abonnements nicht mehr leisten können. Das Problem wird sich in Zukunft voraussichtlich noch weiter verschärfen. Wenn die Wikipedia Library in der Weise ausgebaut würde, dass sie verdienten WikipedianerInnen Zugang zu elektronischen Medien bietet, die ihnen sonst nicht mehr oder nur mit Verzögerung zur Verfügung stehen, wäre das gewiss ein zusätzlicher Anreiz zur Mitarbeit. Man muss sich allerdings auch im Klaren sein, dass solche extrinsischen Anreize so stark werden können, dass sie die intrinsischen Motive zur Mitarbeit an dem Projekt in den Hintergrund drängen. Und in diesem Fall wären sie dem Projekt abträglich. Schließlich möchte ich noch einen anderen Punkt ansprechen, der mit der Kultur der Wertschätzung in der Wikipedia zu tun hat. Ich empfinde es als etwas demotivierend, dass diejenigen, die an Wikipedia mitarbeiten, nicht “Beiträger” genannt werden, wie sonst in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Zusammenhängen üblich, sondern “Benutzer”. Ich weiß natürlich, dass dieser Begriff aus der elektronischen Datenverarbeitung kommt, aber trotzdem empfinde ich ihn als abwertend und sehr unpassend für das, was ich und andere leisten. Als “Benutzer” müssten doch eigentlich die Leser der Artikel bezeichnet werden, und nicht diejenigen, die diese Artikel häufig unter großem persönlichen Einsatz erstellen. Indem man den Begriff “Benutzer” durch “Beiträger” austauscht, könnte man diejenigen, die sich in dem Projekt engagieren, sprachlich aufwerten und würde damit vielleicht auch noch mehr WissenschaftlerInnen zur Mitarbeit in der Wikipedia motivieren.
Prof. Dr. Patrick Franke ist Inhaber des Lehrstuhls für Islamwissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Interreligiöse Studien an der Universität Bamberg.
Mehr aus der Reihe „Freies Wissen und Wissenschaft“
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- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 03): Open Access und seine Wirkung in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft (Gastbeitrag von Ulrich Herb,Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek)
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- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 06): „All of Open Access on a stick“, oder: Wie überwinden wir die Open-Silos? (Gastbeitrag von Lambert Heller,Open Science Lab der TIB Hannover)
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