Wikipedia
Das Rezept für vertrauenswürdige Informationen: Die drei Grundpfeiler der Wikipedia

Patrick Wildermann
15. Oktober 2025
Dieser Artikel ist eine angepasste Übersetzung des Original-Artikels der Wikimedia Foundation.
Zunehmend kommen uns die gemeinsamen Standards dafür abhanden, was als vertrauenswürdige Information gilt – und wessen Stimmen als glaubwürdig angesehen werden. Institutionen, die einst als Hüter des Wissens galten – Wissenschaft, Journalismus, Hochschulen – erleben einen Rückgang des öffentlichen Vertrauens. Immer mehr Menschen verlassen sich auf Online-Plattformen, die ihnen vertraut erscheinen, aber oft wenig zuverlässig sind. Wir müssen wieder eine gemeinsame Basis und einen Konsens finden, was wirklich vertrauenswürdige Informationen sind.
Der Wikipedia ist es gelungen, ein solches Vertrauen auf globaler Ebene zu schaffen – dank dreier einfacher, aber wirkungsvoller Richtlinien. Sie bilden die Grundlage für die Zuverlässigkeit der Informationen auf Wikipedia:
- Neutraler Standpunkt: Wikipedia-Artikel müssen Informationen so weit wie möglich fair und unvoreingenommen darstellen.
- Überprüfbarkeit: Alle Informationen müssen aus veröffentlichten, zuverlässigen Quellen stammen, die die Leser*innen selbst überprüfen können.
- Keine eigenen Recherchen: Wikipedia veröffentlicht keine persönlichen Meinungen oder neue Theorien, sondern fasst zusammen, was bereits an anderer Stelle in zuverlässigen Quellen veröffentlicht wurde.
Diese Richtlinien wurden vor bald 25 Jahren etabliert – in den Anfangstagen der Wikipedia. Noch heute leiten sie die Arbeit von Hunderttausenden Freiwilligen, die Inhalte zu einer Enzyklopädie beitragen, die jeden Monat von mehr als 15 Milliarden Menschen gelesen wird. Es handelt sich nicht nur um Regeln für eine Website, sondern um Standards, von denen das gesamte Informationsökosystem lernen kann.
Neutraler Standpunkt: Ausgewogenheit durch Zusammenarbeit
Der neutrale Standpunkt zählt zu den wichtigsten Prinzipien der Wikipedia. Er verlangt, „alle wichtigen Perspektiven, die von zuverlässigen Quellen zu einem Thema veröffentlicht wurden, fair, ausgewogen und so weit wie möglich ohne redaktionelle Voreingenommenheit darzustellen“. Es ist nicht die Aufgabe der Ehrenamtlichen zu entscheiden, welche Ansicht richtig ist; ihre Rolle besteht darin, zu dokumentieren, was verschiedene glaubwürdige Quellen veröffentlicht haben.
Darin unterscheidet sich die freie Enzyklopädie von vielen Online-Plattformen, auf denen sich Inhalte vor allem dann durchsetzen, wenn sie parteiisch sind. Die Wikipedia ist nicht für ein bestimmtes Publikum oder eine bestimmte Ideologie geschrieben. Sondern für alle.
Natürlich kann niemand völlig unvoreingenommen schreiben. Deshalb ist das kollaborative Modell von Wikipedia so wichtig: Die Neutralität wird gemeinsam erreicht – durch Diskussionen, Edits und Konsensfindung. Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, dass Wikipedia-Artikel in der Regel an Qualität und Zuverlässigkeit gewinnen, je mehr Menschen daran mitarbeiten.
Der Grund dafür ist einfach: Alle Wikipedianer*innen bringen unterschiedliches Wissen, einen eigenen kulturellen Hintergrund – und eben auch potenzielle Vorurteile mit. Werden diese unter den Freiwilligen offen verhandelt, spiegelt der endgültige Artikel nicht mehr nur die Perspektive einer einzelnen Person wider. Fehler werden schnell entdeckt, Lücken geschlossen und Quellen gemeinsam überprüft. Eine Vielzahl von Standpunkten aus den verfügbaren Veröffentlichungen kommt zusammen.
Neue Initiativen zur Förderung der Neutralität
Die Wahrung der Neutralität ist eine fortlaufende Herausforderung. Die Wikimedia Foundation hat in Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen eine Reihe von Maßnahmen eingeführt, die Autor*innen beim Konzept des neutralen Standpunkts unterstützen und anleiten sollen:
Dazu zählt ein neues Modul auf der WikiLearn-Plattform, die Teil des Wikimedia-Kerncurriculums ist. In kurzen Videos werden hier wichtige Praktiken erläutert: Wie schreibe ich enzyklopädisch, unparteiisch und für ein globales Publikum? Wie lassen sich falsche Gewichtungen vermeiden?
Außerdem wurde eine Arbeitsgruppe aus Ehrenamtlichen, Forscher*innen und Berater*innen gebildet, die untersuchen soll, wie der neutrale Standpunkt in den verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia ausgelegt wird. Die Arbeitsgruppe hat bereits eine erste Analyse dazu veröffentlicht und wird weitere Empfehlungen abgeben, wie sich die Richtlinie weltweit weiterentwickeln könnte.
Daran zeigt sich, dass Neutralität nicht in Stein gemeißelt ist. Wikipedia-Artikel werden regelmäßig aktualisiert, sobald neue Quellen verfügbar sind. Das stellt sicher, dass die Leser*innen einen wirklich umfassenden Überblick über Themen gewinnen, die sie interessieren. Und es schließt ein, dass sich Diskussionsstände zu einem Thema auch ändern können. Es braucht ständige Aushandlungen und Anpassungen – wie überhaupt bei den Diskussionen über vertrauenswürdige Informationen im Internet.
Überprüfbarkeit und keine eigenen Forschungsergebnisse: Aufbauen auf Quellen
Die beiden anderen zentralen Richtlinien – Überprüfbarkeit, keine Theoriebildung – stellen sicher, dass alle Inhalte auf veröffentlichten, zuverlässigen Quellen basieren: darunter Bücher, Forschungsergebnisse, Nachrichtenartikel und wissenschaftliche Publikationen.
„Überprüfbarkeit“ meint, dass jeder Fakt von den Leser*innen leicht nachvollzogen werden kann. Einzelnachweise verlinken direkt auf die Quelle jedes Zitats und jeder wichtigen Information.
Die Richtlinie „Keine Theoriebildung“ wiederum schließt als weiterer Sicherungsmechanismus persönliche Interpretationen, unveröffentlichte Behauptungen oder unbestätigte Fakten aus. Diese Standards werden auch durch Tools und Bots unterstützt, die Zitate sichern – so dass bei Änderungen von Webseiten und Links zu Quellen immer ein Datensatz davon auf Wikipedia zugänglich ist.
So wirkt die Wikipedia einigen der schlimmsten Tendenzen des Internets entgegen: Gerüchte ohne Quellenangabe, persönliche Spekulationen, die als Fakten präsentiert werden, Falschinformationen, die viral gehen und Verbreitung finden.
Was aber gilt als „zuverlässige Quelle”? Diese Frage sorgt unter Wikipedianer*innen für ständige Diskussionen. Eine entscheidende Rolle spielen Genauigkeit, Faktenprüfungsprozesse, Transparenz und die Korrekturrichtlinien von Primärquellen. Fachzeitschriften, peer-reviewte Forschungsarbeiten oder etablierte Nachrichtenorganisationen mit dokumentierten redaktionellen Standards gelten im Allgemeinen als zuverlässig. Private Blogs, parteiische Medien oder solche, die keine Korrekturhistorie veröffentlichen, in der Regel nicht.
Ebenso wie die Neutralität ist auch die Zuverlässigkeit einer Quelle nichts Festgeschriebenes. Freiwillige können gemeinsam ihre Einschätzung treffen und sie auch ändern, wenn neue Informationen verfügbar sind. Die Bewertung hängt nicht an der Meinung einzelner Wikipedianer*innen, sondern daran, wie andere Publikationen und Belege die betreffende Quelle beurteilen.
Warum diese Richtlinien über Wikipedia hinaus wichtig sind
Die Richtlinien der Wikipedia einzuhalten, erfordert Aufwand, Diskussionen und eine kontinuierliche Durchsetzung durch Millionen von Bearbeitungen jedes Jahr. Aber dieser Aufwand lohnt sich, denn er ist heute relevanter denn je. Die Menschen brauchen vertrauenswürdige Informationen im Internet. Informationen, die
- unparteiisch verfasst
- durch eine überprüfbare Quelle belegt sowie
- niemals erfunden oder spekulativ sind.
Das ist nicht nur das Wikipedia-Rezept für Zuverlässigkeit – die Einhaltung dieser Standards kann helfen, das kollektive Vertrauen in Wissen wieder aufzubauen.