Wissensgerechtigkeit
Verdrängt, verschwiegen, vergessen: Wie Wikipedia die Verfolgung queerer Menschen im Nationalsozialismus sichtbar macht

Hanna Klein
25. September 2025
„Die Aufarbeitung der NS-Verfolgung queerer Menschen ist eine Ecke der Erinnerungskultur, für die man eine Taschenlampe braucht.“ So beschreibt es die Wikipedianerin Llydia, die beim Internationalen Workcamp „Queere Menschen im KZ Lichtenburg – Was wird erinnert?“ im sachsen-anhaltinischen Prettin eine Einführung in die Wikipedia gab. „Die Verfolgung von Personen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprachen, geschah zwar nicht geräuschlos, wurde aber durch das anschließende Schweigen darüber in der Geschichtsschreibung oft ausgespart“, erklärt sie die lückenhafte Quellenlage.
Wikipedia-Workshop zu Biografien verfolgter Minderheiten

Eben diese Leerstellen machen es bis heute schwer, das Wissen über die Verfolgten zu dokumentieren. Denn um beispielsweise Artikel in der Wikipedia zu belegen, braucht es Sekundärquellen. Über die Verfolgung von queeren Menschen existieren aber oft nur Dokumente der NS-Justiz.
Wie können diese Schicksale dennoch mehr Sichtbarkeit erlangen? Wie kann eine Gedenkstätte als Lern- und Erinnerungsort dazu beitragen – und wie die Wikipedia? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des zweiwöchigen Projekts „Queere Menschen im KZ Lichtenburg“, das die Gedenkstätte veranstaltete. Eine internationale Gruppe von Teilnehmenden forschte hier schwerpunktmäßig zu den Biografien von Verfolgten. Wikimedia Deutschland sowie Freiwillige der Wikipedia-Community gaben dazu einen Input zu marginalisiertem Wissen bzw. eine Wikipedia-Einführung.
Die Ergebnisse können sich sehen lassen: Die Teilnehmenden erstellten in der deutschsprachigen Wikipedia eine Biografie über Fritz Kitzing, einen Crossdresser, der im KZ Lichtenburg inhaftiert war. Die italienischsprachige Wikipedia ergänzten sie um eine Biografie des Schauspielers Kurt von Ruffin, ebenfalls ein Opfer der queerfeindlichen NS-Politik. Auch der spanischsprachige Wikipedia-Artikel zum Konzentrationslager Lichtenburg wurde umfassend überarbeitet und um queere Perspektiven ergänzt.
Der Wert von Bewegungsarchiven
Angetrieben waren die Teilnehmenden aus der Schweiz, Spanien, Mexiko, Italien und Deutschland von unterschiedlichen Motivationen: Eine Teilnehmerin ist Lehrerin und möchte mit ihren Grundschüler*innen über das Thema Nationalsozialismus sprechen; einer aktivischen Person aus der queeren Community geht es darum, generell queere Geschichte im Internet sichtbarer machen.
Einen großen Teil der Arbeit nahm die Erstellung und Ergänzung von Wikipedia-Artikeln ein – angeleitet von der erfahrenen Wikipedianerin Llydia. Bei der Artikel-Arbeit in der Wikipedia gebe es neben der lückenhaften Quellenlage noch eine Reihe weiterer Herausforderungen, so Llydia: Die Freiwilligen würden in unterschiedlichen Wikipedia-Sprachversionen editieren. Die Regeln und Community-Strukturen unterscheiden sich in einigen Sprachversionen jedoch sehr, beispielsweise bei der Kategorisierung von Artikeln. Und: Wie geht man damit um, dass es zu der Zeit, über die geschrieben wird, Begriffe, wie queer oder LGBTQ nicht gab?
Eine Einleitung zur Bedeutung von Wissensgerechtigkeit und der Sichtbarkeit von Marginalisiertem Wissen gab Projektmanager*in Cin Pietschmann von Wikimedia Deutschland.
Als besonders hilfreich bei der Quellensuche habe sich die Zusammenarbeit mit Bewegungsarchiven herausgestellt, berichtet Cin. Bewegungsarchive halten die Geschichte der Arbeiter- und der Frauenbewegung seit dem 19. Jahrhundert fest: „Sie zählen zu den wenigen Einrichtungen, die alles darangesetzt haben, möglichst viel persönliche Nachlässe zu bewahren und uns dadurch Einblicke in queeres Leben der Vergangenheit zu verschaffen. „Mit Hilfe der Bewegungsarchive haben wir die Chance, Menschen als Menschen wahrzunehmen und zu erinnern und nicht als Straftäter*innen“, so Cin.
Wirkung vor Ort: Prettin als Lern- und Erinnerungsort
Für alle Beteiligten waren es zwei lehrreiche Wochen – und auch die Stadt Prettin profitiert von diesem Projekt: Durch die Arbeit der Teilnehmenden rücken Geschichten in den Fokus, die bislang kaum Teil des lokalen historischen Bewusstseins waren. Der stellvertretende Landrat Dr. Jörg Hartmann brachte es bei der Auftaktveranstaltung auf den Punkt:
Dieses Projekt ist ein Beitrag zur Sichtbarmachung von Geschichten, die lange übersehen oder verdrängt wurden. Geschichten von queeren Menschen im Nationalsozialismus, von denen wir heute oft nur bruchstückhaft wissen, was sie erlebt und erlitten haben. Dass die Workshop-Teilnehmenden sich dieser Aufgabe annehmen – mit offenen Augen, offenem Herzen und mit der Bereitschaft, sich auf schwierige Themen einzulassen – verdient größten Respekt.Dr. Jörg Hartmann Stellvertretender Landrat
Das Konzept, die Erinnerungsarbeit einer Gedenkstätte mit der umfangreichen Recherche und dem Editieren in der Wikipedia zu verbinden, ist aufgegangen: „Sichtbarkeit und Erinnern ist pluralistisch“, fasst Cin Pitschmann zusammen. „Die Wikipedia schafft als eine der am meisten aufgerufenen Webseiten der Welt Zugänglichkeit und Sichtbarkeit, hat aber auch ihre Limits. Digitale Räume werden nie ansatzweise die beklemmenden Eindrücke eines Gedenkortes erfassen können, daher braucht es verschiedene Orte des Erinnerns, sowohl im digitalen, als auch im analogen Raum. Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit für all die Arbeit, die – oftmals ehrenamtlich – durch Gedenkstätten und Bewegungsarchiven stattfindet und eben auch großartige Erinnerungsarbeit auf der Wikipedia ermöglicht.“
Hintergrund
Im Juni 1933, kurz nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, wurde im ehemaligen Renaissanceschloss in Prettin ein Konzentrationslager eröffnet. Zunächst wurden fast ausschließlich politische Gegner des NS-Regimes inhaftiert, später viele aus weiteren ideologischen Gründen Verfolgte – so auch viele queere Personen. Ab 1937 diente das Schloss als Konzentrationslager für weibliche Gefangene, von 1941 bis 1945 als Außenlager des KZ Sachsenhausen. Während der NS-Zeit waren etwa 10.000 Menschen im KZ-Lichtenburg inhaftiert.