Förderprogramm
Gemeinsam für mehr Wissensgerechtigkeit – Kick-Off zur zweiten Runde des Programms re·shape
Patrick Wildermann
5. Dezember 2024
Wissen ist Macht – das gilt gerade dort, wo es darum geht, wessen Wissen Sichtbarkeit erlangt und Eingang in die offiziellen Erzählungen findet. Noch immer werden zum Beispiel die Geschichten und Perspektiven von Menschen, die Rassismus erfahren, marginalisiert. Um einen Beitrag zu mehr Wissensgerechtigkeit zu leisten, hat Wikimedia Deutschland gemeinsam mit den neuen deutschen organisationen – das postmigrantische netzwerk e.V. das Förderprogramm re·shape ins Leben gerufen. Es unterstützt Projekte von Menschen aus diskriminierten und zu wenig repräsentierten Communitys, die mit ihren Vorhaben das Freie Wissen bereichern.
Nach einer erfolgreichen ersten Förderrunde, die im Sommer 2024 zu Ende ging und eine Reihe wertvoller Lernerfahrungen für alle Beteiligten bot, ist re·shape im November in das zweite Programmjahr gestartet. Auch diesmal wurden zehn Projekte aus knapp 80 Bewerbungen ausgewählt, die nun bis Juni 2025 ideell und finanziell gefördert werden. Bei einem Kick-Off in der Geschäftsstelle von Wikimedia Deutschland in Berlin kamen die Teilnehmenden erstmals zusammen, um sich zu vernetzen und sich ein Wochenende lang zu Fragen rund um Freies Wissen und freie Lizenzen auszutauschen.
Eine neue Ära der Wissensproduktion
Warum die Sichtbarkeit von marginalisiertem Wissen unter freier Lizenz immer größere Bedeutung hat, beschrieb Christian Humborg, Vorstand von Wikimedia Deutschland, in seiner Begrüßung am Beispiel der Entwicklungen rund um Künstliche Intelligenz. Eine KI könne schließlich nur jenes Wissen wiedergeben, das schon dokumentiert und verfügbar sei – trainiert werde sie mit den digital vorliegenden Beständen. „Wenn KI künftig mehr Entscheidungen trifft, ob uns das gefällt oder nicht, ist es wichtig, dass sie das Wissen der ganzen Welt abbildet“, so Humborg.
May Zeidani Yufanyi – Vertreterin der neuen deutschen organisationen und Mitglied der Auswahljury für die Projekte – bescheinigte den Geförderten: „Ihr seid die Pionier*innen einer neuen Ära der Wissensproduktion und -verbreitung.“ Keynote-Speakerin Kelly Foster, die bereits die erste re·shape-Runde begleitet hat, wählte ähnlich ermutigende Worte: „We are changing what the world knows“, wir verändern das Wissen der Welt.
Als Gründungsmitglied von AfroCROWD UK – einer Initiative, die speziell Menschen mit afrikanischem Erbe dazu empowert, sich in der Wikipedia und ihren Schwesterprojekten zu engagieren – bringt Foster einen spannenden Begriff in die Debatte: statt von „knowledge gap“, also Wissenslücke, spricht sie von „knowledge debt“, Wissensschuld. Gemeint: diejenigen, die lange die Hüter*innen des Herrschaftswissens waren, haben eine Verpflichtung, marginalisierten Perspektiven Raum zu geben.
Gemeinsam sind wir stark
Wie das im Rahmen von re·shape konkret aussehen soll, davon vermittelte beim Kick-Off die Vorstellungsrunde der Teilnehmenden einen Begriff. Bei dem Projekt „Gemeinsam für unsere Zukunft! Jugend gegen Rassismus und Krieg“ wird es beispielsweise darum gehen, Rassismus zu thematisieren – mit künstlerischen Mitteln und aus der Perspektive junger Menschen, die davon betroffen sind. „Wir geben ihnen die Möglichkeit, sich frei auszudrücken, ihre eigene Sichtweise festzuhalten, mit Kamera und Equipment“, so die Projekt-Geförderten.
Die entstehenden Fotografien werden unter freier Lizenz veröffentlicht. Das Ziel ihres Projekts beschreiben die Geförderten so: „Wir wollen gegen unfaire Strukturen ankämpfen. Unser Slogan lautet: Gemeinsam sind wir stark. Wir müssen alle an einem Strang ziehen, um eine bessere Welt zu schaffen, in der jeder die Chance auf freien Zugang zu Bildung und Wissen hat.”
Speisekarten mit politischer Dimension
Das Projekt „Hast du schon gegessen?“ von Kim Ha Tran und Michelle Pham widmet sich der vietnamesischen Küche in der Diaspora, die in Restaurants in deutschen Großstädten oft nur dem Klischee dessen entspricht, was als „authentisch asiatisch“ anerkannt wird. Die beiden erzählen, dass Vorurteile und Stereotype zu „ungewöhnlichen“ Zutaten dazu führen, dass Gastronom*innen doppelte Speisekarten anbieten – die für die weiße Mehrheitsgesellschaft, eine eigene für die Community.
„Wir möchten ein Wissen aus der Generation unserer Eltern sichtbar machen und weitertragen, das bislang überhaupt nicht dokumentiert ist – weil es nicht als anerkannte Kompetenz gilt, bestimmte Dinge zu kochen, zuzubereiten, bestimmte Kenntnisse über Zutaten zu haben“, beschreibt Kim Ha Tran. „Das Projekt hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension“, sagt Michelle Pham: „Die Community soll sich selbst ermächtigen zu definieren, was ‚authentisch‘ ist.“
Im Zuge ihres Projekts werden sie einen Workshop veranstalten, der auf einem gemeinsamen Essen basiert. Dabei sollen Gedanken, Gesprächsnotizen und Rezepte auf einer Tischdecke festgehalten werden. „All das veröffentlichen wir dann auf einer Webseite, die auch als Plattform dient, wo andere mit Video, Audio und Text dazu beitragen können, dass dieses Wissen weiter wächst.“
Auf die Frage, wieso sie sich für Freies Wissen einsetzt, antwortet Kim Ha Tran mit der eigenen Familiengeschichte: „Ich komme aus einem Haushalt ohne klassischen Bildungshintergrund, für mich waren das Internet und auch die Wikipedia ein Portal zu dem Wissen, über das alle anderen verfügten.“ Natürlich könne man kritisch hinterfragen, welches Wissen in der Wikipedia abgebildet wird. „Gleichzeitig bietet sie die Chance, selbst dazu beizutragen, dass bislang fehlende Perspektiven und Narrative sichtbar werden.“
Wie es weiter geht
Von Dezember 2024 bis Juni 2025 geht es jetzt an die Projektarbeit. Zu welchem Zeitpunkt wie intensiv gearbeitet wird, wird sich von Projekt zu Projekt unterscheiden und ist von der jeweiligen Projektplanung abhängig.
Auf einem 3-tägigen Camp im April 2025 in Wustermark (Brandenburg) haben die Geförderten die Möglichkeit, über aktuelle Projektstände zu sprechen, gemeinsame Ideen und Lösungen zu finden und sich in Workshops zu verschiedenen Themen rund um ihre Projekte und Freies Wissen auseinanderzusetzen.
Das Programm wird abgerundet durch eine Abschlussveranstaltung im Juni 2025 in Berlin, wo die Projektergebnisse vorgestellt und Erfahrungen ausgetauscht werden.
Das Programm re•shape soll einen Beitrag zu Wissensgerechtigkeit leisten. Durch die finanzielle und ideelle Förderung von Klein- oder Teilprojekten werden Menschen aus strukturell diskriminierten und unterrepräsentierten Communitys dabei unterstützt, ihre Perspektiven sichtbarer zu machen.
Im Rahmen von re·shape werden jährlich zehn Projekte mit verschiedenen Projektformaten und -inhalten gefördert.