zur Artikelübersicht

Wikipedistischer Nobelpreis

Wikipedia macht’s möglich: In wenigen Minuten zum Nobelpreis-Artikel

Die Ehrenamtlichen der Wikipedia sind nicht nur engagiert und gründlich – sie sind auch schnell, wenn’s drauf ankommt. Ein Beispiel ist die Nobelpreiswoche, in der es sicherzustellen gilt, dass alle Geehrten mit einem aktuellen Artikel in der Online-Enzyklopädie vertreten sind. In diesem Jahr hatten alle neun Preisträger*innen zum Zeitpunkt der Verkündung bereits einen Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia. Damit belegt sie einmal mehr einen Spitzenplatz beim „wikipedistischen Nobelpreis“ – einem weltweiten Wettbewerb der Community.

Patrick Wildermann

15. Oktober 2024

Die Verleihung der Nobelpreise in Stockholm und Oslo (wo der Friedensnobelpreis vergeben wird) ist jedes Jahr ein weltweites Ereignis – und eine besonders aufregende Zeit für Wikipedianer*innen. Schließlich wollen Millionen Menschen plötzlich wissen: Wer ist eigentlich die südkoreanische Literaturnobelpreisträgerin Han Kang? Oder: Was war noch gleich das Forschungsgebiet des Physikers Geoffrey Hinton?

Wer bei Google sucht, wird meist auf Wikipedia verwiesen. Entsprechend müssen die Ehrenamtlichen die Infos in den Artikeln der jeweiligen Preisträger*innen aktuell halten, und auch die Liste der Nobelpreisträger auf den neuesten Stand bringen. Das gilt natürlich für alle Sprachversionen der Wikipedia – von denen es über 300 gibt. Dabei stellt sich jedes Jahr erstmal die Frage: Welche Sprachversion hat zum Zeitpunkt der Verkündung schon etwas parat?

Nobelpreis, Oscars, Super Bowl: Arbeit an Wiki-Artikeln in Echtzeit

„Hektisch werden Namen in Suchmasken eingetragen, um in Erfahrung zu bringen, was um alles in der Welt die oder der Geehrte angestellt hat, um so eine Ehrung zu erhalten. Eben noch nur Fans eines mehr oder weniger nerdigen Nischenthemas bekannt – jetzt dicht umlagert von neugieriger Öffentlichkeit. Eine Information, von der man eben noch nicht wusste, dass sie dringend gebraucht wird, wird nun in großer Zahl abgefragt.” So beschreibt der Wikipedianer Olaf2 die Herausforderung, vor der die Freiwilligen der Wikipedia Jahr für Jahr stehen, wenn die Nobelpreise vergeben werden: „Geradezu ein enzyklopädischer Elchtest“.

Klar: Der Anspruch der Wikipedia-Ehrenamtlichen ist es, die Online-Enzyklopädie stets aktuell zu halten – gerade, wenn es um Ereignisse geht, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgen. Das bedeutet Arbeit in Echtzeit. Wie zum Beispiel auch bei der Oscar-Verleihung, wo stets ein Artikel mit allen Nominierten und Gewinner*innen sowie die Liste aller Oscar-Filme Updates verlangen. Oder bei Sportevents wie dem Super Bowl.

Satellitenschüssel bei dem Super Bowl 2001.
Bei Events wie dem Super Bowl arbeitet die Community in Echtzeit.

Wenn es schnell gehen muss

Was während der Nobelpreiswoche hinter den Kulissen der Wikipedia los ist, beschreibt Olaf2 so: „Im optimalen Fall schaue ich mir den Stream der Verkündung an. Dann prüfe ich, ob die Preisträger einen Wikipedia-Artikel bzw. Wikidata-Eintrag haben. Bei Wikidata kann man – gegebenenfalls unter Nutzung der letzten Version vor Verkündung – schauen, welche Sprachversion dazu einen Artikel hatte oder hat. Außerdem der Blick in unsere Versionsgeschichte: Wer hat den Artikel wann angelegt? Schließlich folgt noch ein kurzer Text als Kommentierung. Das sollte tatsächlich schnell gehen.“ Nur wenn sich mehrere Personen den Preis teilen, die auch noch in vielen Sprachversionen vertreten sind, kann es mit der Aktualisierung ein bisschen länger dauern.

Relevanz frühzeitig erkennen

Und was, wenn eine Preisträgerin oder ein Preisträger noch gar keinen Wikipedia-Eintrag hat? „Das kommt erfreulicherweise praktisch nicht vor. Zumindest nur sehr selten“, so Olaf2. Die Physikerin Donna Strickland, die 2018 als dritte Frau in ihrer Disziplin den Nobelpreis erhielt, war eine dieser Ausnahmen – in der englischsprachigen Wikipedia war ihr Eintrag abgelehnt worden, weil Strickland vermeintlich die Relevanzkriterien der Enzyklopädie nicht erfüllte (über die es innerhalb der Community immer wieder Diskussionen gibt). 2023 hatte der Physiker-Kollege Pierre Agostini noch keinen Artikel. In solchen Fällen „sucht man erstmal länger, ob man nicht in irgendeiner Sprachversion etwas übersehen hat“, beschreibt der Wikipedianer. „Um das Anlegen des Artikels braucht man sich aber nicht groß zu kümmern. Ein Nobelpreisträger als Rotlink? Das bleibt nur wenige Minuten so – auch in der deutschen Version.”

In der Regel wird die Relevanz der Ausgezeichneten frühzeitig erkannt – auch dank des Nobelpreisträger-Projekts des Wikipedia-Ehrenamtlichen Ephraim33. Das Projekt lädt Wikipedianer*innen dazu ein, Biografien von Menschen vorzuschlagen, die ernsthafte Kandidat*innen in Stockholm und Oslo sein könnten. Ein Beispiel für besonderen Spürsinn war in diesem Jahr der Friedensnobelpreis für die japanische Organisation Nihon Hidankyō. Schon seit 2005 war die deutschsprachige Wikipedia auf diese Preisträgerin vorbereitet. Benutzer Achim Raschka legte damals mit der Bemerkung „potentieller Preisträger für den Friedensnobelpreis“ den Artikel an und war damit seiner Zeit 19 Jahre voraus.

Terumi Tanaka, einer der Vorsitzenden von Nihon Hidankyō und Überlebender des Atombombenabwurfs auf Nagasaki, erzählt Jugendlichen von seinen Erlebnissen.
Terumi Tanaka, einer der Vorsitzenden von Nihon Hidankyō und Überlebender des Atombombenabwurfs auf Nagasaki, erzählt Jugendlichen von seinen Erlebnissen.

Spitzenplatz beim „wikipedistischen Nobelpreis“

Kein Wunder, dass die deutschsprachige Community regelmäßig Spitzenplätze beim „wikipedistischen Nobelpreis“ belegt – dem enzyklopädischen Wettkampf, in welcher Sprachversion bereits die meisten Artikel zu den Preisträger*innen existieren. 2024 hatten alle neun Ausgezeichneten zum Zeitpunkt der Verkündung bereits einen Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia. Damit liegt sie gemeinsam mit der englischsprachigen und der chinesischsprachigen Wikipedia auf dem ersten Platz des „wikipedistischen Nobelpreises“. Dahinter folgen die arabischsprachige und die japanischsprachige Wikipedia, in der sieben der neun Preisträger*innen einen Eintrag hatten.

„Die Aufbereitung der Nobelpreise als ‚sportlicher‘ Wettkampfbericht, die Sprachversionen in einem freundschaftlichen Battle – das macht einfach Freude“, erklärt Wikipedianer Olaf2. Die Faszination liegt für ihn aber auch in der Internationalität des Projekts: „Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Sichtweisen beschäftigen sich – zwar eher nebeneinander als miteinander, aber immerhin – mit dem Zusammentragen von Informationen zu einem Thema. Da stehen in der Liste Arabisch, Persisch und Hebräisch nebeneinander, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Auch Ukrainisch und Russisch. Das kann man ruhig mal feiern.“