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WikiCon

Eulen nach Wiesbaden tragen – das war die WikiCon 2024

Die WikiCon ist das Klassentreffen der deutschsprachigen Wikipedia-Community. In diesem Jahr fand die Veranstaltung in historischem Ambiente mit über 260 Teilnehmenden in Wiesbaden statt. Bei einer Reihe von Vorträgen, Diskussionsrunden und Sessions wurden Themen wie die Entwicklungen rund um KI, der Wert des Freien Wissens in einer kriselnden Welt oder auch die Verständlichkeit von Wikipedia-Seiten beleuchtet. Ein Höhepunkt wie jedes Jahr: Die Verleihung der Wiki-Eulen an besonders verdiente Wikipedianer*innen.

Patrick Wildermann

10. Oktober 2024

Der Heimathafen in der Wiesbadener Innenstadt ist ein noch junges Zentrum für Gründer, Kreative und Co-Worker – angesiedelt in einem denkmalgeschützten Gebäude, das früher Gericht und Gefängnis beherbergte. Der Schwurgerichtssaal im ersten Stock sieht mit seiner originalen Richterbank und Tribünen noch immer so aus, als würden hier Urteile ergehen. In diesem geschichtsträchtigen Haus – und im Bürgersaal der benachbarten Hochschule Fresenius – fanden vom 4. bis 6. Oktober die Sessions der WikiCon 2024 statt. Ein inspirierendes Ambiente, um von morgens bis abends alle erdenklichen Fragen rund um die Gegenwart und Zukunft des Freien Wissens zu verhandeln.

Die jährliche Zusammenkunft der Wikipedianer*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz – die von der Community mit Unterstützung von Wikimedia Deutschland organisiert wird – hat nicht nur einen besonderen Ort gefunden (wie schon so oft in den stets wechselnden Gast-Städten). Sie bot auch einmal mehr ein umfangreiches Programm mit etlichen parallelen Sessions, die sich nicht zuletzt den praktischen Seiten der Arbeit für die Wikimedia-Projekte widmeten.

Wie schreibe ich einen verständlichen Artikel?

Im Konferenzraum der Geschworenen hält gleich nach der Eröffnungsveranstaltung der Wikipedianer Salino01 einen Vortrag über die „Verständlichkeit von Wikipedia-Artikeln“. Ein Thema, das am WikiCon-Wochenende an mehreren Stellen aufkommt. In ganz verschiedenen Sessions wird festgestellt, dass die Wikipedia meist die erste Anlaufstelle für Recherchen von Schüler*innen oder Student*innen ist – aber die dort gefundenen Informationen eben auch leicht zugänglich sein sollten. Als Beispiel für einen schwer zugänglichen Text wählt Salino01 den Wikipedia-Eintrag zu Diabetes mellitus, in dessen Einleitung sich die Fachbegriffe häufen. Generell – dazu gibt es auch eine Studie – sind die krankheitsbezogenen Artikel in der deutschen Wikipedia besonders komplex.

Was tun? Diskutiert wird über KI Tools wie DeepL Write oder TextLab, die helfen können, einen Eintrag zu vereinfachen. Der Idealfall wäre natürlich – so der Konsens im Konferenzraum der Geschworenen – dass Artikel gar nicht erst komplex verfasst werden. Eine Empfehlung von Salino01 in diesem Zusammenhang: die Orientierung am Hamburger Verständlichkeitsmodell. „Wir brauchen ein Bewusstsein für die Zielgruppe“, findet ein Wikipedianer: „Ein 11-jähriger Schüler will zum Beispiel aus dem Text über das Opossum einfach nur schnell die Information herausziehen: Wie alt wird das Tier?“.

Künstliche Intelligenz im Wissenszeitalter

Aber gibt solche Antworten in Zukunft nicht ohnehin die KI? Um Fragen dieser Art ging es auf dem Panel „Künstliche Intelligenz im Wissenszeitalter: Revolution der Informationsbeschaffung und -rezeption“ im Bürgersaal der Hochschule Fresenius. Die Journalistik-Professorin Cornelia Mothes, die Professorin für Medienethik Claudia Paganini, Andreas Grün aus der Hauptredaktion Digital Medien im ZDF sowie Lukas Mezger (Rechtsanwalt und Wikipedianer) diskutierten 90 Minuten lang darüber, was die technologischen Entwicklungen perspektivisch für das Freie Wissen bedeuten könnten.

Die Google-Suche, über die ein Großteil der Nutzenden auf die Wikipedia-Artikel stößt, wird unpopulärer, wie Cornelia Mothes beschreibt. Programme wie ChatGPT oder ComplexityAI positionieren sich immer stärker als Konkurrenz – lassen aber ohne weitere Nachforschungen nicht erkennen, aus welchen Quellen ihr Wissen stammt. Das könnte perspektivisch auch zu einem Relevanzverlust des Qualitätsjournalismus führen, der als Urheber von verlässlichem Wissen unsichtbar wird, so Mothes.

Die gute Nachricht: Einen Abgesang auf die Wikipedia möchte niemand anstimmen, im Gegenteil. „Die Wikipedia hat einen immer besseren Ruf im universitären Kontext, je mehr die Angst vor KI zunimmt“, stellt Claudia Paganini fest. Nur könnte sich ihre Rolle verändern. Die freie Enzyklopädie werde vielleicht zunehmend wichtig, um zu überprüfen: stimmt es, was die KI sagt?

Wissen in der kriselnden Welt

Das omnipräsente Thema KI ist freilich nicht die einzige Herausforderung für das Freie Wissen. Auf dem Panel „Wissen ist Macht – Resilienz von freiem Wissen in einer kriselnden Welt“ ging es um die Bedrohungen, denen die Demokratien heute vielerorts ausgesetzt sind.

Thomas Laufersweiler (der sich bei der ARD für Creative Commons-Lizenzen einsetzt), Kirsten Bode, die für das ZDF-Format Terra X arbeitet, Friederike von Franqué aus dem Politikteam von WMDE und wiederum Lukas Mezger verhandelten hier die Herausforderungen durch die Zunahme von Fake News und die rechtspopulistischen Attacken auf den Gemeinsinn.

Kirsten Bode konstatiert zwar: „Noch hat der Einzelne alle Möglichkeiten, sich zu informieren“ – nicht zuletzt dank eines Projekts wie der Wikipedia mit Wissen aus verlässlichen Quellen. Sie beobachtet allerdings auch, dass viele nicht mehr zwischen Fakten und Meinung unterscheiden können und plädiert für mehr Vermittlung von Medienkompetenz schon in den Schulen. Thomas Laufersweiler würde es begrüßen, „wenn das Schreiben von Wikipedia-Artikeln in der Schule verpflichtend wäre”. Das sei schließlich eine gute Übung in journalistischem und wissenschaftlichem Arbeiten zugleich.

Die Aufzeichnungen der Panels sind in Kürze auf Wikimedia  Commons verfügbar und werden dann hier verlinkt.

And the winner is…

Insgesamt 262 Wikipedianer*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kamen in diesem Jahr in Wiesbaden zusammen – weitere 99 verfolgen die Veranstaltungen online. „Bei der Wikipedia-Arbeit bin ich meist allein am Schreibtisch – hier bekomme ich das Gefühl, wirklich Teil einer großen Gemeinschaft zu sein“, fasst ein glücklicher Wikipedianer bei der Eulen-Gala den WikiCon-Spirit in Worte.

Die traditionelle Verleihung der WikiEulen an besonders verdiente Wikipedianer*innen fand am Samstagabend statt – in der Wiesbadener Casino-Gesellschaft, einem Prachtsaal aus dem 19. Jahrhundert (wobei der Name nichts mit Glücksspiel zu tun hat, sondern auf die „Casini“ zurückgeht, Landhäuser des italienischen Adels). So oder so: ein würdiger Rahmen für die Preisverleihung in 16 Kategorien, die von der streng anonymen WikiEulenAcademy ausgerichtet wird.

Die AutorenEule 2024 geht an den Wikipedianer PaFra – Autor einer Reihe von exzellenten Artikeln wie der Biografie Sayyid Shaykh al-Hadi oder dem Text zur religiösen Gruppe der Sunniten – und als Islamwissenschaftler der Initiator eines wissenschaftlichen Fachlexikons innerhalb der Wikipedia. Mit der NewcomerEule wird der Wikipedianer Anagkai geehrt – der ist erst seit anderthalb Jahren aktiv, hat aber schon über 200 Artikel zu seinem Spezialgebiet verfasst: Biomoleküle.

Über die FotoEule darf sich die Benutzerin Haeferl freuen, die seit 2010 dabei ist schon seitdem über 10.000 Fotos hochgeladen hat. Mit der EhrenOrgaEule wird Rebecka Heinz bedacht – keine Wikipedianerin, aber als freie Mitarbeiterin von Wikimedia Deutschland maßgeblich am Gelingen der vergangenen drei WikiCon-Ausgaben beteiligt – und zudem, so die Jury, eine wichtige Botschafterin ihres Herzensprojektes eine-von-acht rund um das Thema Brustkrebs. Eine vollständige Übersicht über alle Nominierten und Preisträger*innen ist hier zu finden.

Blick in die Zukunft

Und wie geht’s weiter? Auf dem ersten Wikipedia-Zukunftskongress im Juni, organisiert von Wikimedia Deutschland, wurden viele Ideen entwickelt, um Wikipedia zukunftssicher zu machen. Damit diese Ideen nicht ungenutzt bleiben, wurden sie auch auf der WikiCon vorgestellt und gemeinsam mit den Teilnehmenden erste Ansätze zur Umsetzung diskutiert. In der Zukunftskongress-Session wurden an acht Tischen verschiedene Themen vertieft, darunter: Freiwillige gewinnen & binden, Diversität der Community & marginalisierte Gruppen unterstützen sowie Einbindung von Leser*innen in die Community. Am 16. Oktober werden in einem Online-Austausch die praktische Umsetzung und nächste Schritte besprochen.

Die WikiCon in der Presse:

Vorberichterstattung zum Thema „Wissen ist Macht“ vom 4.10. in Bayern 2 (ab Min 8:32:30):

https://www.br.de/radio/live/bayern2/prog

Wiesbadener Kurier (hinter Bezahlschranke):

https://www.wiesbadener-kurier.de/lokales/wiesbaden/stadt-wiesbaden/der-unschaetzbare-wert-des-schwarmwissens-3966456

“Wissen in einer kriselnden Welt”, Gespräch mit Friederike von Franqué (Wikimedia), Kai Schmieding (Autor), SR kultur, Der Morgen, 04.10.2024, 7.20 Uhr

Mit freundlicher Genehmigung vom Saarländischen Rundfunk