75 Jahre Grundgesetz
Wiki Loves Demokratie – Wissenswertes zu den Müttern des Grundgesetzes
Patrick Wildermann
25. September 2024
Über das Grundgesetz, das in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag feiert, ist vermeintlich alles bekannt. Wie die Tatsache, dass die Verfassung eben nicht nur Väter, sondern auch Mütter hat. Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Helene Wessel hießen die vier Frauen, die als Mitglieder des 65-köpfigen parlamentarischen Rates maßgeblich an seiner Ausarbeitung beteiligt waren. Selbstverständlich gibt es über sie auch eigene Wikipedia-Artikel.
Wie kam die Gleichberechtigung ins Grundgesetz?
Bei näherer Betrachtung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeigt sich allerdings, dass sich bis heute ein paar falsche Annahmen halten. Zum Beispiel bezüglich der Frage: Wie kam eigentlich die Gleichberechtigung ins Grundgesetz? Haben die vier erwähnten „Mütter“ unserer Verfassung wirklich in vereinter Schwesternschaft und über Parteigrenzen hinweg für den Artikel 3 gekämpft, wie es ein kleiner Lehrfilm der Bundesregierung nahe legt?
„Problematisch, entpolitisierend und vereinfachend“ nennt die Historikerin Dr. Kerstin Wolff vom Kasseler Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) diese Darstellung. Und fordert: „Es ist Zeit, zu differenzieren.“ Was sie in einem erhellenden Vortrag für knapp 30 online zugeschaltete Wikipedianer*innen beeindruckend unternimmt. Ein Fokus liegt dabei auf der Rolle, die Elisabeth Selbert als SPD-Mitglied gespielt hat. Selbert war Juristin und kämpfte zusammen mit ihrer Partei für den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, der in seiner vermeintlichen Schlichtheit weitreichende Gesetzesreformen nach sich zog. Der Satz war übrigens – auch das wissen viele nicht – einem SED-Verfassungsentwurf entlehnt.
Zwei Ja- und zwei Nein-Stimmen
„Wiki Loves Demokratie – Mütter des Grundgesetzes“ lautet der Titel dieser Wikipedianischen KultTour, die Wikimedia Deutschland zusammen mit dem AddF organisiert hat. Wikipedianischen KulTouren sind halb- bis eintägige Veranstaltungen, bei denen sich Wikipedianer*innen online oder in Präsenz treffen und gemeinsam eine ausgewählte Ausstellung oder eine Kultureinrichtung unter fachkundiger Führung besuchen. Diesmal geht es also digital nach Kassel (wo gemeinsam mit dem AddF zuletzt eine GLAM digital-Veranstaltung zur Rolle der Frauen bei der Revolution von 1848/49 stattfand).
Kerstin Wolff und Laura Schibbe, die am AddF die Öffentlichkeitsarbeit leitet, stellen zunächst das Archiv mit seinen über 38.000 Magazin-Titeln und entsprechend umfangreichen Recherchemöglichkeiten vor. Anschließend widmet sich Wolff in ihrem Vortrag der Frage: „Wie kam die Gleichberechtigung ins Grundgesetz?“.
Wolff führte weiter aus, dass ein erster, an der Weimarer Verfassung orientierter Entwurf für den Artikel 3 lautete: „Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“. Das aber, erläutert Wolff, hätte sich vor allem auf das Wahlrecht bezogen – und nicht auf das patriarchal geprägte Familienrecht, das Elisabeth Selbert aus ihrer Praxis als Familienanwältin nur allzu gut kannte. Unter anderem waren Ehefrauen damals wirtschaftlich vollkommen abhängig von ihren Männern. Die von Selbert eingebrachte Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ fiel bei Abstimmungen im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats allerdings erst einmal durch – auch Helene Weber von der CDU und Helene Wessel von der Zentrumspartei stimmten dagegen.
Revolutionen brauchen Netzwerke
Elisabeth Selbert gab nicht auf und fand Verbündete. „Revolutionen“, so Wolff in ihrem Vortrag, „brauchen Netzwerke.“ Zusammen mit der Parteigenossin Frieda Nadig und Herta Gotthelf, der Frauensekretärin der SPD, versuchte sie einen Proteststurm von Frauenverbänden und Einzelpersonen zu entfachen. Auch wenn die später kolportierten „Waschkörbe voller Protestschreiben“, die angeblich den Parlamentarischen Rat erreichten, nach Ansicht von Historiker*innen wohl eine Übertreibung sind – die Aktion hatte Erfolg. Der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde im Artikel 3 festgehalten.
Über Selbert, die Wolff als „Mutter der Gleichberechtigung im Grundgesetz“ bezeichnet, existiert beim AddF auch ein ausführliches, an Quellen reiches Online-Dossier – wie über etliche weitere Pionierinnen der Frauenrechte in Deutschland. Eine Fundgrube also für Wikipedianer*innen, die Aspekte in bestehenden Artikeln ergänzen oder neue Texte anlegen wollen. Zumal das Themenfeld Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Wikipedia noch viele Lücken aufweist, wie die Wikipedianerin Leserättin in einem spannenden Vortrag für die Teilnehmenden der Veranstaltung ausführt.
Problemfall Theoriefindung
Es ist allerdings oft auch nicht leicht, mehr Wissen aus diesem Fachgebiet einzubringen, wie Leserättin am Beispiel ihres Artikels über die sogenannte Damengalerie in der Frankfurter Paulskirche beschreibt. Denn laut den Relevanzkriterien der Wikipedia ist keine „Theoriefindung“ erlaubt – darunter fällt auch „die Einführung nicht gebräuchlicher Fachausdrücke oder Termini“. Ist die „Damengalerie“ ein gebräuchlicher Begriff? „Gerade wenn es um Themen geht, die nicht zum Schulbuchwissen oder der Allgemeinbildung zählen, bleibt es eine Herausforderung, sie in der Wikipedia abzubilden“, beschreibt Leserättin. Die Wikipedianerin entschied sich schließlich für den Volltitel „Damengalerie oder Damenloge der Frankfurter Nationalversammlung.“
Genügend Wissen, das nach Ansicht der Teilnehmer*innen seinen Platz in der freien Online-Enzyklopädie verdient hätte, wurde jedenfalls im Rahmen dieser Wikipedianischen KulTour vermittelt. Ob Elisabeth Selbert bald als „Mutter der Gleichberechtigung im Grundgesetz“ in der Wikipedia beschrieben wird, bleibt abzuwarten. Alle Teilnehmenden waren jedenfalls froh – das zeigten die Kommentare im Chat – bei dieser Wikipedianischen KulTour an so spannende Diskussionspunkte gelangt zu sein.
Lust, mehr zu erfahren?
Eine Übersicht über vergangene und anstehende Wikipedianische KulTouren gibt es hier.
Unter diesem Link finden sich alle Informationen rund um die GLAM-Veranstaltungen von Wikimedia Deutschland – Kooperationen mit Kulturinstitutionen wie Galerien, Archiven, Bibliotheken und Museen, die sich dem Freien Wissen öffnen. Inklusive Terminkalender!