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femnetzcon 2024

Machtkritik und Strukturfragen – das war die FemNetzCon 2024

Die Wikipedia diverser zu machen – das ist das Ziel der Wikipedianer*innen und Frauengruppen, die sich zum „FemNetz“ zusammengeschlossen haben. Bei der mittlerweile 4. FemNetzCon vom 19.-21. April wurden dazu jetzt in Hamburg neue Strategien debattiert. Im Vorfeld der Konferenz fand zudem eine öffentliche Diskussion zum Thema „Queere KI“ statt.
Foto: Elena Ternovaja creator QS:P170,Q110906093, FemNetz Wikipedia Übersicht, CC BY-SA 3.0

Patrick Wildermann

20. Mai 2024

Wie kann sich das Netzwerk im fünften Jahr seines Bestehens besser organisieren und strukturieren? Das war eine der zentralen Fragen, die auf der FemNetzCon 2024 in Hamburg diskutiert wurden. Das Netzwerktreffen der Wikipedianer*innen, Schreibgruppen, Projekte und Initiativen, die sich für feministische Anliegen  in der Wikipedia engagieren, fand zum vierten Mal statt.

Rund 40 Teilnehmende kamen für drei Tage in den Räumen des Künstlerinnenprojekts Bildwechsel und im Freiraum des Museums für Kunst und Gewerbe (MK&G) in Hamburg zusammen, um sich in Formaten wie dem „FemNetz-SpeedDating“ oder Gruppenarbeit zum Thema  „Quo vadis, FemNetz?“ auszutauschen, untereinander noch enger zu vernetzen – und die Weichen für mehr Wissensgerechtigkeit zu stellen. „Die Stimmung war offen und produktiv“, beschreibt Wikipedianerin Helga Wiki, die das Netzwerktreffen mitorganisiert hat, ihren Eindruck.

Speeddating mal anders

Der Freitagabend stand im Zeichen des Kennenlernens – „das Format war ein Stück weit aus der Not heraus geboren”, bekennt Mitorganisatorin Grizma aus Berlin. „Bildwechsel hat viele kleine Räume, aber keinen großen Tagungsraum, in den alle Teilnehmenden bequem gepasst hätten. Ich hatte eine Art Stationentheater im Hinterkopf, bei dem sich unterschiedliche Projekte und Arbeitsgruppen im Speeddating-Format vorstellen und auf Zuruf Input einfordern. So konnten wir die Teilnehmer*innen gut in Kleingruppen auf die Räume verteilen.”

Das Konzept ging auf, wie Reisen8 aus München findet: „Genau die richtige Mischung aus Spielerischem und Ernsthaftigkeit für einen ersten Abend.“ Sie erzählt: „Der Veranstaltungsort ‘Bildwechsel’ war Programm und das Klingelzeichen zentral: Alle 20 Minuten drängten sich die vier Kleingruppen zum Raumwechsel aneinander vorbei. An jeder Station wurde eine Arbeitsgruppe aus dem Umfeld von FemNetz vorgestellt, manche erst im Stadium einer Idee, alle auf der Suche nach Mitstreiter*innen. Bunt und klebrig ging es im Themenraum FemNetz-Mailingliste zu“, sagt sie. Sophie Elisabeth und IvaBerlin verschafften sich einen Überblick, indem sie farbige Punkte zu Statements wie „Ich verwende einen Virenscanner – ja – nein – was ist das überhaupt?“ kleben ließen. Den Blick über den Tellerrand wagten Elena Patrise und und FemNetzCon-Mitorganisatorin Helga Broll an der Station „Die Ränder von Wikipedia“: Ihnen ging es darum, sich Fachwissen von Institutionen und Einzelpersonen zu ⁷holen, auch mal nur punktuell – und um unkomplizierte, produktive Vernetzung. „Banden bilden“ unter der Leitung von Alpenhexe von der Stuttgarter Schreibgruppe wiki:wo:men zielte auf die Bildung einer Arbeitsgruppe ab, um gemeinsam Argumente für Auseinandersetzungen onwiki zu sammeln. Bei „60 Minuten – Gender & Diversity in der Wikipedia“, gingen Mushushu aus Berlin und Leserättin aus Stuttgart, die Organisatorinnen dieser Online-Workshop-Reihe von Wikipedianer*innen für Wikipedianer*innen, mit einem Füllhorn an Anregungen und Themenvorschlägen für künftige Veranstaltungen zufrieden aus der Aktion heraus.

Offen und lebendig bleiben: Wie strukturiert sich ein machtkritisches Netzwerk?

Nach fast fünfjährigem Bestehen stellten sich dem fluiden Netzwerk FemNetz etliche Fragen: Welche Ziele wollen wir erreichen? Wohin wollen wir uns entwickeln? Wie kann das Netzwerk unter Vermeidung von Hierarchien und der Überlastung einzelner Mitwirkender zielgerichtet und effizient arbeiten? „FemNetz möchte offen bleiben“, beschrieb Helga Wiki, eine FemNetzCon-Organisatorinnen, die Herausforderung. „Wir wollen unsere fluide Struktur beibehalten und weiterhin neue Impulse von Individuen und Gruppen aufnehmen – kurz gefasst: FemNetz soll lebendig bleiben!“ Unter dem Schlagwort „Quo vadis, FemNetz?“ diskutierten die Teilnehmer*innen in mehreren Runden in kleinen Gruppen mögliche Lösungen. Das Ergebnis der Diskussionen ist ein sogenanntes holokratisches Organisationsmodell, das allen Interessierten die Möglichkeit zur Teilhabe und zum Einbringen von neuen Initiativen gibt, ohne dass zentral Vorgaben gemacht werden. “Für mich ist der Charme unseres Modells”, sagt die Wikipedianerin Leserättin, “dass alle die Möglichkeit haben, sich nach aktuellem Interesse und zeitlicher Verfügbarkeit wechselnd einzubringen und dass dies wertgeschätzt wird. Pausen im Engagement sind möglich. Alle können jederzeit mit einer neuen Idee eine neue Arbeitsgruppe gründen.” Die gewählte Struktur unterscheidet im Netzwerk die Mitwirkungsebenen (1) Informiert werden, (2) Austauschen und (3) Gestalten. Drei Arbeitsgruppen werden die Arbeitsergebnisse der “Quo vadis”-Runden im Nachgang der Con verfeinern und zusammenfassen.

Was ist relevant für die Wikipedia?

Im Zusammenhang mit marginalisiertem Wissen wurde auf der FemNetzCon auch über die Relevanzkriterien der Wikipedia diskutiert. Diese von der Community ausgearbeiteten Kriterien legen fest, was in der Online-Enzyklopädie Platz findet und was nicht. In einem Workshop diskutierten die Teilnehmenden Kritikpunkte und neue Lösungsansätze. Darunter zum Beispiel: Werden die bestehenden Relevanzkriterien auf alle Geschlechter gleichermaßen angewendet? Oder: Wie können die Kriterien angepasst werden, um Frauenleistungen umfassender abzubilden?

Die Wikipedianerin ScheWo, die den Workshop vorbereitet hatte, hält fest: Die Relevanzkriterien seien zwar grundsätzlich neutral, alledings zeige sich aufgrund der historisch gewachsenen  Diskriminierung von Frauen, „dass deren Leistungen durch die bestehenden Relevanzkritereien weniger anerkannt werden.“ Denn Bereiche, in denen Frauen jahrhundertelang überwiegend tätig waren und Herausragendes geleistet haben, so in der Haushaltung und Kindererziehung, gelten danach nicht als enzyklopädisch relevant.

Daneben würden die Leistungen von Frauen zum Teil nicht wahrgenommen und gewürdigt, obwohl die Forschung da schon weiter ist. Alpenhexe nennt als Beispiel die „Liste bedeutender Bergsteiger“ in der Wikipedia. Dort sei unter anderem behauptet worden, dass es keine bedeutenden Bergsteigerinnen gebe. Alpenhexe hat das korrigiert. Den Umstand, dass weibliche Leistungen in der Wikipedia vielfach ausgeblendet würden, beschreibt sie als ihre Hauptmotivation, überhaupt als ehrenamtliche Autorin mitzumachen.

Care-Arbeit in der Wikipedia

In einem weiteren Workshop ging es um Care-Arbeit in der Wikipedia. Für die Organisatorinnen des Workshops, die Wikipedianerinnen Medea7 und Papierautobahn, bedeutet “Care”, dass wir uns um all das kümmern, was uns wichtig ist. Auch Frauen gehen miteinander oft nicht mit Sorgfalt um, sondern spiegeln patriarchal geprägte Konkurrenzstrukturen. Dabei ist Care in digitalen Kulturen besonders wichtig, aber zugleich besonders schwer umzusetzen, weil die Kommunikation abstrahiert und vom Körper entkoppelt ist. Was bedeutet das für FemNetz? Die Workshop-Teilnehmerinnen sprachen über die Gestaltung der FemNetzCon, so dass sie die Bedürfnisse aller (potenziellen) Teilnehmer*innen berücksichtigt und gleichzeitig ein Ausbrennen von Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe vermeidet. Thema war aber auch, dass in der Wikipedia das Thema “Care” unterrepräsentiert ist.

Queeres Wissen, Wissen queeren

„Wissen ist nicht nur Macht – Wissen bildet immer auch Machtverhältnisse ab.“ So wiederum beschreibt Helga Wiki eine der zentralen Erkenntnisse aus der öffentlichen Veranstaltung „Queere KI und Wikipedia“, die am Vorabend der FemNetzCon stattfand. Mit dabei waren die Kultur- und Medientheoretiker*innen Sara Morais dos Santos Bruss und Lotte Warnsholdt. Erstmals wandte sich damit ein FemNetz-Treffen explizit außerhalb des Wikipedia-Kontextes auch an eine interessierte Öffentlichkeit – mit gutem Zuspruch, denn zur Veranstaltung fanden sich knapp 50 Teilnehmende aus den unterschiedlichsten Kontexten ein.

Diskutiert wurde darüber, wie verhindert werden kann, dass KI-Systeme, die auch mit den Datensätzen der Wikipedia trainiert werden, Gender-Stereotype reproduzieren, die in diesen Daten enthalten sind. KI, so Helga Wiki, sei „nie ahistorisch oder neutral, sondern eingebettet in die Machtverhältnisse unserer Gesellschaft.“ Wissen zu „queeren“ bedeute entsprechend, genau diese Herrschaftsgefälle kritisch zu durchleuchten. Was auch für die Bestände vieler Archive oder Museen gelte, die oftmals auf gewalttätige koloniale Sammlungspraxen zurückgingen – und nicht unhinterfragt bleiben dürften.

Gendersensible Sprache

Am Sonntag, dem letzten Veranstaltungstag, hielt Christine Olderdissen von genderleicht.de einen Vortrag mit Übungseinheit zum Thema gendersensible Sprache ohne Sonderzeichen. Sonderzeichen als Lösung für gendersensible Sprache lässt die amtliche deutsche Rechtschreibung nicht zu, dem folgt die Regelung in der deutschsprachigen Wikipedia aktuell. Die Veranstaltung war auch für interessierte Männer geöffnet. Monoett aus Heidelberg nahm aus der komprimierten Übersicht einige Anregungen für ihre Wikipedia-Arbeit mit: „Christine Olderdissen appellierte mit vielen Übungen an Sprachgefühl und Kreativität der Zuhörenden. Sie gab die Empfehlung, Frauen so oft wie möglich direkt zu nennen oder aber geschlechtsneutral zu formulieren, z. B. durch die Verwendung der Pluralform.“ Aktive Formulierungen oder Partizipien, die eher die Tätigkeiten als die Personen beschrieben, also z. B. statt der konkreten Begriffe  „Kritiker“ und „Autor“ sei eine Formulierung wie „üben Kritik“ und „geschrieben von“, sowie das Weglassen von Relativpronomen hilfreich,  um elegant genderneutral  zu formulieren.

FemNetz ist ein Netzwerk von Wikipedianer*innen, Schreibgruppen, Projekten und Initiativen mit feministischen Anliegen. FemNetz möchte den Anteil der schreibenden und repräsentierten Frauen sowie von inter, trans und nonbinären Personen in der Wikipedia-Community nachhaltig erhöhen. Aktive Gruppen des Netzwerks sind: WomenEdit, Who writes his_tory? mit Verbindung zu Art+Feminism, wiki:wo:men, 60 Minuten (Workshop-Reike) und weitere Gruppierungen. Die Netzwerkmitglieder stammen vorwiegend aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (D-A-CH).

Für Einsteiger*innen, die gern bei Wikipedia mitmachen würden, aber nicht genau wissen, wie das funktioniert, gibt es das FemSupport-Netzwerk – die Ansprechpartner*innen leisten hier gern Hilfe.

Diese Initiativen und Projekte aus dem FemNetz machen sich ganzjährig für mehr Sichtbarkeit von Frauen in der Wikipedia stark:

  • WomenEdit

    Bei regelmäßigen Treffen von Wikipedianerinnen wird gemeinsam editiert – vor Ort und online. In Berlin jeweils am ersten Mittwoch im Monat in der Geschäftsstelle von Wikimedia Deutschland und am dritten Mittwoch im Lokalen Wikipedia-Raum WikiBär. In Erlangen trifft sich WomenEdit üblicherweise am zweiten Montag im Monat in der Stadtbibliothek.

  • Women in Red

    Der deutschsprachige Teil des internationalen kollaborativen Projekts „Women in Red“ hat zum Ziel, so viele rote Links auf fehlende Frauenbiografien in der Wikipedia wie möglich in blaue umzuwandeln.

  • wiki:wo:men

    Der Arbeitskreis wiki:wo:men trifft sich monatlich in Stuttgart. Eingeladen sind alle Menschen, die Interesse am Thema „Frauen in der Wikipedia“ haben – egal, ob erfahrene Wikipedianer*innen oder Neulinge. Die Treffen finden in der Regel an jedem 3. Freitag im Monat statt.

  • Workshop-Reihe 60 Minuten – Gender & Diversity in der Wikipedia

    Die Online-Workshop-Reihe dient dem länderübergreifenden Austausch (Deutschland, Österreich, Schweiz) zu Fragen rund um Gender und Diversity in der Wikipedia – an jedem 4. Montag im Monat von 19 bis 20 Uhr.

  • Mentorinnennetzwerk FemSupport

    Das feministische Support-Netzwerk bietet kollegiale Unterstützung für Frauen, die bei Wikipedia aktiv werden wollen, sich aber im Dschungel der Hilfeseiten und Video-Tutorials (noch) nicht zurechtfinden.

  • Wiki Riot Squad Berlin

    Im Rahmen von Schreibwerkstätten und Edit-a-thons werden Wikipedia-Artikel diskutiert und bearbeitet – der Fokus liegt dabei auf möglichen Gender Bias, also einer verzerrten Wahrnehmung durch sexistische Vorurteile und Stereotype.

  • Who writes his_tory?

    Dieses Schweizer Projekt hinterfragt die Reproduktion von Wissen und struktureller Diskriminierung im Internet und vor allem auf Wikipedia. In der Schweiz sind außerdem Les sans pagEs (französischsprachig) und die Künstler*innengruppe Femme Artist Table FATart aktiv.

  • TypIn*frauen*schreiben*wiki

    In Österreich gibt es die TypIn*frauen*schreiben*wiki – eine Schreibwerkstatt für Frauen in Graz.

  • WikiFrauen Hannover

    Alle zwei Monate, am dritten Montag im Monat von 17 bis 19 Uhr treffen sich im Büro von Wikipedia:Hannover Frauen, die im „Wikiversum“ mitarbeiten wollen

  • WikiMUC Frauenzimmer

    Alle acht Wochen treffen sich beim WikiMUC Frauenzimmer Wikipedianerinnen aus dem Raum München zum zwanglosen Austausch, aber auch zum Editieren, Inspirieren und voneinander Lernen. Neueinsteigerinnen und Interessierte sind herzlich willkommen.

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