Lara Mieg
5. Januar 2024
Das Konzept der Überwachunsgesamtrechnung (ÜGR) ist aufgrund des Urteils vom Bundesverfassungsgericht zur Vorratsdatenspeicherung von 2010 entstanden. Darin hatte das Gericht geurteilt, dass rechtliche Befugnisse zur Überwachung nicht isoliert bewertet werden dürfen. Die Auswirkungen, die eine Überwachungsmaßnahme auf unsere Freiheitsrechte hat, müssen immer im Kontext aller gesetzlich möglichen Überwachunsmaßnahmen gesehen werden, die es bereits gibt. In der Rechtswissenschaft ist daraus der Begriff Überwachungsgesamtrechnung geworden. Die aktuelle Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt, ein wissenschaftliches und evidenzbasiertes Konzept für eine solche Rechnung erstellen zu lassen. Jurist*innen erhoffen sich davon, dass vor der Einführung einer Überwachungsbefugnis überprüft wird, welche es bereits gibt und welche es überhaupt braucht – oder eben nicht. Aber wie kann aus der ÜGR ein Instrument werden, das unsere Privatsphäre schützt und dazu beiträgt, dass der freie Austausch von Wissen und Informationen im digitalen Raum nicht übermäßig beschränkt wird?
Sicherheitspolitik neu gedacht: Warum wir jetzt eine echte Überwachungsgesamtrechnung brauchen.
Zu dieser Frage veranstaltete das Bündnis F5 im vergangenen Jahr ein parlamentarisches Frühstück unter der Schirmherrschaft des innenpolitischen Sprechers der FDP, Manuel Höferlin MdB. Einig waren sich die Bündnisorganisationen und Höferlin darüber, dass es für die ÜGR eine robuste gesetzliche Grundlage braucht. Denn während es in der Sicherheitsgesetzgebung in den vergangenen Jahrzehnten stets zu Verschärfungen kam, gibt es aktuell keine Möglichkeit zu überprüfen, wie hoch der Gesamtdruck von Überwachungsmaßnahmen auf einzelne Personen tatsächlich ist. Das Bündnis drängt deshalb darauf, durch die ÜGR ein Instrument zu verankern, das einen elementaren Beitrag zum Schutz von Bürger*innenrechten leisten kann.
Umsetzung der ÜGR in Gefahr?
Henriette Litta, Leiterin der Open Knowledge Foundation, hob hervor, dass kaum eine andere Passage aus dem Koalitionsvertrag so viele Vorschusslorbeeren aus der Zivilgesellschaft erhalten hat wie das Vorhaben der ÜGR. Allerdings sieht das Bündnis nun die Gefahr, dass die verbleibende Zeit der Legislaturperiode nicht mehr für die Umsetzung der Ergebnisse der ÜGR genügen könnte – auch weil die federführenden Ministerien, das Bundesinnenministerium (BMI) und Bundesministerium der Justiz (BMJ) laut eigenen Angaben planen, die ÜGR erst bis Ende 2024 abzuschließen.
Und auch in prozeduralen Fragen sowie dem aktuell geplanten Umfang sieht das Bündnis Herausforderungen für die ÜGR. In ihren Impulsvorträgen beleuchteten Helene Hahn (Referentin für Referentin Advocacy / Internetfreiheit, Reporter ohne Grenzen) und Kai Dittmann (Leiter Politik, Gesellschaft für Freiheitsrechte) daher verschiedene Aspekte, die aus Sicht von F5 berücksichtigt werden müssen, um die ÜGR auf ein solides Fundament zu stellen.
Forderungen des Bündnis F5
Die ÜGR darf nicht als isoliertes Projekt betrachtet werden, sondern sollte als fortlaufender Prozess verstanden werden. Um das zu gewährleisten, ist die geplante Freiheitskommission mit weitreichenden, flankierenden und beratenden Befugnissen eine zentrale Institution, deren gesetzliche Verankerung im laufenden Verfahren höchste Priorität genießen muss. Zudem sollte das Gesetzgebungsverfahren transparent, ergebnisoffen und unter intensiver Stakeholder-Beteiligung geführt werden. Denn das Bündnis ist der Überzeugung: nur unter Einbezug der Zivilgesellschaft und durch eine breite öffentliche Debatte kann mit der ÜGR eine rechtsstaatlich angemessene Leitlinie der Sicherheitspolitik entstehen.
Die Vertreter*innen des Bündnisses merkten außerdem an, dass der aktuell geplante Umfang der ÜGR in einigen Fällen nicht ausreicht, um einen umfassenden Schutz vor unverhältnismäßiger Überwachung zu gewährleisten. Zum Beispiel sollte die Maßnahme Berufsgeheimnisträger*innen wie Journalist*innen einen besonderen Schutz vor Überwachung einräumen, da diese mit ihrem unabhängigen Journalismus einen wesentlichen Beitrag zu unserer demokratischen Gesellschaft leisten, betonte Helene Hahn.
Auch forderte das Bündnis eine Ausweitung der ÜGR auf weitere Rechtsbereiche, die bisher nicht in der Ausschreibung des BMI und BMJ inkludiert sind. Ein Fokus sollte dabei vor allem auf dem Schutz besonders vulnerabler Gruppen wie Asylbewerber*innen liegen, die bereits heute Ziel einer Vielzahl von Überwachungsmaßnahmen sind und nur sehr begrenzte Möglichkeiten haben, sich davor zu schützen.
Worauf es jetzt ankommt
Schließlich zeigte die Diskussion zwischen den Parlamentarier*innen und dem Bündnis F5 über das Zusammenspiel von EU-, Bundes- und Länderebenen sowie das Schwachstellenmanagement im Kontext der ÜGR, dass viele der zivilgesellschaftlichen Anliegen parteiübergreifend auf Zustimmung stoßen. Neben dem Wunsch nach einer breiteren öffentlichen Debatte kommt es aus Sicht des Bündnisses nun darauf an, trotz der Komplexität des Themas nicht davor zurückschrecken, die ÜGR mit einer begleitenden Freiheitskommission schnellstmöglich zu etablieren und durch die gesetzliche Verankerung einen langfristigen Prozess anzustoßen. Denn nur so hat die Überwachungsgesamtrechung das Potenzial, einen bedeutungsvollen Schutz von Freiheitsrechten zu gewährleisten und zu einer neuen Leitlinie für die Sicherheitspolitik der nächsten Jahrzehnte zu werden.