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Wissensgerechtigkeit

Ermöglichen digitale Räume mehr Wissen über Sinti*zze und Rom*nja?

Wie kann das Wissen von und über Rom*nja und Sinti*zze sichtbarer werden – und welche Rolle spielt die Wikipedia dabei? Um Fragen wie diese ging es in der neuesten Ausgabe unserer Gesprächsreihe „Wissen. Macht. Gerechtigkeit.“, die in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur entsteht.

Franziska Kelch

13. April 2023

Rom*nja und Sinti*zze sind die größte ethnische Minderheit Europas. Das Wissen über ihre Geschichte, vielfältige Kulturproduktion und aktuellen Lebensrealitäten ist in Deutschland aber kaum verbreitet. Meistens wird über sie gesprochen, statt mit ihnen. Das muss sich ändern. Welche Rolle digitale Räume dabei spielen können und welche Hindernisse es gibt, hat Moderator Axel Rahmlow in der aktuellen Folge von „Wissen. Macht. Gerechtigkeit.“ mit Gilda-Nancy Horvath, Journalistin und Vorstandsmitglied bei eriac, mit Isidora Randjelović, Leiterin des Rom*nja-Archivs RomaniPhen, und mit Simonida Selimović, Schauspielerin, Regisseurin und Aktivistin, diskutiert.

Sechs Jahrhunderte Stereotype und Ausgrenzung

Umfragen zeigen seit Jahren, dass ein großer Anteil der deutschen Bevölkerung Rom*nja und Sinti*zze nicht als Teil der Gesellschaft akzeptieren will – obwohl sie es waren und sind. „Die Menschen wissen sehr wenig über uns, Stereotype werden durch die Medien weiter reproduziert und prägen die Mehrheitsgesellschaft“, stellt die Journalistin Horvath fest. Je weniger man über jemanden weiß, umso mehr hat man Phantasien, die aber nicht stimmen“, ergänzt die Aktivistin Selimović.

Auf die Frage, woran es liegt, dass Stereotype und Ablehnung dominieren, wie Sinti*zze und Rom*nja wahrgenommen werden, muss Isidora Randjelović weit ausholen: „Seit dem 15. Jahrhundert beschreiben in Deutschland Chronisten Rom*nja oder Sinti*zze, die selber gar nicht Rom*nja oder Sinti*zze sind.“ In den Darstellungen wurden und werden sie oft zu orientalischen Gestalten, als Fremde oder Gefahr beschrieben und ausgegrenzt. Rom*nja und Sinti*zze müssen außerdem seit Jahrhunderten „als Ausrede für bestimmte politische Bedingungen herhalten“, so Randjelović. Diese Ausgrenzung gipfelte immer wieder in Verfolgung – bis zum Versuch der Auslöschung im Dritten Reich. Der sei insofern doppelt dramatisch, da mit der körperlichen Vernichtung eine „Zerstörung der Familien, der Sprache Romanes, des Denkens und der Deutung“ von Rom*nja und Sinti*zze einherging. Bis heute würden im Netz immer wieder Fake News über beide Gruppen verbreitet. Ihnen wirksam zu begegnen, ist gerade für marginalisierte Gruppen, die über keine starke Lobby oder Medienmacht verfügen, kompliziert, wirft die Journalistin Horvath ein.

Repräsentation selbst in die Hand nehmen

Gleichzeitig ermöglicht der digitale Raum Rom*nja und Sinti*zze auch Selbstermächtigung. Denn auch für sie gilt: Plattformen oder soziale Netzwerke sind erstmal für alle zugänglich. Im Netz können sie immerhin selbst mitbestimmen, wie sie gesehen werden und was die Mehrheitsgesellschaft über sie weiß. „Wenn ich selber ein Theaterstück schreibe, inszeniere und aufnehme, dann gebe ich selbst frei, was die Gesellschaft sieht“, erklärt die Regisseurin Selimović.

Gilda Horvath nutzt ihren Blog Glaso – Stimme, um ein vielfältiges und realistisches Bild von Rom*nja und Sinti*zze zu zeichnen. Sie porträtiert „Menschen, die die Welt verändern, aber ständig nur zu Ihrer Herkunft befragt werden“. Horvath berichtet von einem homosexuellen Wirtschaftsberater, einem deutschen Sinto in der EU-Politik, einer ungarischen Sozialwissenschaftlerin oder einer Journalistin in Kanada.

Isidora Randjelović betont die Möglichkeiten, die digitale Anwendungen eröffnen, um das Wissen über Sinti*zze und Rom*nja zu erweitern. Zusätzlich zur neuen Freiluftausstellung am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin hat das RomaniPhen Archiv eine App entwickelt, „die aus den Perspektiven der Opfer und Überlebenden die Vergangenheit erzählt, mit Biografien, Zeitzeug*innenerzählungen, Liedern aus den Lagern, Theater und Bildern, die alle den Genozid thematisieren und Geschichten der Menschen erzählen.“ Sie kann am Denkmal über einen QR-Code geladen werden.

Dass Rom*nja und Sinti*zze im Netz immer wieder stereotypen Darstellungen über sich begegnen, dass sie Rassismus erleben oder in sozialen Netzwerken Hate Speech ausgesetzt sind, sei aber auch eine Hürde für mehr digitale Repräsentation. Junge Sinti*zze oder Rom*nja würden so abgeschreckt, sich selbst einzubringen, erläutert Simonida Selimović: „Da ist viel Rassismus, der weh tut. Wenn das Z-Wort genannt wird oder wenn nicht die richtige Bezeichnung für Rom*nja oder Romanes“ verwendet wird, seien das „harte Sachen, die vor allem junge Menschen treffen. Die haben dann keinen Bock mehr auf Facebook oder Wikipedia.“ Deswegen sei es wichtig, dass sie nicht nur in den großen sozialen Netzwerken agieren, sondern eigene Webseiten, Plattformen oder Blogs gestalten, wo sie es sind, die den Zugang regeln.

Etablierte Plattformen müssen sich öffnen

Gerade deswegen, so betont die Archiv-Gründerin Randjelović, müssten die großen digitalen Akteure und Wissensplattformen „sich Mühe geben, eine vielfältige Repräsentationspolitik zu ermöglichen. Das hieße auch, dass man „sich Wikipedia-Einträge anschaut und diese diversifiziert“. Ihre eigene Erfahrung sei dabei eher ernüchternd gewesen. Das RomaniPhen Archiv habe mehrfach versucht, einen Artikel über sich zu schreiben.1 „Aber er ist immer wieder abgelehnt worden. Wenn man sich nicht auskennt mit dem System, ist es schwierig“, bedauert Randjelović. „Wir haben auch Artikel verändert, weil falsche Informationen drin standen oder die Wortwahl unangemessen war. Aber das können wir als kleiner Verein nicht leisten“, ergänzt sie.

Ist die freie Enzyklopädie Wikipedia denn überhaupt dafür geeignet, das Wissen über Sintizze und Romnja zu verbreiten? „Ich sage provokant: Nein“, meint Selimović. Bei biografischen Artikeln über einzelne Sintizze oder Romnja möge das nicht ganz zutreffen. Aber die Regisseurin findet es schwierig, wenn in der Wikipedia von Menschen über eine Community geschrieben werde, aus der sie nicht kommen. Weil Stereotype über diese Community so stark verwurzelt und weit verbreitet seien, dass sie das Schreiben beeinflussen. „Hard Facts” könnten auch Menschen abbilden, die nicht aus den Communitys kommen. Aber man sollte es den Rom*nja oder Sinti*zze selbst überlassen, Wissen über ihre Kultur und Geschichte weiterzugeben, so die Ansicht der Künstlerin. Denn ihre Wahrnehmung ist: Vieles, was über beide Gruppen im Netz und auch auf Wikipedia steht, sei nicht zutreffend.

Gilda Horvath macht einen Vorschlag, wie sich das ändern könnte. Man müsse auf die Menschen aus den Communitys zugehen, sie „holen, damit sie aktiv und im Idealfall auch bezahlt beitragen“, um die „Qualität der Informationen zu erhöhen, denn das steigert auch das Vertrauen“.1 Denn die Zeit und Ressourcen, um „Wissen zu kreieren“ hätten viele Rom*nja und Sinti*zze schlicht nicht, erläutert Horvath. Das seien Privilegien von Wenigen, so die Journalistin.

Mit Blick auf die Relevanz von Wikipedia-Artikeln, die oft der erste Eintrag sind, wenn man einen Begriff oder eine Person googelt, sei es besonders wichtig, dass die Informationen verlässlich und frei von Stereotypen oder nicht zutreffenden Fremdzuschreibungen seien. Darin sind sich die drei Diskutierenden einig. Aktuell seien Rom*nja und Sinti*zze aber noch „absolut abhängig davon, wie andere über uns sprechen und wie unsere nächste Generation uns im Internet wahrnimmt“, stellt Horvath fest.

Mit der Erfahrungen aus der Bildungsarbeit im Gepäck, die das RomaniPhen Archiv betreibt, stellt Isidora Randjelović aber auch fest: „Wissensgerechtigkeit ist nichts, was an einer Stelle zu lösen ist. Eine Strategie von Wikimedia kann nicht die Lösung sein. Es muss gesellschaftlich mehr über Wissensgerechtigkeit nachgedacht werden, über gute schulische Bildungsarbeit. Da geht es auch darum, welchen Zugang haben Lehrkräfte zu Wissen. Das ist eine Querschnittsaufgabe.“

Anmerkungen:

1. Das RomaniPhen Archiv hat keinen eigenen Artikel in der Wikipedia, wird aber im Artikel „Roma“ als Organisation beschrieben und findet zudem in den biografischen Artikeln über die Sängerin Tayo Jessica Onutor, die Bürgerrechtsaktivistin Ilona Lagrene und die Schriftstellerin und Dramatikerin Elena Lacková Erwähnung.

2. Vorschläge, bezahlte Redaktionen einzuführen, wurden schon häufiger an die Wikipedia herangetragen. Fakt ist: Wikipedia ist ein Projekt von Ehrenamtlichen, bezahlte Mitarbeit ist nicht vorgesehen und nur unter strengen Auflagen geduldet.

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