Dr. Dominik Scholl
Nico Schneider
Frank Böker
Sabine Müller (freie Mitarbeiterin)
2. Juni 2022
Die Nationale Bildungsplattform stellt ein zentrales Projekt des Bundes dar, das die Digitalisierung im Bildungsbereich voranbringen soll. Laut Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) hat die Bildungsplattform das Ziel, eine „Meta-Plattform vernetzter digitaler Bildungsangebote“ zu schaffen. Sie soll „ein technisches und organisatorisches Ökosystem“ bieten, das sowohl bereits bestehende Lernsysteme der Bundesländer als auch Produkte neuer – kommerzieller wie nicht kommerzieller – Anbieter miteinander vernetzt. So soll ein übergreifender digitaler Lernraum mit Angeboten für Lernende, Lehrende und Institutionen entlang aller Abschnitte des lebenslangen Lernens entstehen. Nutzende sollen einen einfachen Zugang haben und in einer individualisierten Lernumgebung möglichst barrierefrei an Bildung teilhaben können.
Diesen und weitere Beiträge zur Nationalen Bildungsplattform jetzt nachlesen im Wikimedia-Politikbrief. |
Damit ist ein äußerst ambitioniertes Projekt umrissen, das auch international seinesgleichen sucht. Welche Bedarfe im Bildungssystem genau mit der Plattform adressiert, welche konkreten Ziele verfolgt und wie genau diese umgesetzt werden sollen, ist bisher weitestgehend unbekannt. Doch bereits jetzt zeichnet sich ab, dass hinter der Ambition, eine rein technisch-regulative Infrastruktur zu schaffen, die höchst problematische Annahme steckt, es handele sich bei der Nationalen Bildungsplattform um eine neutrale Hülle, die es später mit pädagogischen Inhalten zum Leben zu erwecken gelte.
Aber es gibt keine neutralen Plattformen. Im Gegenteil: Plattformen sind grundsätzlich politisch, wie Michael Seemann in seinem aktuellen Buch „Die Macht der Plattformen“ zeigt. Demnach werden durch technische Festlegungen über Protokolle, Datenspeicherung, Algorithmen und Schnittstellen zu einem frühen Zeitpunkt Pfadentscheidungen getroffen, die u. a. die Weichen dafür stellen, welche Idee von Bildung und Lernen digital abgebildet kann und welche nicht.
Wie technische Entscheidungen Bildung steuern und Lernerfolge prägen
Im Falle der Nationalen Bildungsplattform ist zu erwarten, dass diese Entscheidungen beispielsweise vorgeben, wie Nutzer*innen Zugang zur Plattform erhalten, wie sie miteinander in Kontakt treten, welche Bildungs inhalte sie auffinden, verwenden und speichern können. In letzter Konsequenz erfolgt so eine grundlegende Vorentscheidung darüber, wie Lernen stattfinden kann, was Lernerfolge kennzeichnet, welche Formen von Bildung im Verlauf einer Lernbiografie als wertvoll anerkannt und welche als unwichtig aussortiert werden. Das lässt sich an zwei Beispielen veranschaulichen:
1. Top-down- vs. Bottom-up-Struktur
Wer entscheidet wie über die Auswahl der verfügbaren Inhalte auf einer Plattform, über die zugrunde liegenden Lernziele, Kompetenzmodelle und Lernpfade? Diese Frage wird im Grunde schon bei der Erarbeitung der sogenannten Governance-Struktur, die zukünftige Steuerungs- und Planungsprozesse festlegt, sehr früh im Projektverlauf beantwortet. Eine Plattform mit einer starken Top-down-Struktur, in der etwa Expert*innen-Gremien Inhalte definieren und in Kompetenzmodelle, Lernziele und -pfade gießen, geht implizit davon aus, dass Lernen ein gleichförmiger, linear steuerbarer Prozess ist: Das Ergebnis des Lernens und der Weg dorthin werden zentral festgelegt.
In einer communitybasierten Bottom-up-Governance-Struktur hingegen werden sowohl die zugrunde liegenden Regeln als auch die Inhalte kollaborativ erarbeitet – ganz ähnlich, wie es etwa in der Wikipedia der Fall ist. Sie geht von einem Lernprozess aus, der in produktiver Weise ergebnisoffen bleibt. Lernziel und -leistung können von den Lernenden selbst beeinflusst werden.
2. Formelle vs. informelle Lernleistungen
Eine weitere Vorentscheidung betrifft die Rolle der Zertifizierung innerhalb der Nationalen Bildungsplattform. Der u. a. durch die Universität Potsdam entwickelte Prototyp „Bildungsraum Digital“ sieht vor, dass Nutzende ihre Zertifikate und Ergebnisse von Prüfungen in einem Wallet (eine Art elektronische Brieftasche) ablegen und so ein Leben lang abrufen können. Während der Ansatz durchaus praktisch ist, nimmt die technische Entscheidung, Zertifizierung zum Kernelement der Bildungsplattform zu erheben, gleichzeitig eine Wertung vor. Was zertifizierbar ist, stellt einen Lernerfolg dar und nimmt somit direkten Einfluss darauf, was als Fortschritt auf dem Bildungsweg eines Menschen anerkannt wird.
Zweifellos birgt die digitale Zertifikatsverwaltung Potenziale. Allerdings besteht das Risiko ungewollter Nebeneffekte, durch die die ohnehin in Deutschland strukturell verankerte Vormachtstellung formeller Bildung weiter zementiert wird und alternative Lernprozesse abgewertet werden. Wie stünde es dann um die Anerkennung von Lernleistungen in nicht formellen Kontexten, wie sie etwa Wikipedianer*innen im digitalen Ehrenamt erbringen? Wie ließe sich das autodidaktische Erlernen einer Programmiersprache oder der selbst initiierte Erwerb kommunikativer und sozialer Kompetenzen im Umgang mit anderen Menschen erfassen? Solche Lehr-/Lernprozesse und -erfolge sowie Formen der Beurteilung ohne zertifizierte Abschlüsse laufen Gefahr, es nicht in die elektronische Brieftasche zu schaffen.
Diese Beispiele illustrieren die weitreichenden Folgen vermeintlich rein technischer Designentscheidungen. Die Nationale Bildungsplattform hat allein durch ihre Strukturierung einen erheblichen Einfluss darauf, wie lebenslanges Lernen verstanden und praktiziert wird. Damit kündigt sich schon zu einem frühen Zeitpunkt der Plattformentwicklung ein Spannungsfeld zwischen dem Neutralitätsversprechen der Nationalen Bildungsplattform und den gesellschaftspolitischen Implikationen für das demokratische Gemeingut Bildung an. Die Tragweite des Themas verlangt nach einer breit angelegten, öffentlichen Debatte verschiedener Interessensgruppen, die sich in einem transparenten Prozess über implizite Werte und Ziele sowie pädagogische Standards digitalen Lernens verständigen.