Christoph Diepes
26. Januar 2022
Michael Schlesinger ist langjähriger Wikipedianer und einer der Aktiven in dem Wiki-Projekt Umgang mit bezahltem Schreiben. Er sagt: „Seit Jahren hat die Wikipedia das Problem, besonders attraktiv für Werbetreibende zu sein.“ Sie sei schließlich eine der wichtigsten Webseiten der Welt. Unternehmen, Einzelpersonen, die unterschiedlichsten Organisationen – für sie alle „gehört ein Wikipedia-Artikel einfach dazu“, so Schlesinger. Die Marketing- und PR-Branche habe die Chance erkannt. Ganz offen würde im Internet angeboten, gegen Bezahlung Artikel für Wikipedia zu verfassen.
Nach der sogenannten Gibraltar-Affäre von 2013 habe sich dieser Trend verstärkt. Damals wurden in der englischsprachigen Wikipedia bezahlte Artikel zur Tourismusförderung in Gibraltar erkannt. Auch der Boom bei der Suchmaschinenoptimierung sei zu dieser Zeit immer problematischer geworden: „Suchmaschinen wie Google bieten bei Anfragen an erster Stelle meist einen passenden Wikipedia-Artikel an, was relativ kleine und unbekannte Unternehmen, Dienstleister und Künstler ganz nach oben bringt.“ Mitglieder der Wikipedia-Community haben unter anderem eine Übersicht von bekannten Paid Editing-Accounts erstellt.
Diskussionen in der Wikipedia-Community
Die Nutzungsbedingungen von Wikipedia sind eindeutig. Gemäß dieser „müssen Sie Ihren Arbeitgeber, Kunden und Ihre Zugehörigkeit in Bezug auf alle Beiträge, für die Sie eine Vergütung erhalten oder erwarten, offenlegen.“ Ergänzt wird das durch die Grundprinzipien der Wikipedia. Eines dieser vier unveränderlichen Prinzipien ist der neutrale Standpunkt. Er setzt voraus, dass jeder Wikipedia-Artikel möglichst objektiv verfasst sein sollte. Schlesinger ergänzt: „Bezahltes Schreiben war zwar immer in Grenzen erlaubt, musste aber von sogenannten verifizierten Accounts erfolgen und war auch nur unter Offenlegung der Geschäftsbeziehungen akzeptiert. Allerdings hielten sich die meisten der Marketingabteilungen der Unternehmen und PR-Agenturen in den wenigsten Fällen daran.” Und in der Vergangenheit sei auch die Kontrolle durch die ehrenamtlichen Wikipedianer*innen nicht immer konsequent gewesen.
Wie sollte mit bezahltem Schreiben umgegangen werden? In der sehr breit gefächerten Wikipedia-Community sind nicht alle einer Meinung. Das zeigte sich im November 2021 bei der Abstimmung in Form des Meinungsbildes Verbot von Auftragsarbeiten durch PR-Dienstleister. Meinungsbilder sind ein wichtiges demokratischen Werkzeug in der Wikipedia-Community. Das eindeutige Verbot von Paid Editing wurde abgelehnt. Aber das Thema wurde intensiv diskutiert und 317 Wikipedia-Aktive beteiligten sich an der Abstimmung.
Verstärkte Aktivitäten gegen Paid Editing
Paid Editing verursacht auch einen enormen Mehraufwand für die Menschen, die in ihrer Freizeit an qualitativ hochwertigen Inhalten für die Wikipedia arbeiten. Etwa bei Ehrenamtlichen, die in der Sichtung neuer Artikel tätig sind. Michael Schlesinger sagt, dass PR- und Marketing-Agenturen geübter darin geworden sind, bezahltes Schreiben möglichst unauffällig zu gestalten. Doch im September 2021 kam dann ein Wendepunkt, als das ZDF Magazin Royale über Wikipedia-Aktivitäten von Politiker*innen berichtete. Das habe in der Community zu Bewegung geführt. Schlesinger beschreibt es so: „Das war ein Schock. Doch die Community verfiel nicht in Starre, sondern begann ab Anfang Dezember 2021 damit, in einer konzertierten Aktion den Artikelbestand langsam, aber gründlich zu durchforsten.“
Auf der Diskussionsseite des Wiki-Projekts wird alles dokumentiert. Zunächst hat die Community dabei Accounts im Blick, bei denen von einem möglichen Interessenkonflikt ausgegangen wird. Die Aktiven wollen dies kontinuierlich ausweiten und Paid Editing in der deutschsprachigen Wikipedia immer mehr kontrollieren. Man überlegt auch, welche technischen Möglichkeiten es dafür gibt. Das und anderes wurde im Januar in einem Online-Treffen zum Umgang mit bezahltem Schreiben diskutiert. Das nächste Treffen ist bereits geplant.