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(Dis)Kurswechsel in der Digitalpolitik

„F5“, ein neues Bündnis aus Wikimedia Deutschland, Algorithm Watch, der Gesellschaft für Freiheitsrechte, der Open Knowledge Foundation Deutschland und Reporter ohne Grenzen, fordern einen Perspektivwechsel: Für eine konsequente Gemeinwohlorientierung in der Digitalpolitik.

Dr. Christian Humborg

16. September 2021

Faxgeräte in Gesundheitsämtern, Schulen ohne E-Mail-Adressen, Millionen für verkorkste Apps – die Pandemie hat schonungslos offengelegt, dass ein „Weiter so“ in der Digitalpolitik unsere Zukunft gefährdet. Nicht Sicherheitsinteressen und die Einnahmen der Tech-Konzerne müssen im Mittelpunkt stehen, sondern das Gemeinwohl.

Ein Blick auf die Debatten der vergangenen Jahre zeigt, wie entscheidend zivilgesellschaftliche Stimmen sind, wenn es darum geht zu verhindern, dass Weichen falsch gestellt werden: Zum Beispiel, wenn die Corona-Warn-App, das BND-Gesetz oder die Vorratsdatenspeicherung vollständig überarbeitet werden müssen. Oder, wenn Entscheidungsträger zunehmend erkennen, dass Plattformen wie Facebook und Youtube transparenter sein müssen, ohne zu zensieren, oder es eine schlechte Idee ist, eine Cloud-Infrastruktur vollständig privaten Unternehmen zu überlassen. Immer waren es auch Organisationen wie unsere, die dafür gesorgt haben, dass ein Kurswechsel stattfindet.

Perspektivwechsel in der Digitalpolitik 

Wir – F5, ein neues Bündnis aus Algorithm Watch, der Gesellschaft für Freiheitsrechte, der Open Knowledge Foundation Deutschland, Reporter ohne Grenzen und Wikimedia Deutschland, fordern einen Perspektivwechsel: Das Gemeinwohl muss in der Digitalpolitik im Fokus sein. Es ist eine katastrophale Verschwendung knapper Ressourcen auf allen Seiten, wenn Regierung und öffentliche Hand in intransparenten Verfahren Tatsachen schaffen, oft genug getrieben von Lobbyisten, Unternehmensberatern und den Vertriebsabteilungen der Digitalkonzerne – und anschließend müssen Watchdog-Organisationen so viel Druck aufbauen, dass diese Fehlentscheidungen korrigiert werden.

Maßgabe einer demokratischen, offenen, inklusiven und transparenten Digitalpolitik muss vielmehr sein, Gemeinwohl und Daseinsvorsorge ins Zentrum zu stellen. Das kann aber nur gelingen, wenn mehr Stimmen gehört und beteiligt werden. Unsere Organisationen verstehen und verknüpfen die Vielseitigkeit der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Diese diversen Stimmen zu stärken und zu institutionalisieren, ist ein Ziel unseres Bündnisses. Wir setzen uns dafür ein, dass sichere und vertrauliche Kommunikation auch mit digitalen Mitteln möglich bleibt. Dieses Grundrecht, im analogen Leben selbstverständlich, wird im Digitalen immer weiter aufgeweicht.

Wirksame Kontrolle für Plattformen und Algorithmen

Wir treten ein für eine europäische Regulierung von Online-Plattformen, die die Meinungs- und Informationsfreiheit und Nutzerrechte stärkt. Das kann nur gelingen, wenn Youtube, Facebook, Twitter und Co. gesetzlich zu mehr Transparenz gezwungen werden. Nur dann können sich Nutzer:innen selbstbestimmt im digitalen Raum bewegen. Zugleich darf sich der Staat nicht aus der Verantwortung stehlen: Wir brauchen neue Wege, Hasskommentare strafrechtlich zu verfolgen, ohne die Verantwortung vollständig an private Unternehmen zu delegieren.

Zunehmend werden Systeme zum automatisierten Entscheiden, oft als Künstliche Intelligenz bezeichnet, bei der Auswahl von Bewerber:innen, bei medizinischen Diagnosen, in der öffentlichen Verwaltung, bei der Kreditvergabe und anderswo eingesetzt. Es wird entscheidend für Freiheit und Gerechtigkeit sein, dass bei ihrem Einsatz das Gemeinwohl im Vordergrund steht und sie einer wirksamen Kontrolle unterliegen.

Gemeinwohlorientierte Digitalisierung und Transparenz

Damit unserer Gesellschaft die Ideen, die Kompetenzen und die Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements so gut wie möglich zu Gute kommen, müssen aber auch gemeinwohlorientierte digitale Projekte stärker gefördert werden. Haftungsrisiken für ehrenamtlich betriebene Angebote müssen gesenkt, die Selbstverwaltung gefördert werden. Die Informationsfreiheit sollte durch Transparenzgesetze gestärkt, der freie Zugang zu Wissen durch politische Reformen begünstigt werden. Öffentliche Gelder sollten viel stärker in öffentlich zugängliche und für alle nutzbare Software, Strukturen und Bildungsmaterialien investiert werden.

Unsere freiheitliche und offene digitale Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die weder Staat noch Unternehmen allein garantieren können. F5 ist das zivilgesellschaftliche Gegengewicht zu dominierenden Wirtschaftsinteressen und einer Politik, die das Gemeinwohl bei der Digitalisierung aus dem Auge zu verlieren droht. Die Zukunftsfähigkeit einer demokratischen digitalen Gesellschaft ist unser Ziel. Daran werden wir Politik und Unternehmen messen – und selbstverständlich auch uns selbst.

Dieser Beitrag erschien zunächst im Tagesspiegel Background Digitalisierung & KI und wurde in Ko-Autorschaft verfasst von:

Matthias Spielkamp, Geschäftsführer Algorithm Watch

Malte Spitz, Generalsekretär der Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V.

Henriette Litta, Geschäftsführerin der Open Knowledge Foundation Deutschland e. V.

Christian Mihr, Geschäftsführer Reporter ohne Grenzen

Christian Humborg, Geschäftsführender Vorstand Wikimedia Deutschland e. V.

Gesprächsrunde nach der Bundestagswahl

Welche Rolle spielt die Vision einer gemeinwohlorientierten Digitalisierung bei den Koalitionsverhandlungen? Was ist von der kommenden Legislaturperiode zu erwarten? Wenige Tage nach der Bundestagswahl hat das neue Bündnis F5 Politiker*innen zum Gespräch über digitalpolitische Themen geladen.

  • Die Zielsetzungen von F5 sind äusserst wichtig: spätestens seit dem erschütternden Versagen der IT Spezialisten bei der Einführung der Maut ist klar, dass Gefahren nicht nur durch die Interessen internationaler, großer Konzerne bestehen, sondern ebnso auf europäischer und nationaler Ebene durchaus fragwürdige Eigeninteressen verfolgt werden.
    Das ist aber nicht das einzige Problem bei dem Umgang mit der digitalen Welt. Es gibt Netzwerk- und Programmier Spezialisten, die gründlich ausgebildet sind- und Fehleranalyse können und wollen. Was für Qualitätsstandards liegen denn für die Ausbildung dieser Experten zugrunde? Angesichts der vielen unnützen, nicht/oder nur teilweise funktionierenden digitalen Angebote an die Bevölkerung öffnen sich da sehr viele Fragen. Und wer bestimmt in welchen Prozessen, bei z.B. einer staatlichen Auftragsvergabe, welche Firma mit einem Auftrag betraut wird? Wer ist in den Behörden und der Regierung selbst gründlich und solide ausgebildet, um den Fortgang einen Entwicklung kompetent zu begleiten?
    Mit welchen Experten hat die Regierung damals Siemens bei dem Mautkomplex kontrolliert- oder hat sie nicht? Oder doch und war einverstanden?
    Da wären wir dann wieder bei der dringend notwendigen, größeren Transparenz.

    Kommentar von Kathrin Czerannowski am 23. Oktober 2021 um 00:20

  • Sehr wichtige Forderungen,gegenüber dem Staat und den Tech-Konzernen durchgesetzt werden müssen

    Kommentar von Peter Dr.Dumke am 3. Oktober 2021 um 20:03

  • Diese Initiative finde ich sehr gut und wird von mir voll unterstützt.
    Aber welchen Beitrag wollen in diesem Zusammenhang “Ärzte ohne Grenzen” leisten?
    Und Bitte lasst das Gendersternchen weg!

    Kommentar von Gunther Boye am 30. September 2021 um 14:35

  • Alles, was von den Regierenden bisher hinsichtlich einer angeblich fortschrittlichen Digital-Politik geleistet bzw. nicht geleistet wurde, ist Stückwerk. Der Druck von Lobby-Verbänden unterschiedlicher Interessen gipfelt in einer wirklich indiskutablen Politik zu diesem wichtigen Thema.
    Hinsichtlich der Einführung eines bürgerfreundlichen E-Governments liegt Deutschland im Vergleich zu anderen, weniger wirtschaftsstarken Nationen weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen. Daran ändern auch “Sprechblasen” zur Förderung und Modernisierung nichts.
    Es ist wirklich peinlich zu sehen, wie viel Dilettantismus unsere Politiker hier an den Tag legen und damit eben auch die wirtschaftliche Entwicklung dieses Bereichs behindern, wenn nicht gar blockieren.

    Kommentar von Falk Brier am 30. September 2021 um 12:06

  • Trotz meiner bald 82 Jahre begeistern mich Eure Aktvitäten und ich hoffe sehr auf die neue Regierung (SPD/Grüne/FDP) unter Olaf Scholz.

    Kommentar von Carl-Heinz Schneider am 30. September 2021 um 11:42

  • May the source be with you! Ich bin sehr dankbar für die Initiative dieses schwergewichtigen Bündnisses. Denn wir stehen nur um Haaresbreite vor Zuständen wie in Marc-Uwe Klings “QualityLand”. Und da will ich nicht hin …

    Kommentar von Martin Schniewind am 30. September 2021 um 10:35

  • …wir müssen endlich im digitalen Alltag ankommen. Die staatliche Administration muss hier vorbildlich vorangehen. Das bedeutet, dass in einer Zeit des Wandels alle möglichen, administrativen Prozesse ZeitKosten sparend und sicher umsetzbar gestaltet und dem Bürger angeboten werden müssen. Die dadurch entstehenden Freiräume in den Administrationen sind zu nutzen um diejenigen, die nicht über die Möglichkeiten der sofortigen Teilnahme an diesem DigitalisierungsProzess verfügen nicht abzuhängen, sondern da abgeholt werden, wo sie sind und Hilfestellung zur Digitalisierung anzubieten.

    Jeder Bürger, egal ob digital oder persönlich mit staatlichen Administrationen kommunizierend, hat das Recht auf kostenlose Teilnahme. Wir sollten uns davor hüten, durch kostenpflichtige Kommunikation mit der staatlichen Administration noch mehr Distanz zwischen Bürger und Staat zu treiben. Geförderte, freie Kommunikation zwischen Staat und Bürger ist ein Mittel um Bürgerakzeptanz und damit Staatsakzeptanz zu fördern.

    Kommentar von Norbert Hinsenhofen am 30. September 2021 um 10:29

  • Es reicht nicht, in Schulen und öffentlichen Einrichtungen neue Geräte anzuschaffen. Die Technik muss auch bedient und angewendet werden können. Wissen vermitteln ist ein zwingendes Gebot unserer Zeit.

    Kommentar von Martin Lagemann am 30. September 2021 um 06:52

  • Um Fortschritte in dieser Richtung zu erzielen, gilt es zunächst zu verhindern, dass eine abgewählte Partei wieder die Regierung übernimmt.

    Kommentar von Günter Dickel am 29. September 2021 um 18:30

  • Wer digitale Kommunikation etabliert, sollte auf kundenfreundliche Sprache achten. In meinem online-banking taucht plötzlich die Frage auf “CVV downloaden?” Woher soll ich wissen, was CVV ist?
    Die digitalen Assistenten sind ein Witz. “Hallo, ich heiße Anita und bin Ihre digitale Assistentin.” Und was versteht Anita? Nichts! Dumm wie ein Brikett.
    Viele Behördengänge sind noch zu Fuß zu erledigen. Den alten Lappen abgeben? Da muss man noch persönlich erscheinen. Digital wäre super, etwa so: schicken Sie Ihren alten Führerschein an uns (Behörde X), wir schicken Ihnen den neuen zu und buchen x.x€ von Ihrem Konto ab. Danke, tschüß

    Kommentar von Erich Kunde am 29. September 2021 um 17:54

  • Gemeinwohlorientierte Digitalisierung und Transparenz klingt gut aber warum der Genderstern.

    Kommentar von Dr. Kleineberg am 29. September 2021 um 17:23

  • Der ganzen IT-Kommunikation fehlt die marktwirtschaftliche und handelsrechtliche, öffentlich rechtlich geschützte Grundlage. Besonders die Senioren, Ruheständler sind in Vertragsfallen gefangen, haben “wechsle deinen Anbieter” Agenturen, ermächtigt, die weder auf eigene Rechung und Gefahr, bestehende Verträge z.B. der Deutschen Telekom AG, an nonamed Netzbetreiber vermarkten.

    Der Netzanschluss und Betreueung, Störungsbeseitung erfolgt über einen Nachrichten-Technik-Innungsbetrieb, Handwerksmeister, der auch ausbildet.

    Selbst die gesamte Energieversorgung- wie IT-Kommunikation läuft über nicht im Handelsregister eingetragene “Netzagenturen”. Der Bürger hat ein Recht auf eine, wie nur bei Geschäftskunden, Rechnung nach HGB, mit Firmensitz und Gerichtsstand, und detaillierte Leistungsaufstellung: statt kryptischer “Zwei Liter “Magenta” Gigabite-Rostschutz-Dispersion” einer Telekom GmbH, also niemand haftet, per Internet zugestellt, “Kundenkonto”-Zugang endlose Schachteladressen, machen Reklamationen unmöglich. Wie kommt ein Wirtschaftsminister dazu, Lizenzen in Millionenhöhe zu vermarkten, Satelliten-Start-Stationen zu versprechen, statt an die Bürger weiterzugeben.

    Die neue Regierung ist aufgefordert, dem Bürger ein Klagerecht gegen Behörden nach dem Muster der KFZ-Haftpflichtversicherung einzuräumen, damit er in Sammelklage gegen Bescheide, Verordnungen, Gebühren vor Gericht vertreten ist.

    Des Weiteren ist von Behörden zu verlangen, statt des sechs Augen-Prinzips bei Internet Korrespondenz über einen Mittelsmann, die vier Augen-Korrespondenz anzuwenden.

    Warum bekomme ich beim Finanzamt keinen Einblick in meinen letztjährigen Steuerbescheid und Steuerkonto, der bekannte “Bierdeckel” per Internet. Nur über meinen Steuerbevollmächtigten, oder bei Polizei oder Gericht nur über einen Anwalt. Deren Mails von mir werden gelesen und bearbeitet, meine nicht.

    Wie schütze ich mich vor Koppelungsgeschäften meines Intenet-Anbieters, z.B. moname@web.de, mir nun auch Stom und Heizöl verkaufen will?

    Kommentar von Franz Meßmer am 29. September 2021 um 17:04

  • Diese Initiative von Euch finde ich super!! Unsere Wirtschaft braucht insgesamt die Ausrichtung auf das Gemeinwohl. Am deutlichsten wird das wohl an den großen IT-Konzernen. Ich unterstütze Euch gern weiter.
    Macht weiter so!!!

    Kommentar von Gertrud Siekmann am 29. September 2021 um 16:51

  • … “das zivilgesellschaftliche Gegengewicht zu dominierenden Wirtschaftsinteressen”: das klingt gut. Bin gespannt.

    Kommentar von Jens Höfft am 29. September 2021 um 16:36

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