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Bilanz nach 20 Jahren Wikipedia: „Das ist ein Jahrhundertprojekt“

Ein Interview mit Sebastian Wallroth, einem der frühen Wikipedianer in der deutschsprachigen Wikipedia und Vereinsgründer von Wikimedia Deutschland. Über die ersten Jahre der Online-Enzyklopädie, den Werdegang der Wikipedia und warum er es traurig findet, dass die meisten gedruckten Lexika verschwunden sind.

Julia Gebert

16. März 2021

Wie war es, in den Anfangsjahren in der deutschsprachigen Wikipedia zu schreiben? 

Es war toll! Ich las in einem Heise-Artikel über die Wikipedia und dachte „das ist mein Projekt“. Ich hatte schon vorher Artikel über meine Heimatstadt Frankfurt an der Oder geschrieben, aber dann wurde Wikipedia meine Plattform. Am Anfang habe ich überwiegend allein gearbeitet, bevor ich bei den ersten Treffen und der Vereinsgründung dabei war. Auch dass es ein Regelwerk in der Wikipedia gibt, hab ich nur am Rande mitbekommen. Das stand nicht so im Vordergrund. Es machte einfach Spaß, zu schreiben. 

Hättest du damals gedacht, dass die Wikipedia irgendwann mal so berühmt werden und auf mehr als 2,5 Mio Artikel anwachsen würde?

Nein, das war für niemanden absehbar. In so weiten Zeithorizonten haben wir auch gar nicht gedacht: Ich habe mich vor allem an meiner Wikipedia-Arbeit erfreut, mir immer wieder neue Inhalte und Projekte gesucht. Eins war mir allerdings immer klar: Dass ein Lexikon ein Jahrhundertprojekt ist. 

Ein Jahrhundertprojekt von der Bedeutung oder von der Schaffenszeit?

Beides. Es dauert lange und es ist bedeutungsvoll. Ich habe die alten, gedruckten Lexika und die viele Arbeit, die dahinter steckt, sehr geschätzt. Ich fand es bedauerlich, als die meisten von ihnen verschwanden. Die Wikipedia ist in der Tat ein Jahrhundertprojekt, denn auch nach so vielen Jahren und einer ständig wachsenden Online-Enzyklopädie bewegen wir uns immer noch an den Rändern des Wissens, erfassen also nur einen Teil des Wissensschatzes! 

Gab es Momente in denen du dachtest „Das war’s jetzt mit der Wikipedia!“? 

Nein, nie. Denn ich bin ja selbst Teil der Wikipedia. Solange mindestens eine Person schreibt, bleibt auch die Plattform erhalten. 

Wie hat sich die Arbeit in der Wikipedia über die Jahre verändert? 

Ich denke, in den ersten Jahren waren die Möglichkeiten größer, vielleicht vor allem die Vorstellungshorizonte, wir wollten Großes bewegen. Es gab am Anfang auch andere Aufgaben als heute, das hat teilweise andere Menschen angezogen. 

Auch die Vereinsgründung hatte damit viel zu tun: Je mehr Menschen dabei waren, desto wichtiger wurde es, eine Institution zu haben, die uns bei der Spendenakquise oder Pressearbeit entlastet. Das war irgendwann ehrenamtlich nicht mehr zu leisten. Am Anfang waren wir im Verein einfach sehr viele Wikipedianer und Wikipedianerinnen. Wir haben überall mit angepackt, jeder machte alles Mögliche. Heute sind wir ein Verein mit mehr als 85.000 Mitgliedern, der professionell arbeitet. Es fühlt sich ganz anders an, im Alltag verkörpert eher die Geschäftsstelle den Verein als dass es Mitglieder oder Wikipedia-Aktive täten. Andererseits ginge es der Wikipedia ohne Verein deutlich schlechter, allein schon eine offizielle Adresse zu haben, hat zur Akzeptanz des Projekts erheblich beigetragen. 

Würdest du sagen, ihr habt ein digitales Ehrenamt inne?

Das trifft es nicht wirklich. Denn wir treffen uns nicht online, sondern wir machen online inhaltliche Arbeit. Wir sind weit weg von Organisationen, die sich online treffen und austauschen. Teile der Wikipedia-Community wollen das auch nicht unbedingt. Es gab zum Beispiel mal eine Initiative „Wikipedia ist kein Facebook“, um zu verhindern, dass die Wikipedia ein soziales Netzwerk im Stil von Facebook wird. Damit wurde aber auch verhindert, dass man online soziale Treffen hat. Dann wurden vor ein paar Jahren die lokalen Räume gegründet, so dass wir uns dort treffen können – damit sind wir also halb online, halb offline mit unserem Ehrenamt.

Was wünschst du dir für die nächsten 20 Jahre für Wikipedia?

Zunächst einmal, dass es Wikipedia in 20 Jahren noch gibt. Und ich wünsche mir, dass die Wikipedia DIE freie Wissensressource wird, wo jeder und jede teilhaben kann. Ob das dann in Form eines geschriebenen Mediums sein muss, hängt von der technologischen Entwicklung ab. Ich würde mir aber auf jeden Fall wünschen, dass wir 1000 EntwicklerInnen einstellen, die eine ordentliche User Experience gestalten. Und dass wir wieder in die Schulen gehen und dort Wikipedia erklären und bewerben.