Viel Spaß beim Lesen dieses Gastbeitrages von Rainer Sprengel vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement.
Digitales bürgerschaftliches Engagement ist bisher weder verstanden und hinreichend erforscht noch im Fokus der Engagementdiskussion. Dieser Beitrag will zeigen, worum es bei diesem Thema geht.
In der öffentlichen Diskussion wird bürgerschaftliches Engagement leicht auf Ehrenamt und Freiwilligentätigkeit verkürzt, was mit Blick auf digitales bürgerschaftliches Engagement schnell in die Irre führen kann. Tatsächlich ist mehr gemeint, denn bürgerschaftliches Engagement umfasst alle Formen privaten Engagements für das Gemeinwohl im öffentlichen Raum. Dieses Verständnis wurde vor 15 Jahren von der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des XIV. Deutschen Bundestages etabliert. Dadurch erhielten die Debatten über bürgerschaftliches Engagement in Deutschland und die Entwicklung engagementfördernder Strukturen einen heftigen, nachhaltigen Impuls.
Die verbreitetsten Formen bürgerschaftlichen Engagements sind in Deutschland die Zeitspende (Ehrenamt, Freiwilligentätigkeit und ähnliche Formen) und die Geldspende, doch es gibt viele weitere Formen. Eine große Bedeutung kommt zum Beispiel der persönlichen Reputation zu, den in der Öffentlichkeit bekannte Personen für das Gemeinwohl einsetzen können. Eine weitere Form ist die Verfügbarmachung eigener persönlicher Netzwerke – diese können für den privaten Nutzen eingesetzt werden, dann geht es um das berühmte Vitamin-B in Karrieren oder ebenso auch für das Gemeinwohl, dann handelt es sich um bürgerschaftliches Engagement. Der skeptische Blick auf das bürgerschaftliche Engagement von Unternehmern und Unternehmen hat auch damit zu tun, dass hier beides gleichzeitig passieren kann. In der Wissensgesellschaft stellt bürgerschaftliches Engagement, das Informationen und Wissen erzeugt und mit allen ohne Bezahlung teilt, eine besondere, wichtige Form des bürgerschaftlichen Engagements dar. Wissensspende ist nicht hinreichend durch die damit verbundene Zeitspende erfasst.
Notwendigkeit und Nutzen einer Diskussion über digitales bürgerschaftliches Engagement
Bürgerschaftliches Engagement ist die Grundlage des Zusammenlebens und Funktionierens unserer modernen, demokratischen Gesellschaft – das bleibt eine der zentralen Erkenntnisse der genannten Enquete-Kommission. Im bürgerschaftlichen Engagement wird gelernt und weitergegeben, dass es mehr gibt als familiäre Verpflichtungen und Blutsbande, dass wir uns freiwillig gegenüber Dritten verpflichten, die uns komplett unbekannt bleiben, die uns vielleicht auch völlig unsympatisch sein können. Wer in der Freiwilligen Feuerwehr ist, handelt immer für Alle, wer ehrenamtlich Wanderwege anlegt, weiß nicht, wer darauf laufen wird und wer einen Wikipediaartikel schreibt, weiß nicht, wer diesen für welchen Zweck lesen wird. Das Engagement der Vielen ist die materielle und strukturelle Grundlage des Reichtums von uns Allen und der Stabilität unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft und unseres Staates.
Deshalb ist die Frage danach, ob digitales bürgerschaftliches Engagement etwas Neues ist, von weitreichender Bedeutung. Handelt es sich nur um eine Formatänderung, also um alten, bekannten Wein in neuen Schläuchen oder geht es um eine Veränderung der Strukturen von bürgerschaftlichem Engagement insgesamt mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen?
Alter Wein in neuen Schläuchen?
Ohne Zweifel lässt sich digitales bürgerschaftliches Engagement in einem gewissen Rahmen mit Begriffen beschreiben, mit denen nicht digitales bürgerschaftliches Engagement beschrieben wird, die Zeitspende etwa. Hiervon ausgehend kann dann nach Motiven gefragt werden. Doch schon gerät man schnell an Grenzen. So ist eine zentrale Einsicht aus der Engagementforschung, dass die Zusammenarbeit mit netten Menschen ein wesentlicher Treiber ist, wobei mit dieser Zusammenarbeit immer ein Miteinander in konkreten Arbeitsräumen, z.B. einer Sporthalle, einem Vereinslokal, einer Kirche usw. gemeint ist.
Noch deutlicher werden die Grenzen, wenn auf eine zentrale Kategorie in der Definition von bürgerschaftlichem Engagement geschaut wird, nämlich das Handeln im öffentlichen Raum. Idee und Realität von Öffentlichkeit und öffentlichem Raum haben sich durch unterschiedliche digitale Formate fundamental verändert.
Erstens gibt es eine Art von Verdopplung, sinnfällig greifbar dadurch, dass es alle Printmedien mittlerweile auch in Onlineform gibt, wobei diese Verdopplung eben gerade keine Kopie ist, sondern SPIEGEL-Online ganz anders funktioniert als SPIEGEL Print. Und der neu gewählte amerikanische Präsident zeigt, dass gar nicht mehr mit Presse- und Medienakteuren geredet werden braucht, um massenwirksam Botschaften in die Welt zu setzen, wenn man Kanäle wie Twitter zu nutzen weiß. Dieses Phänomen bedeutet für die meisten zivilgesellschaftlichen Akteure, in denen bürgerschaftliches Engagement stattfindet, eine massive Verschlechterung ihrer Situation, denn sie können sich dieser Verdopplung nicht entziehen. Für sie bedeutet das einen unmittelbar erhöhten Aufwand, der leicht in der Diskussion übersehen wird, wenn die neuen Handlungschancen zivilgesellschaftlicher Akteure via Internet, Smartphone u.ä. herausgestellt werden. Besondere Ereignisse wie der Arabische Frühling, Überschwemmungen, Bürgerkriege oder die Flüchtlingskrise geben zwar zivilgesellschaftlichen Akteuren neue, vielfältig genutzte Möglichkeiten, um Öffentlichkeit herzustellen oder sich zu organisieren. Im Alltag der meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen diese vor allem aber darauf hoffen, Digital Natives als begeisterte Ehrenamtliche oder zusätzliche Geldquellen finden – oder erhöhte Kosten und Aufwände anders rechenbar machen.
Zweitens umwölben und durchdringen digitale Formate den öffentlichen Raum der Städte, Straßen und Landschaften – die Orientierung in diesen Räumen hat sich durch entsprechende Apps alltagspraktisch gewandelt. Handlungsorientierte Apps ermöglichen die Erfassung von Problemen im öffentlichen Raum der Straßen und Landschaften von der Identifikation und Publikation inklusionsfeindlicher Bordsteine bis hin zur Sichtbarmachung von Gewalttaten und Bürgerkriegen, der Organisation von Fluchtwegen durch Europa oder der Selbstorganisation von Ehrenamtlichen, um Sandsäcke gegen überbordende Flüsse zu tragen. Hier ist ein breiter Aktivitätsraum für neue Engagementformen und Engagementnetzwerke entstanden.
Drittens stellen sich Gegensätze wie privat / öffentlich, öffentlich / anonym, menschlich / technisch oder städtisch / ländlich im digitalen Raum neu dar, mit Rückwirkungen auf den nicht digitalen öffentlichen Raum. Die weltweiten Kooperationsmöglichkeiten, das Teilen von Wissen und Neuigkeiten, die Demokratisierung der Berichterstattung über und Kommentierung der Welt, ob im kleinen oder im globalen Rahmen hat eine vor wenigen Jahrzehnten kaum absehbare Dimension erreicht. Zugleich war es aber auch für geistige Brandstifter nie so leicht wie heute anonym ihr Zeug durch die Welt zu schicken. Sie können dabei so tun, als ob sie identifizierbare Personen wären und ihre Meinung und falsche Behauptungen auch noch mit technischer Hilfe als Meinung vieler erscheinen lassen – bei jeder Demonstration auf einem Platz wird dagegen immer offensichtlich, ob es sich um 1, 10, 10000 oder 100000 Personen handelt. Der digitale Raum ist schließlich auch ein spezieller Raum der Gewalt vom Cybermobbing bis hin zum Cyberwar – und das ist für jedes bürgerschaftliches Engagement als zivilgesellschaftliches Engagement eine Herausforderung.
Bürgerschaftliches Engagement zwischen Schwächung und Neustrukturierung
Diese Hinweise ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen Perspektiven und Relevanz einer Thematisierung digitalen Engagements erkennen.
Erstens geht es um die Frage, wie digitales bürgerschaftliches Engagement das angedeutete Phänomen der Verdopplung kompensieren kann. Da bin ich angesichts von über 600.000 eingetragenen Vereinen skeptisch – über 600.000 gepflegte, technisch sichere, aktuelle Webseiten und / oder Social Media Auftritte? Dazu dann noch bei gut 100.000 weiteren Organisationen (Stiftungen, gemeinnützige GmbHs, gemeinnützige AGs) und eine unbekannte Anzahl nicht eingetragener Vereine. Das würde eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit digitalen Aktivitäten voraussetzen, die in der Breite nicht vorhanden ist. Gibt es hierfür kooperative Lösungen, die von vornherein aus der Sicht des digitalen Raums gedacht werden?
Zweitens geht es um die Frage, wie neue Engagementformen und neue Aktivitätsthemen mit schon vorhandenen Strukturen vernetzt werden können. Sich über Smartphone via Facebook selbst zu organisieren, um einen Deich mit Sandsäcken abzudichten, ist schön und gut – doch am Deich sind dann schon hoffentlich ausgebildete Katastrophenschützer, zumeist selber Ehrenamtliche. Sie müssen ihrerseits wissen und gelernt haben, spontane Helfergruppen einzubinden.
Drittens aber, und hier sehe ich die zentrale Herausforderung, führen die Besonderheiten digitaler Räume zur Notwendigkeit, bürgerschaftliches Engagement neu zu denken. Mit dem Begriff der Öffentlichkeit bei der Definition bürgerschaftlichen Engagements schien vor 15 Jahren ein gutes Abgrenzungsmerkmal zu privatnützigem Engagement gefunden. Zugleich stellte es einen natürlichen Referenzraum der Kontrolle des Engagements dar, das sich in der Demokratie bei hellem Licht der Öffentlichkeit entfalten und zeigen kann. Beides ist in einer neustrukturierten Öffentlichkeit zumindest in ihrer aktuellen Form nicht mehr gegeben. Ein öffentlicher Raum, in dem anonymisierte Drohungen und Beleidigungen, massenhaft durch technische Werkzeuge vermehrbar, ungestraft über Engagierte kommen können, erfüllt keine Kontrollfunktion mehr im Sinne einer demokratischen Diskussion. Ein öffentlicher Raum, in dem die Grenze zwischen privat und öffentlich neu gezogen wird, verlangt auch von daher ein neues Nachdenken über Definitionsmerkmale, und daran hängend auch der Diskussion über Rahmenbedingungen des bürgerschaftlichen Engagements.
Zum Autor: Dr. Rainer Sprengel leitet den Bereich Information und Kommunikation des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE). Er befasst sich seit 1998 mit Engagementfragen, ist Autor einer Vielzahl an Studien und Beiträgen zu diesem Themenbereich und Mitherausgeber des Jahrbuchs für Engagementpolitik.