Mitte September 2015 gab Elsevier, einer der weltweit größten akademischen Fachverlage, seine neue Kooperation mit der Wikipedia Library bekannt, einem Programm, das Autoren Zugang zu verlässlichen wissenschaftlichen Quellen verschafft, um die Qualität der Wikipedia zu verbessern. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wurden 45 ScienceDirect Zugangskonten an Wikipedia-Freiwillige vergeben, die nun beim Verfassen und Editieren der Enzyklopädie in der Fachliteratur dieser Datenbank recherchieren können. Die Ankündigung löste eine wichtige und konstruktive Diskussion zu Open Access und der Wikimedia-Bewegung aus.
Auf der Grundlage von 40 Partnerschaften mit Herausgebern erhalten Wikipedia-Autoren über das Programm Wikipedia Library freien Zugang zu Inhalten der unterschiedlichsten Fachgebiete. Dank dieser Partnerschaften können die Autoren ansonsten nutzungsbeschränkte Inhalte verwenden, um Wikipedia zu verbessern und das Wissen öffentlich verfügbar zu machen. Zu diesem Zweck geht Wikipedia Library häufig Partnerschaften mit Organisationen ein, die die Ziele und das Konzept der Open Access-Bewegung nicht vollständig teilen. Die Wikipedia-Autoren verlinken in der Folge teilweise zu nutzungsbeschränkten Inhalten. Warum geht die Wikipedia Library als Teil einer Bewegung für Freies Wissen so vor?
Erstens ist es auf kurze Sicht Aufgabe der Wikipedia Library, unsere Leser und Autoren so gut wie möglich zu unterstützen, und das bedeutet, ihnen heute die besten Forschungsergebnisse möglichst umfassend zugänglich zu machen. Die Zusammenarbeit mit den Herausgebern stellt einen Kompromiss dar: Die Autoren fassen konstenpflichtige Inhalte für unsere Leser zusammen und veröffentlichen so auf Wikipedia Informationen, die andernfalls vielleicht dort nie publiziert würden. Die Quellenverweise zu diesen Ressourcen steigern natürlich auch die Bekanntheit der Herausgeber. Die Wikipedia-Autoren sind jedoch in keiner Weise verpflichtet, sie zu verwenden – im Gegenteil, sie werden ermutigt, auch frei verfügbare Quellen zu nutzen.
Wir alle warten auf den Tag, an dem das gesamte Wissen der Welt wirklich frei ist. Bis dahin aber brauchen die freiwilligen Autoren der Wikipedia eine Basis hochwertiger Forschungsergebnisse, um für die hunderte Millionen Leser pro Monat Artikel zu schreiben und zu pflegen, auch wenn diese Forschungsarbeit manchmal hinter Paywalls liegt. Die Partner von Wikipedia Library haben für die Autoren rund 5.000 Zugangskonten bereit gestellt und so tausende Artikel mit ihren Inhalten bereichert. Der Zugang zu guten Quellen, ob Open Access oder nicht, ist unverzichtbar, um sicherzustellen, dass Wikipedia immer auf dem neusten Stand ist und die Informationen korrekt sind.
Immer wenn ein Autor die kostenpflichtige Quelle eines Partners zitiert, erwarten wir, dass er oder sie ausführliche Angaben zur Originalquelle beifügt, einschließlich Hinweisen zu etwaigen Zugangsbeschränkungen und Links zu den entsprechenden Inhalten auf der Website des Partners. Auf diese Weise können Leser die Version finden, die für sie am einfachsten zugänglich ist.
Leider sind in der heutigen Forschungslandschaft Zugangsbeschränkungen an der Tagesordnung. Das beste Forschungsmaterial ist oftmals in zahlungspflichtigen Online-Beständen oder teuren Print-Fachzeitschriften und Monographien verschlossen. Die Wikipedia-Autoren verwenden zugangsbeschränktes Material dann, wenn es die beste Quelle darstellt, um unsere Mission der Verbreitung von Wissen zu fördern. Der Wikipedianer Martin Poulter drückt es so aus: Wikipedia will frei verfügbare Zusammenfassungen zum gesamten verlässlichen Wissen bereitstellen, nicht nur zu Open Access-Inhalten.
Zweitens glauben wir, dass langfristig die Zusammenarbeit der Wikipedia Library mit den Herausgebern die Verlage insgesamt dazu anregen wird, mehr Open Access-Strategien zu erproben, um ihre Inhalte in die Welt zu tragen. Eine solche Öffnung erfolgt sicher nur stufenweise, aber durch die Quellenverweise auf Wikipedia wird sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die zahlungspflichtigen Quellen richten und dies wird Forderungen nach mehr öffentlichem Zugang nach sich ziehen.
Einige unserer Partner haben uns gebeten, auch an Spenden gebundene Zugangsmöglichkeiten zu fördern. Newspapers.com ermutigt Wikipedia-Autoren, die dortige Funktion „Clippings“ zu nutzen. Mit ihr können Abonnenten Artikel in frei verfügbare und zugängliche Websites umwandeln und damit auch Lesern ohne Account zugänglich machen. Ein weiterer Partner, Newspaperarchive.com, ist dem Beispiel gefolgt und hat ein ähnliches Tool entwickelt. Solche Veränderungen kommen durch den nicht unerheblichen Druck zustande, den Open Access Community und Wissenschaftler auf Herausgeber ausüben, damit sie den Zugang verbessern.
Unseren Beitrag zu dieser Entwicklung leisten wir, indem wir aktiv die Zusammenarbeit und Unterstützung der größten Befürworter von frei zugänglichem Wissen suchen: Hochschulen, Bibliotheken, Archive und das Netzwerk von Organisationen, die Bemühungen für Open Access unterstützen. Dank unserer Zusammenarbeit mit OCLC, SPARC, OA Button, CrossRef, Internet Archive und der Digital Public Library of America können wir die Verbreitung von Bibliotheksinhalten und frei verfügbaren Ressourcen weiter voranbringen. Mit unserem stetig wachsenden Netzwerks tragen wir dazu bei, diese wichtige Verlagerung hin zu Open Access-Ressourcen allgemein zu vermitteln.
Auch in Zukunft werden wir dafür sorgen, dass Open Access-Projekte bekannter werden. Die Arbeit von Wikipedia Library unterstützt unsere gemeinsame Mission und versteht sich als Ergänzung unserer Vision von vollständig freiem Zugang, hinter der wir ebenso überzeugt stehen.
Drittens suchen wir immer noch nach Wegen, um freies, offen verfügbares Wissen besser in die Welt zu tragen. Wikipedia ist als fortlaufendes Projekt angewiesen auf die Hilfe einer breit gefächerten Gemeinschaft aus Mitarbeitenden, die weitere Aktionen umsetzen. Wir haben Ideen, wie sich Open Access auf Wikipedia besser voranbringen ließe, aber zur Umsetzung brauchen wir eure Hilfe:
- Wikipedia könnte den Autoren besser nahebringen, wie wichtig Open Access (OA) ist, um auf verlässliche und wissenschaftliche Quellen zuzugreifen und gleichzeitig bessere Strukturen für die Weitergabe von freiem Wissen für die Leser zu schaffen.
- Die Wikipedia-Autoren brauchen mehr Unterstützung dabei, OA-Quellen zu finden und zu bestimmen, auf verfügbare OA-Quellen innerhalb gespendeter Ressourcen von Herausgebern aufmerksam zu machen, auf frühere Veröffentlichungen oder in offenen Archiven veröffentlichte Versionen von Forschungsarbeiten zu verlinken oder dabei, „siehe auch“-Links zu eng verbundenen OA-Arbeiten einzustellen.
- Wissenschaftler könnten mehr Forschungsinitiativen gründen, die die Dynamik zwischen Wikipedia und von wissenschaftlichen Experten geprüfter Literatur messen, namentlich die Auswirkungen auf Autoren und Leser.
- Entwickler könnten mit neuen Tools für die Wikipedia-Leserschaft experimentieren, mit denen sich für Wikipedia-Einträge zu brandneuen Themen die neusten OA-Forschungsergebnisse finden lassen. Auch Optionen zum Aufrufen von Volltext, wie die Open Access-Schaltfläche, sind denkbar und könnten sogar als Suchwerkzeug neben jedem Verwies auf Bezahlinhalte angezeigt werden.
- Die Wikipedia Library könnte sich um freien Zugang zu zahlungspflichtigen Inhalten für den gesamten von Wikipedia kommenden Traffic kümmern, oder zumindest eine umfangreichere Vorschau oder Open Access-Auszüge für die von uns zitierten Versionen.
- Sicher gibt es noch viel mehr Möglichkeiten, und wir möchten euch aufrufen, eure Ideen mit der Community zu teilen (per E-Mail oder über Wikipedia).
Im Oktober waren wir zusammen mit SPARC Gastgeber eines weltweiten virtuellen Edit-a-thons, um Open Access-Themen auf Wikipedia präsenter zu machen. Wir wünschen uns mehr Kooperation mit der Community, um gemeinsam diese Themen auszuloten.
Open Access-Inhalte auf Wikipedia liegen uns sehr am Herzen, denn Wikipedia ist ja selbst ein Projekt für freies, offen zugängliches Wissen. Damit Wikipedia dauerhaft Bestand hat, ist es wichtig, dass öffentliche Debatten zu Open Access stattfinden und die laufenden Entwicklungen beim Zugang zu Wissen genau verstanden werden. Heute geht es uns darum, eine Enzyklopädie zu schreiben, aber auch beim Thema Open Access, das immer wichtiger wird, stehen wir jetzt und in Zukunft an eurer Seite.
Weitere Beiträge zum Thema Open Access und Wikipedia:
- it is NOT junk
- Wikipedia, open access, and The Wikipedia Library
- If Wikipedia required Open Access sources, it would be a lot less useful
Der Originaltext erschien am 16. September 2015 im internationalen Wikimedia-Blog
Jake Orlowitz ist seit 2008 in der englischsprachigen Wikipedia aktiv und arbeitet inzwischen für die Wikimedia Foundation, wo er das Projekt The Wikipedia Library leitet. Die Wikipedia Library ging aus einem Stipendium für individuelle Projekte (Individual Engagement Grant) hervor und ist darauf ausgerichtet, Inhaltliche Spenden der großen Wissenschaftsverlage wie JSTOR oder Oxford University Press einzuwerben, um damit die Artikelqualität in Wikipedia zu verbessern. Jake lebt in Santa Cruz, Kalifornien.
Alex Stinson schreibt seit acht Jahren in der englischsprachigen Wikipedia als User:Sadads. Derzeit unterstützt er als Projektmanager für die Wikipedia Library die Strategien der Wikimedia Communities für die effektive Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen und Bibliotheken, da er davon überzeugt ist, dass Wikipedia die Plattform ist, um wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Welt zu teilen. Alex begann als Freiwilliger im Wikipedia Education Program und unterstützt zudem in die GLAM-Aktivitäten der Wikimedia Bewegung. Alex lebt in Brattleboro, Vermont.
Mehr aus der Reihe „Freies Wissen und Wissenschaft
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 01): Science 2.0 – Die Digitalisierung des Forschungsalltags (Interview mit Prof. Dr. Klaus Tochtermann, Leibniz-Forschungsverbund Science 2.0)
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 02): Offene Bildungsressourcen (OER) an Universitäten und Hochschulen: Plädoyer für eine didaktische Sicht (Gastbeitrag von Dr. Sandra Hofhues, Universität zu Köln)
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 03): Open Access und seine Wirkung in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft (Gastbeitrag von Ulrich Herb,Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek)
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 04): Über die Notwendigkeit für mehr Offenheit und Transparenz in der Qualitätssicherung und Evaluierung: Open Peer Review und Open Metrics (Gastbeitrag von Dr. Peter Kraker, Know-Center)
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 05): Wikipedia als Instrument der Forschungskommunikation (Interview mit Prof. Dr. Patrick Franke, Universität Bamberg)
- Freies Wissen und Wissenschaft (Teil 06): „All of Open Access on a stick“, oder: Wie überwinden wir die Open-Silos? (Gastbeitrag von Lambert Heller,Open Science Lab der TIB Hannover)