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Ein OER-Aktionsplan für Deutschland?!

WMDE allgemein

9. Juli 2014

Welchen Weg geht das Thema Freie Lehr- und Lernmaterialien in Deutschland?, Foto: Tomasz Sienicki, CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Freie Lehr- und Lernmaterialien sind in aller Munde – oder zumindest intensiviert sich die Debatte. Die Europäische Kommission will bereits seit längerem „Die Bildung öffnen“ und die Vermittlung digitaler Kompetenzen an Schulen und Hochschulen verbessern. Unterstützend zu dieser Initiative richtete sie im vergangenen Jahr die Website Open Education Europa ein, auf der Studierende, AnwenderInnen und Bildungseinrichtungen frei verwendbare Lehr- und Lernmaterialien austauschen können. Auch der Bundestag teilt grundsätzlich den Ausgangsbefund der Kommissionsinitiative. Es gilt die Potentiale neuer Technologien und digitaler Lehr- und Lernmaterialien hinsichtlich der Verbesserung von Qualität, Effizienz und Zugänglichkeit von Bildungsangeboten besser zu nutzen. Unter der Überschrift „Digitale Bildung“ widmet sich auch der Koalitonsvertrag Freien Lehr- und Lernmaterialien. Die digitale Lehrmittelfreiheit solle gemeinsam mit den Ländern verstärkt genutzt werden, Lehrmaterial solle – soweit möglich – frei zugänglich sein und die Verwendung Freier Lizenzen und Formate ausgebaut werden.

Soweit so gut. Doch wie werden die nächsten Schritte konkret zu gestalten sein, damit Deutschland nicht den Anschluss verpasst? Einen vielversprechenden Ansatz liefert Leonard Dobusch in der Studie: Potentiale für Open Education in Berlin. Auf Landesebene werden drei Szenarien skizziert, die eine Einführung von Freien Lehr- und Lernmaterialien befördern könnten: „Graswurzeln düngen”, „OER Mainstreamen“ und „Vorrang für OER“. Es handelt sich nicht nur um einprägsame Überschriften, sondern um geeignete Ansatzpunkte, um an einem weiterführenden Aktionsplan für Deutschland zu arbeiten. Um dieses Vorhaben anzugehen, haben Wikimedia Deutschland, Creative Commons Deutschland sowie die Open Knowledge Foundation Deutschland das Bündnis Freie Bildung initiiert. Das Bündnis verfasst unter anderem Stellungnahmen mit konkreten politischen Handlungsempfehlungen und führt Vernetzungstreffen für interessierte Organisationen sowie Veranstaltungen durch.

Welche Fragen gilt es bei der Konkretisierung politischer Handlungsempfehlungen zur Einführung von Freien Lehr- und Lernmaterialien zu bedenken?

 

1. Aufbau einer mehrstufigen Einführungsstruktur

Fragen nach Offenheit (oder Öffnungsprozessen) sind auch immer Gestaltungs- und Interessenfragen. Wenn unterschiedliche Akteure eines Aushandlungsprozesses in einer Arena zur Problembearbeitung aufeinandertreffen, müssen sie verhandeln wie sie vorgehen, wer etwas tut und wann. Daher spielt die Öffnung der Beteiligungsformen und die Gestaltung der Prozesse eine wichtige Rolle. Viele Veränderungen im Bereich der Lehr- und Lernmaterialien haben Auswirkungen auf andere Bereiche, so dass es  zunächst (und vor allem) Rahmenbedingungen zu schaffen gilt, die eine kontinuierliche Be- und Aushandlung ermöglichen.

Für die Konkretisierung politischer Handlungsempfehlungen ist daher eine erste Frage zentral: Kommt das Innovationspotential von Freien Lehr- und Lernmaterialien  eher durch eine top-down- oder eine bottom-up-Strategie zum Tragen? Dem traditionellen Ansatz entspricht wohl eher die top-down-Strategie, in deren Mittelpunkt ein Soll/Ist-Vergleich von angestrebten Zielen steht, aufgrund derer die konkrete Art und Weise der Umsetzung einer bestimmten Policy verfolgt wird. Im Gegensatz dazu die bottom-up-Perspektive: Sie betont, dass die Initiierung und Durchführung neuer Ansätze gekennzeichnet ist durch komplexe Interaktionsmuster verschiedener Akteure auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Prioritäten und Interessen. Während damit der Komplexität von Prozessen Rechnung getragen wird, darf nicht vernachlässigt werden, dass durch die Prozessorientierung eine Erfolgskontrolle im Sinne von Soll/Ist-Vergleichen erschwert wird.

Wie viele Beispiele zeigen, können weder Planungen mit top-down-Prinzip noch die bottom-up-Variante allein die Erfordernisse bei der Einführung neuer Themen bewältigen. Insofern ist eine Verkopplung beider Ansätzen, wie sie auch Jan Neumann vorschlägt, notwendig und sinnvoll. Von vornherein sollte jedoch klar betont werden, dass der Aufbau einer mehrstufigen Einführungsstruktur und -kultur nicht nur hinreichende, sondern notwendige Bedingung ist. Da gerade Freie Lehr- und Lernmaterialien das Ziel verfolgen, die Artikulation der verschiedenen Interessen zu unterstützen – und damit bewusst Ineffektivität und Ineffizienz in Kauf nehmen, die durch langwierige Aushandlungsprozesse entstehen – ist die deutliche Herausarbeitung einzelner Prozessstufen erforderlich. Diese Stufen wären auch mit Blick auf die Be- und Aushandlungsprozesse klar zu konturieren: Wird beispielsweise ein integrierter oder sektoraler Ansatz verfolgt?

2. OER-Training, OER-Analyse und OER-Budget

Mit OER-Mainstreaming skizziert die Studie: Potentiale für Open Education in Berlin einen Ansatz, der für die Einführung Freier Lehr- und Lernmaterialien geeignete Anknüpfungspunkte liefert. Anders als sein Gleichstellungspedant kann jedoch das OER-Mainstreaming nicht auf rechtliche Grundlagen bauen, sondern muss auf Freiwilligkeit und Eigenmotivation setzen. Daher ist es von größer Wichtigkeit, eben diese Motivationspalette – die von der Qualitäts- bis zu Kostenfrage reicht – auszudeklinieren oder zumindest für die unterschiedlichen Akteure kenntlich zu machen. Hier stellt sich allerdings erneut die Frage zur Verkopplung von top-down und  bottom-up. Im Sinne einer top-down-Strategie muss das Mainstreaming immer „von oben“ gewollt sein und initiiert werden, gleichwohl dürfte das nicht genügen, um ausreichend Spillover-Effekte zu generieren. Gerade Freie Lehr- und Lernmaterialien offenbaren wie notwendig und folgerichtig eine Kombination mit partizipativen Elementen ist. Die Instrumente dafür können der Gleichstellungspolitik entliehen werden. Da es sich bei beiden um Querschnittsanliegen handelt, ist die Übertragung nur folgerichtig. An erster Stelle wären OER-Trainings zu nennen, in dem vor allem die Entscheidungsträger sensibilisiert und in die Grundlagen und Ansätze eingeführt werden. Die Sensibilisierung – beispielsweise in Wissenswerkstätten oder über Runde Tische – dient der ersten Auseinandersetzung mit dem Thema. Ein weiteres Element ist die verstärkte OER-Analyse, bei der es um die systematische Sichtbarmachung der aktuellen Strukturen und deren Auswirkungen in den jeweiligen Bereichen geht. Die Planung, Durchführung und Auswertung weiterer OER-Analysen ist ein weiterer Handlungsschritt zur Initiierung eines Veränderungsprozesse, der nur dann eine Erfolgschance hat, wenn es gelingt, die Aufmerksamkeit vieler Akteure auf das Thema zu lenken und für einen gemeinsamen Aufbruch zu sensibilisieren. Mit dem dritten Instrument, den OER-Budgets, könnten schließlich in allen Phasen des (haushaltpolitischen) Entscheidungsprozesses die Perspektive der Offenheit einbezogen werden. OER-Budgeting (oder am Ende sogar Open-Budgeting) kann dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen: von der Stellungnahme zum Haushalt bis zu grundlegenden Um- und Restrukturierungsmaßnahmen.

Weitreichender wäre es natürlich, die Themen „Offenheit“ oder “Freie Bildung” in den Mittelpunkt zu stellen. Die Betrachtung aus der übergeordneten Perspektive könnte es ermöglichen, das spezifische Thema Freie Lehr- und Lernmaterialien aus der Randständigkeit herauszulösen und Offenheit zum selbstverständlichen Bestandteil aller Betrachtungsweisen zu machen. Eine so verstandene Erweiterung zielt auf die Her­stellung von Offenheit in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern. Die Anwendung des Prinzips ist ein komplexer Prozess, der auf jeder Ebene Fragen aufwirft. Es erfordert ein visionäres Konzept. Analog zum „Gender Mainstreaming“ gäbe die normative Orientierung die Richtung der Entscheidungsprozesse vor.

3. OER-Pakte und OER-Netzwerke

Das transformative Potenzial des Mainstreaming-Ansatzes ist als sehr hoch einzuschätzen, es muss aber flankiert werden durch weitere Querschnittsstrategien. Dieses Vorhaben wird auch innerhalb der Szenarienvorschläge der Studie: Potentiale für Open Education in Berlin deutlich. Dabei ist die Tatsache nicht von der Hand zu weisen, dass Forderungen nach querschnittspolitischer Entfaltung von Politikbereichen oder Handlungsfeldern fast inflationär geäußert werden. Ob Umwelt-, Familien- oder Gleichstellungspolitik – überall wird die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer ressortübergreifenden Einbettung betont. Für Freie Lehr- und Lernmaterialien gilt dies nicht minder und ist nicht zuletzt ein Grund, warum OER-Mainstreaming nur als Bestandteil einer umfangreicheren Strategie verstanden werden kann. Da bisher jene einflussreiche Lobby fehlt, die beispielsweise zu einer supranationalen Geschlechterpolitik geführt hat, muss vor allem die OER-Bewegung weiter gefördert und sichtbar gemacht werden. Best Practices können als Kristallisationspunkte fungieren und sollten entsprechend übertragen werden. Aber die Sichtbarmachung über OER-Wettbewerbe oder ähnliche Formate reicht nicht aus. Es bedarf umfangreicher zivilgesellschaftlicher Pakte und Netzwerke. Diese Formate müssen an die Stelle regelgesteuerter (politischer) Routinen treten. Im Mittelpunkt eines übergreifenden Aktionsplans muss die Förderung dieser OER-Pakte oder OER-Netzwerke stehen. Erfahrungen aus anderen Politikfeldern zeigen leider, dass die Leistungsfähigkeit selbstorganisierter zivilgesellschaftlicher Prozesse zumeist deutlich eingeschränkt ist. Handlungsfähigkeit, professionelle Bearbeitung von Problemen und kollektiv verbindliche Entscheidungen über größere Reichweiten erfordern in der Regel doch die intensive Beteiligung und Unterstützung formell politischer und administrativer Akteure. Insofern scheint eine Verkopplung der Kontradiktion mit den Prozessen institutionalisierter Politikstrukturen selbst notwendig.

4. Vorboten künftiger Aufgaben: OER-Beauftragte

Für diese Verkopplung könnte die Einsetzung eines OER-Beauftragten oder die Erweiterung des Themenfeldes eines bestehenden Beauftragten sinnvoll sein. Als „Vorbote künftiger Aufgaben noch ungewisser organisatorischer Zuordnung“ (Michael Fuchs) ist die Funktion des Beauftragten gerade für neue, mehrere Ebenen betreffende (politische) Aufgaben gut geeignet. Das Amt sollte ressortübergreifend angelegt sein und nimmt eine Scharnierfunktion zwischen Betroffenen und politisch-fachlicher Verantwortung ein. Natürlich stellen sich an eine neue Position folgenreiche Fragen: Wie wäre die rechtliche Stellung einzuordnen? Welche Gesetzesgrundlagen bilden die Basis eines derartigen Amtes? Sofern die Erweiterung des Themenfeldes eines bestehenden Beauftragten als richtiger Schritt angesehen wird, ist im Vorfeld entsprechend zu klären: Gibt es in anderen gesetzlichen Bestimmungen bereits ausreichend Potenzial zur (rechtlichen) Absicherung oder Anknüpfungspunkte?

 

Wir möchten alle Interessierten einladen, gemeinsam mit uns am Thema Freie Lehr- und Lernmaterialien weiter zu arbeiten und über das Thema nachzudenken. In den kommenden Wochen werden wir an dieser Stelle über die weiteren Entwicklungen berichten.

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