Der für mich ungewöhnlichste Vortrag der diesjährigen Wikimania begann damit, dass die Lichter gedimmt wurden. Alle Zuhörer mussten sich ganz nah an die Bühne heran setzen und zu Beginn der Präsentation kollektiv die Augen schließen. Erik Möller von der Wikimedia Foundation hatte zur Geisterstunde geladen. Er lehnte sich dabei an Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte an, in der die Hauptfigur Ebenezer Scrooge von drei Geistern heimgesucht wird. Bei Dickens zeigen die Geister jeweils Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Bei Möller sollte es gleich drei Mal ausschließlich um die Zukunft gehen, genauer gesagt um Wikipedia im Jahr 2040.
Der Geist der Relevanz
Die erste Zukunftsvision begann mit der Einstellung einer neuen Geschäftsführung für die Wikimedia Foundation. Und zwar im Jahr 2014. Diese neue Kraft hatte eine besondere Vorliebe für Augmented Reality, also für die erweiterte Wahrnehmung der persönlichen Umwelt durch technische Hilfsmittel. Kurz, sie oder er ließ eine Brille entwickeln, die Wikipedia-Artikel zu Orten einblendete, die man gerade sah. In einem ersten großen Schwung wurden 10.000 dieser Brillen an die aktivsten Wikipedianer weltweit verteilt.
Nun trug es sich zu, dass die Idee solcher Brillen nicht, nun ja, neu war. Parallel hatte ein gewisses Software-Unternehmen ebenfalls viel Aufwand in die Entwicklung ähnlicher Technik gesteckt. Man tat sich schließlich zusammen und konnte so weltweit erfolgreich sein. Menschen sahen überall die passenden Wikipedia-Artikel. Wenn sie etwas verbessern wollten, konnten sie das direkt per Sprachsteuerung auf der Straße tun. Tatsächlich war das alles so praktisch und einfach, dass über alles und jeden neue Artikel angelegt wurden. Nur ein Bruchteil davon entsprach den Relevanzkriterien der Enzyklopädie. Die Stammautoren wehrten sich lange gegen die aufkommende Flut, gaben aber irgendwann einfach auf. Sie verließen samt und sonders das Projekt. Zunächst tat das dem Erfolg keinen Abbruch. Ohne Relevanzkriterien wuchs Wikipedia weiter. Allerdings konnte der Bestand nicht gepflegt werden, und nach und nach sanken die Nutzerzahlen. Das gewisse Software-Unternehmen hatte zwischenzeitlich so viel Einfluss gewonnen, dass es seinen Nutzern im Jahr 2040 den simplen Hinweis schicken konnte: “Die Anwendung Wikipedia wird zum 1. Juli abgeschaltet.” Aus.
Der Geist des Sozialen
Oder von “Social” wie in “Social Media”. In der zweiten Zukunftsvision war die neu eingestellte Führung der Wikimedia Foundation ein großer Fan von Facebook und Co. Erste Frage im Einstellungsgespräch: “Wo ist der Like-Button?” Es stellte sich heraus, dass er oder sie es für ein Unding hielt, im Jahr 2013/2014 eine Webseite ohne solchen Standard zu betreiben. Von vielen Seiten wurde deutlich von einem Like-Button abgeraten, und doch kam er. Schnell ergab eines das andere. Die eigenen und die Bearbeitungen anderer Menschen erschienen bald in der persönlichen Chronik. Hinzu trat die Idee, durch Gamification die stark gesteigerte öffentliche Wahrnehmung weiter auszubauen. Soll heißen, wie in einem Spiel wurden den Bearbeitern von Wikipedia Anreize gegeben, um von Level zu Level zu springen. Zuerst gab es eine künstliche Obergrenze von Bearbeitungen pro Tag, die bei 50 Edits lag. Wollte jemand mehr bearbeiten, mussten dafür Facebook-Freunde zum Mitmachen aktiviert werden.
Tatsächlich entstand ein gigantisches und extrem erfolgreiches Spiel. Änderungen an Artikeln, Favorisierungen und Kommentare wurden jeden Tag millionenfach hin und her gegeben. Wikipedia selbst geriet dabei schleichend in den Hintergrund. Im Jahr 2040 passierte fast nichts mehr in der Enzyklopädie selbst, nur noch bei Facebook. Folgerichtig änderte sich das grundsätzliche Verständnis dessen, was Wikipedia war. Am Ende gab es kein Projekt mehr. Stattdessen wurde Wikipedia unter den Top-Onlinespielen gelistet.
Der Geist des Wandels
Die neue Geschäftsführung in der dritten Geschichte war für Visionäres nicht zu haben. Ganz im Gegenteil. Sie oder er war Wikipedianer der ersten Stunde, tief verwurzelt in der Community, außerdem skeptisch gegenüber technischen Veränderungen. Der Visual Editor, zum Beispiel, wurde wieder abgeschafft. Sämtliche Annäherungsversuche der rasant wachsenden und sich entwickelnden Internet-Industrie wurden abgeblockt. Die neue Kraft fühlte sich belagert und umzingelt, von Twitter, Facebook und allen technischen Angeboten, die im Jahr 2040 Welten von Wikipedia trennten. Es gab keinen gemeinsamen Nenner mit der Außenwelt mehr. Und trotzdem galt es, die Qualität der Wikipedia, so wie sie war, zu schützen. Darum mussten Maßnahmen her. Alle Änderungen von Neulingen wurden grundsätzlich automatisch rückgängig gemacht. Auf persönlichen Einspruch konnten dann Gründe angegeben werden, warum die Bearbeitung doch wertvoll wäre.
Innerhalb kürzester Zeit wollte niemand Neues mehr zu Wikipedia beitragen. Die Qualität blieb gut. Das Projekt blieb gegen Außeneinfluss resistent. Zur Wikimania 2070 erschienen noch gut 30 Aktive. Der letzte Wikipedianer starb im Jahr 2100.
Und die Moral von der Geschichte?
Die muss jeder selbst suchen, denke ich. Erik Möller erklärte, er glaube fest daran, dass sich etwas im Umgang mit Relevanz in der Wikipedia ändern muss, wenn wir in die Zukunft schauen. Mit dem Thema Social Media wollte er aufzeigen, dass man sich dieser Realität im Jahr 2013 nicht entziehen kann. Und mit der Geschichte des Wandels hielt er ein Plädoyer für Mut zu Veränderungen, was aus seiner Sicht zur Tradition aller Wikimedia-Projekte gehört.
Alle drei Geschichten waren sicher Märchen. Jemand aus dem Publikum fragte dann auch, was solches Storytelling brächte, solange keine konkreten Schritte unternommen würden. Ohne konkrete Pläne und deren Umsetzung? Sicher nichts. Es sind nur Gedankenexperimente. Aber die Bandbreite dessen, was konkret getan werden kann, hängt meiner Meinung nach auch immer von der Bandbreite dessen ab, was man sich vorstellen kann zu tun oder eben nicht. Insofern habe ich diese Gruselgeschichte(n) nun einfach einmal weitererzählt.