Rückblick
Mehr Raum für marginalisiertes Wissen: Drei Projekte aus dem re•shape Förderprogramm 2024/25


Hanna Klein

Patrick Wildermann
28. August 2025
Welche Erfahrungen machen Migrant*innen in Deutschland mit dem Altern? Welche Rolle spielen Kochrezepte für die Erinnerungskultur der vietnamesischen Diaspora? Wie lassen sich Allianzen schmieden, um Diskriminierung und Rassismus im Alltag entgegen zu wirken?
Mit solchen gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigen sich die Projekte, die Wikimedia Deutschland im Rahmen des Förderprogramms re•shape unterstützt. Das Ziel: Perspektiven und Erfahrungen Raum zu geben, die im öffentlichen Diskurs oft ausgeblendet bleiben – weil sie wenig Berücksichtigung in der medialen Berichterstattung oder in wissenschaftlicher Literatur finden. Entsprechend fehlen sie oft als Quellen in der Wikipedia.
Re•shape leistet einen wichtigen Beitrag zu mehr Wissensgerechtigkeit. Die geförderten Projekte machen das Wissen von marginalisierten Communitys, insbesondere Menschen mit Rassismuserfahrung, sichtbar und frei verfügbar. Die Ergebnisse können beispielsweise auch für die schulische und außerschulische Bildung genutzt werden. So wird die Gesellschaft in ihrer bestehenden Diversität besser abgebildet.
Auch in der zweiten Förderrunde 2024/25 hat re•shape zehn Projekte unterstützt, die marginalisiertes Wissen erschließen konnten: Entstanden sind Websites, Podcasts – oder eine kollektive Tischdecke, die kulinarische Klischees überwindet.
Hast du schon gegessen: Migrationsgeschichte im Kontext von vietnamesischer Esskultur in der Diaspora
„Unsere Bäuche und Herzen sind gefüllt.“ Diesen Satz postete eine Teilnehmerin des Projekts „Hast du schon gegessen?“. Im Juni 2025 kamen in Köln bei einem Workshop 20 Personen aus der vietnamesischen Diaspora zusammen, um gemeinsam zu essen und sich über ihre persönlichen Geschichten im Zusammenhang von Essen und Migration auszutauschen – und auf einer Tischdecke festzuhalten.
Viele vietnamesische Personen in der Diaspora betrieben oder betreiben ein Restaurant in Deutschland. Allerdings richten sich die Speisekarten dort oft nach den hiesigen Erwartungen oder dem Klischee von „asiatischem“ Essen:
„Das hat viel mit Akzeptanz und Fremdzuschreibung zu tun, das hat aber auch viel mit Wirtschaftlichkeit zu tun. […] wir verkaufen das, was wir verkaufen, weil wir halt Geld annehmen müssen, weil wir Miete bezahlen müssen. Und das ist dann eine eher rationale Rechnung.“ (Zitat von Teilnehmenden)
Der Workshop gab den Teilnehmenden die Möglichkeit, über das Essen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu reflektieren: Wie prägen Migrationsgeschichten vietnamesisches Essen und Esskultur in der Diaspora? Neben persönlichen Geschichten, Erfahrungen und unterschiedlichen Perspektiven wurden auch gemeinsame Visionen für eine selbstbestimmte Esskultur geteilt:
„Wir müssen immer wieder Räume erschaffen, Wissen aneignen und uns austauschen – teilweise auch einfach nur für uns selbst, in der viet-deutschen Community. Dabei geht es einfach ums Fühlen, Sprechen und Austauschen, ohne dass wir Dinge nach außen hin erklären müssen.“ (Zitat von Teilnehmenden)
Fragmente des Alter(n)s in der Migrationsgesellschaft: Eine Informations- und Erfahrungssammlung für Senior*innen mit Migrationsgeschichte
Welche Rechte und Pflichten haben Senior*innen mit Migrationsgeschichte, die in ihr Heimatland zurückkehren wollen? Unter welchen Voraussetzungen kann Rente im Ausland bezogen werden? Wie funktioniert die Pflegeversicherung in Deutschland? Solche Informationen sind oft nur schwer auffindbar oder in unzugänglicher bürokratischer Sprache verfasst.
Das Projektteam hat dazu recherchiert, die Ergebnisse zusammengetragen und in über 100 Sprachen übersetzen lassen. Entstanden ist die umfangreiche Website als Informations- und Erfahrungssammlung. Gemeinsam mit der Gesellschaft für psychosoziale Gesundheitsförderung bei Migrant*innen in Berlin und der Werkstatt zur Teilhabe im Alter(n) mit Migrationsgeschichte sind außerdem Videos entstanden, in denen Senior*innen mit Migrationsgeschichte zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen berichten. Sie beschreiben Herausforderungen, aber auch Strategien der Solidarisierung.
Punch Up TV: Ein Video-Podcast für Allianzen, Sichtbarkeit und Solidarität
Hinter „Punch Up TV“ steht Schauspieler, Medienmacher und Aktivist Newroz Çelik. Newroz produziert seit 2018 den Podcast „Punch Up“. Im Rahmen von re·shape konnte Newroz das Projekt weiterentwickeln – mit dem Ziel, marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen und politischen Aktivismus aus einer intersektionalen Sicht zu begleiten.
„Punch Up TV“ widmet sich Themen wie Transfeindlichkeit, Gentrifizierung, Polizeigewalt und sozialen Bewegungen – im Gespräch mit BiPoC- oder trans Aktivist*innen. Die re•shape-Förderung ermöglichte die Produktion einer neuen Folge, in der Newroz mit Koray Yılmaz-Günay, der Co-Geschäftsleitung des Migrationsrats, über die Wahlen in Deutschland sprach. Geplant ist eine weitere Ausgabe, die sich mit der Deutungshoheit über das Erinnern an die Anschläge in Hanau auseinandersetzen soll.
Für Newroz stehen dabei die Fragen im Fokus: „Was sind die Bedingungen für funktionierende Allianzen? Wie können sich verschiedene Bewegungen miteinander vernetzen?“
„Punch Up TV“ steht für eine widerständige Medienarbeit, die Räume schafft – für Austausch, Sichtbarkeit und Solidarität.
So geht es mit Re•shape weiter
Re•shape startet jetzt in das dritte Programmjahr. Nach einer erfolgreichen Ausschreibungsphase haben uns 83 Bewerbungen mit spannenden Projektideen erreicht, Anfang Oktober 2025 wählt eine Jury zehn davon aus. Im November geht es mit einer gemeinsamen Auftaktveranstaltung in Berlin los. Wir drücken allen Bewerber*innen die Daumen und freuen uns auf viele bereichernde Erkenntnisse.